Ein Besuch bei der Älplerin
Du fährst lange durch den Wald bis zur ersten Alp. Vor der Brücke links bis zum großen Ahorn. Und da wartest du auf meinen Mitsenn. Der wird dich mitnehmen.“ Die Textmessage leuchtet abends auf meinem Handy. Das Profilfoto der Absenderin strahlt mich an, rote Haare, Dirndl, dahinter die Berglandschaft des Berner Oberlandes. Als ich am nächsten Tag frühmorgens vom Hotel über dem Thuner See aufbreche, frage ich lieber noch mal nach. Denn ich bin auf dem Weg zu einem Ort, der auf keiner meiner Karten verzeichnet ist. Und selbst Google kennt ihn nicht.
Es geht durch grüne Wiesen, an malerischen Holzhütten vorbei, hinein ins Justistal
Wie also komme ich auf die Flühelauenen? „Oh!“, ruft die Dame an der Rezeption. „Da fahren wir normalerweise nicht mit dem Auto hin.“ Und dann macht sie eine Pause. Erst als ich meine Verabredung mit der Älplerin Petra Graber ins Spiel bringe, bekomme ich weitere Auskünfte. „Sie fahren lange durch den Wald bis zur ersten Alp. Vor der Brücke mit dem Alphorngeländer links bis zum großen Ahorn. Und dann immer weiter.“ Ich notiere: „Alphorngeländer.“ Als ich ins Auto steige, ruft sie mir noch hinterher: „Und grüßen Sie die Petra!“ Von wem? „Vom ganzen Hotel Adler.“ Es ist, als startete ich zu einer Expedition in eine fremde Welt.
Ich fahre also lange durch den Wald. Durch grüne Wiesen und an malerischen Holzhütten vorbei. Hinein ins Justistal. Vor der Brücke mit einem Geländer, das aus zwei Alphörnern besteht, biege ich nach links ab. Und da steht er, der große Ahorn. Kühl ist es hier oben, ich ziehe einen Pullover über. Da sehe ich schon den Mitsenn den Berg herunterfahren. Kräftig, Bart, freier Oberkörper. Er begrüßt mich. Ich verstehe kein Wort. Ich bin in einer fremden Welt.
Mit dem Mitsenn Uerli am Steuer des 4-Wheels fahre ich den steinigen, schmalen Weg bergan. Aus dem CD-Player kommt Jodelmusik. „Da singt mein Vater“, sagt Uerli. Die hochdeutschen Worte plumpsen wie Felsbrocken aus seinem Mund. „Du kannst Schweizerdeutsch sprechen, ich verstehe das“, sage ich tapfer. Nach zehn Minuten Fahrt sind wir da.
Auf der Flühelauenen. Eine kleine Hütte mit Blick auf hohe blaue Berge, hinter denen gerade die Sonne aufgeht. Aus dem angrenzenden Stall ist ein Konzert aus dunklem und hellem Kuhglockengeläut zu hören. Über die Holzveranda geht es in die Hütte. Da steht die Älplerin Petra mit einer großen Schürze aus Wachstuch und hat gerade überhaupt keine Zeit. Sie ist mitten in der Käseproduktion. So würde man es auf Hochdeutsch sagen. Auf Schweizerdeutsch heißt es schlicht: Sie chäst.
Petra hält ein Thermometer in den riesigen Kupferkessel. Die Milch muss genau 32 Grad betragen, kein Grad weniger, kein Grad mehr. Gebannt schaut Petra auf die Anzeige. Und legt dann noch einen Scheit auf das lodernde Holzfeuer. Ich kann gerade noch in die Hütte schlüpfen, bevor alle Fenster und Türen geschlossen werden. Der Raum muss feucht und warm sein, wenn alles gelingen soll. Jetzt wird die Temperatur auf 52 Grad erhöht. Die Masse dreht sich im Topf. Und dann halten Petra und Uerli weiße Leinentücher in den Kessel und ziehen wie Fischer mit ihren Netzen große Klumpen der Milch-KäseMasse heraus. Petra presst die Flüssigkeit raus und gibt die Masse in eine runde Form. Die Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit haben Dampfbad-Qualität. Petra, Uerli und ich sind klatschnass. Eine Stunde dauert die Prozedur und dann darf endlich wieder Luft in den Raum.
Schon als Kind wollte Petra, die immer mit auf der Alm war, dasselbe machen wie ihr Vater
„Ich war schon als Kind hier“, sagt Petra später, als wir am Holztisch in der Stube sitzen. „Und ich wollte eigentlich nie etwas anderes machen.“ Sie schreibt währenddessen die wöchentliche Milchabgabe jeder Kuh mit Kreide auf eine Tafel. Im Frühjahr waren es noch 500 Liter – da war noch mehr und frischeres Gras auf den Wiesen. Jetzt kommen gerade mal insgesamt 260 Liter Milch zusammen. So ist es eben. Hier wird kein Tier mit Kraftfutter und Hormonen zu Höchstleistungen getrieben.
Daniel, Petras Vater, ist dazugekommen. „Ich bin der Daniel“, sagt er, „über 1.000 Meter duzt man sich.“ Er setzt sich neben seine Tochter und schaut ihr zu. „Ja“, sagt er, und macht dann erst mal eine lange Pause. „Auch ich war schon als Kind hier.“ Dann erst mal wieder Stille, als müsse das Echo des Satzes in den Bergen verhallen. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche, Helles aus dem Berner Oberland. Durch die Fenster scheint die Sonne, nebenan bimmeln die Glocken der Tiere. „Wir sind jetzt 26 Sommer hier.“ 26 Sommer. Zusammengerechnet, für Vater und Tochter – denn die Tochter ist ja erst 23 Sommer alt.
Seit fünf Jahren verlässt die gelernte Landwirtin Petra jedes Jahr im Juni den elterlichen Hof. Dann zieht sie mit zwei eigenen und 23 fremden Kühen für vier Monate hoch in die Berge. Die Flühelauenen ist eine Genossenschaftsalp, und jeder Bauer und jede Bäuerin der 20-köpfigen Genossenschaft darf eine, manchmal auch zwei Kühe in die Sommerfrische mitgeben. Und erhält am Ende der Saison den Käse im Verhältnis zur Milchleistung ihrer Kühe. Das „Chäseteilet“ am Ende der Saison ist ein fröhliches, von Singen und Jodeln begleitetes Fest. Es endet mit dem Alpabzug im September, bei dem die Kühe bekränzt ins Tal geführt werden.
Aber davor hat Petra einen sehr verantwortungsvollen Job. Sie und ihr jeweiliger Mitsenn sind für die gesamte Käseproduktion des Jahres verantwortlich. Im ganzen Sommer kommen dreieinhalb Tonnen Käse zusammen, also etwa 360 große gelbe Käselaibe. Bei einem Stückpreis von zirka 200 Franken macht das 72.000 Schweizer Franken. „Wenn man da was falsch macht, geht viel Geld verloren“, sagt Petra. Jeden Tag der gleiche, fest geregelte Tagesablauf. Und der richtet sich nach den Tieren. „Im Moment stehen die Kühe schon um fünf Uhr morgens da, da fangen wir eben so früh an“, sagt Petra. „Erst melken, dann chäsen. Dann den Käse pflegen. Und um vier melken wir das zweite Mal.“ Den Käse pflegen? Dazu kommen wir später noch.
Bevor die Kühe aber auf die Alp dürfen, müssen sie zu Vater Daniel in den Kindergarten. „Die sind noch ganz verwildert und müssen erst mal handzahm gemacht werden“, sagt er. „Sie müssen sich ja auf die Weide führen lassen, oder?“ Wenn die Kühe für zwei Jahre in Daniels Kuh-Kita gegangen sind, wenn Melanie, Sina, Edelweiß und Enzian, Janine und Ulla auf ihre Namen hören, dann sind sie reif für die Alp. Wobei Ulla schon ein alter Hase ist, sozusagen. Die milchkaffee-braune Kuh gehört Petra und ist sagenhafte 16 Jahre alt.
Der Umgang mit den Kühen will gelernt sein. "Hauptsache ist, dass es den Tieren gut geht."
Natürlich kennen Vater und Tochter die Tiere genau. „Die Kühe haben ganz unterschiedliche Charaktere“, sagt Daniel Graber. „Es gibt die Sturen, die Nervösen, die Anhänglichen, die Klugen und die Dummen. Genau wie bei den Menschen, oder?“ Er schaut zum Fenster hinaus. „Oft gleichen sie dem Bauern, dem sie gehören. Wenn er nervös ist, dann sind die Tiere auch nervös.“ Und Petra ergänzt: „Unsere Braunen sind irgendwie immer ein bisschen dominant, die sind immer der Chef. Aber wir lassen auch die Hörner dran.“
Der Umgang mit den Tieren will gelernt sein. Generell gilt: Mit dem Kopf durch die Wand geht bei Rindern nicht. „Wenn du einen Termin hast und ein wenig nervös bist, dann spüren sie das. Pressieren bringt nichts, da hast du am Ende viel länger zu tun.“ Petra nickt. „Das habe ich von meinem Papa gelernt.“
Tönnies. Der Fleischbetrieb in Niedersachsen, der im Sekundentakt Tiere anliefert, schlachtet, zerlegt? Daniel Graber schüttelt den Kopf. Das sind Dimensionen, die er sich nicht vorstellen mag. „Warum muss alles immer größer werden und größer, das ist doch nicht gut“, sagt er. Aber was ist groß? Wie groß sollte ein Hof sein? „So groß, dass der Bauer es im Griff hat“, sagt Petra, „und die Hauptsache ist, dass es den Tieren gut geht.“ Es gibt sie offenbar noch, die glücklichen Kühe.
Ruedi, ein älterer Bauer der Genossenschaft, hat im Hintergrund begonnen zu kochen. Einmal in der Saison kocht er für Petra und den Mitsenn. Und was dann auf den Tisch kommt – frischer Salat, Geschnetzeltes und Rösti –, ist an Köstlichkeit kaum zu übertreffen. Draußen ziehen ein paar Wolken auf. Wir müssen los, den Käse pflegen.
Es geht hinunter zur ersten Alp. Die alte Holztür öffnet sich zu einem feuchten, dunklen Keller. Bei Licht ist es eine Schatzkammer. Die dicken Holzbretter an den Wänden sind rundherum gefüllt mit goldgelbem, glänzendem Käse. Jetzt also wird er gepflegt, der Käse. Ich bin gespannt. Der Vater holt den ersten 10-Kilo-Laib aus dem Regal und legt ihn auf den Tisch. Die Tochter taucht den Lappen in einen Eimer mit Salzlake und reibt sorgfältig die Rinde ein. Sie wird mit jedem Einreiben ein bisschen dicker. Dann wird der Laib zurückgelegt und der nächste kommt auf den Tisch. Alle zwei Tage wird jeder einzelne Laib dieser Prozedur unterzogen. Alle zwei Tage werden hier Tonnen von Käse bewegt. Insgesamt dauert es zwei Monate, bis der Käse gereift ist. Zwei Monate harte körperliche Arbeit, gepaart mit vererbtem Wissen und präziser Handarbeit. Ich darf ein Stück Käse probieren. Und habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Denn das lange und hart erarbeitete Stück ist mit einem Bissen in wenigen Sekunden verschwunden.
Gemeinsamkeiten zwischen Vater & Tochter? "Wir sind uns einfach in allem ähnlich."
Pünktlich zum Ende der Käsepflege kommen Vera und Adrian mit Tochter Elisa zu Besuch, die Nachbarn von der Alp ein paar Meter weiter. Jetzt endlich ist eine Pause angesagt, Abhängen auf der Holzveranda. Vor uns das Bergpanorama des Justistals, die grünen Wiesen und der plätschernde Brunnen. Eben noch Schwerstarbeit und jetzt Postkartenidylle. Wie hat das eigentlich mit Petra und der Liebe zur Landwirtschaft angefangen? „Die war schon mit Windel im Stall, hat in einer Kiste gesessen, wenn wir gearbeitet haben“, sagt der Vater. Mit vier hat Petra dann mit ausgemistet. Als die Geschwister kamen, zwei Brüder, saß die älteste Tochter schon fest im Sattel. Es ist noch nicht ganz so ausgemacht, aber wie es im Moment aussieht, wird sie den Hof des 50-jährigen Vaters eines Tages übernehmen. „So ungewöhnlich ist es nicht mehr, dass die Tochter den Hof übernimmt. Sie muss nur noch den Mann dazu suchen, oder?“, sagt Daniel und nickt dazu.
Petra wäre dann in der fünften Generation auf dem Hof. Aber sie wäre nicht die erste Frau, denn ihre Urgroßmutter war schon mal die Hofbesitzerin, mit einem eingeheirateten Urgroßvater. So muss es bei Petra auch laufen, keine Frage. „Wenn ich einen Mann kennenlerne, der nicht auf dem Bauernhof leben will, kann ich den gerad wieder schicken“, sagt sie entschieden.
Gemeinsamkeiten zwischen Vater und Tochter? Was für eine blöde Frage. „Wir sind uns einfach in allem ähnlich“, sagen beide und schauen sich an. Und warum so theoretisch drüber reden? „Einfach machen, nicht vorher studieren, so sind wir beide“, sagt Vater Daniel.
Reich kann man hier nicht werden, aber das will Petra auch nicht. „Wett zbärg wosch gah, muesch Früd dran ha“, sagt sie. – Wie war das? „Wenn du auf die Alp gehst, musst du Freude dran haben.“
„Es war irgendwie immer schon so, dass ich lieber mit meinem Vater unterwegs war als im Haushalt mit meiner Mutter. Hausarbeit mache ich, weil es sein muss. Das hier mache ich, weil ich Freude daran habe.“ Als Verkäuferin arbeiten, wie die Mutter es macht, das kann sich Petra nicht vorstellen. „Den ganzen Tag in einem Einkaufsladen, keine Tiere um mich, das geht nicht.“ Vor ein paar Jahren hat sie als Kellnerin gejobbt. „Das war schrecklich“, sagt Petra. Den ganzen Tag mit Menschen und immer freundlich sein, das war ganz nahe an der Hölle für sie. Überhaupt die Stadt. Die Ampeln. Die Menschen. Die Straßenbahnen. Die Autos. Für beide, Vater und Tochter, eine ganz fremde Welt.
BETTINA FLITNER
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Der Text ist ein Nachdruck aus „Väter & Töchter“ von Bettina Flitner (Sandmann Verlag) - gibt es auch im EMMA-Shop.