Warum ich in der Kirche bleibe
Die Kirche meiner Kindheit ist ein Bekenntnis aus rotem Backstein. Stolz ragt der Turm in den norddeutschen Himmel. Fast ein bisschen zu imposant für eine Dorfkirche am Rand der Lüneburger Heide. Für mich ist der neogotische Bau ein Stück Heimat und ein Teil meiner Identität. Und das liegt nicht nur daran, dass ich hier getauft und konfirmiert wurde, dass ich bei den Hochzeiten meiner Tanten Blumen auf den roten Teppich streuen durfte und in der „Jugenddisco“ im Gemeindehaus meine lila Blusen durchgeschwitzt habe.
In dieser Kirche wurde ich mit den existentiellen Fragen des Lebens konfrontiert. Hier habe ich glauben gelernt und zweifeln. Hier habe ich mich über die protestantischen Irrwege während der NS-Zeit empört. Hier habe ich aber auch von dem christlichen Widerstand eines Dietrich Bonhoeffer erfahren und dass es möglich ist, sich selbst in größter Bedrohung, „von guten Mächten wunderbar geborgen“ zu fühlen.
Zu dieser Kirche hatte ich einen Schlüssel. Als Orgelschülerin durfte ich jederzeit hinein. Und wenn ich abends auf der Empore geübt habe und die lauten Bässe durch das dunkle Kirchenschiff hallten, dann konnte ich etwas spüren von der Spiritualität protestantischer Sakralmusik, die in der Strenge der Bachschen Fugen ebenso mitschwingt wie in den gefühlvollen Chorälen Paul Gerhardts.
Und gerade deshalb gibt es Vieles, was mich an den Protestanten ärgert. Die Trägheit und Phantasielosigkeit, mit der sie auf die schon so larollende Austrittswelle reagiert, steht ganz oben auf der Liste der Kritik. Zweifellos ist es eine enorme Herausforderung, in einer säkularisierten Welt, Botschaften zu verkünden, die jeder wissenschaftlichen Logik entbehren. Aber brennt die Kirche wirklich dafür, zeitgemäß spirituelle Bedürfnisse zu wecken und aufzugreifen? Geht sie genug auf Menschen zu, statt immer nur zu jammern, dass keiner kommt? Wo bleibt die Taskforce „Überleben der Kirche“?
Die große Austrittsbewegung, die einer Studie zu Folge bis 2060 dazu führen könnte, dass die christlichen Kirchen die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren, ist nicht nur eine Konsequenz des Glaubensverlustes. Dass Kirche an Bedeutung verliert, liegt auch daran, dass es ihr immer weniger gelingt, sich jenseits von Fragen der Transzendenz als gesellschaftliche Kraft zu positionieren. Gleichzeitig stehen gerade die Protestanten zunehmend in der Kritik, Politik statt Glauben von der Kanzel zu verkündigen, zur belanglosen NGO zu verkommen. Doch zu Recht erwidern die Streiter für eine politische Kirche, dass eine Organisation, deren Fundament die Botschaft der Nächstenliebe ist, nicht anders kann, als auch politisch Stellung zu beziehen. Die Finanzierung von Schiffen zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer ist da nur ein ebenso konsequenter Schritt wie Klimafastenaktionen, die dazu anhalten, bewusster mit Ressourcen umzugehen.
Aber so klar und eindeutig Kirche sich in bestimmten Fragen positioniert, so Wischiwaschi ist sie es in anderen. Der Aufstieg eines zunehmend radikalen Islam gilt als wichtigste Ursache der globalen Christenverfolgung, die besonders Frauen trifft. Was sagt die Kirche dazu? Sicher, ein „Positionspapier der EKD zum christlich-islamischen Dialog“ gibt kritische Töne. Aber auch hier zeigt sich eine Leisetreterei, die nicht zuletzt der Unterdrückung der Frauen im Islam nicht gerecht wird und den dringend nötigen Diskurs aus Angst, als „rassistisch“ zu gelten, ausbremst.
Die Kirche sehe, heißt es, „dass extremistische und fundamentalistische Strömungen innerhalb des Islam in Deutschland die Vorbehalte erhöhen, die es gegenüber deren Rechtstreue z.B. im Blick auf … die Gleichberechtigung der Geschlechter“ gebe. Aber gleich wird auch wieder davor gewarnt, bloß nicht „hier voreilig zu pauschalen und verallgemeinernden Schlüssen zu kommen“. Wie fühlt sich da eine junge muslimische Frau, deren Träume von einem selbstbestimmten Leben zerplatzten und die auf evangelisch.de lesen muss: „Historisch lässt sich zeigen, dass sich die Stellung der Frauen mit der Entstehung des Islam deutlich verbessert hat.“ So der Islamwissenschaftler Ahmas Milad Karimi, der auf dem EKD-Portal mit „Vorurteilen“ gegen seine Religion aufräumen durfte.
Welche Blüten die Toleranz treiben kann, zeigte zuletzt die Initiative des Diakonischen Werks Karlsruhe. Gemeinsam mit Bordellbetreibern wurde ein Forderungskatalog erstellt, der die Situation von Prostituierten „verbessern“ sollte. Der Landesfrauenrat Baden-Württemberg sah das anders und bezeichnete das Qualitätssiegel für Bordelle als „frauenverachtendes Vorhaben“. Empört reagierte auch die Initiative „Karlsruhe gegen Sexkauf“ auf diesen „Schulterschluss mit den Bordellbetreibern“.
Doch auch derartige Torheiten bringen mich nicht dazu, die Kirche zu verlassen. Denn ich denke nicht im Traum daran. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es eine Katastrophe wäre, wenn es sie nicht mehr geben würde. Wir brauchen sie als Gegenkraft. Als Ort, in dem andere Werte gelten als in der Alltagswelt. Als Gemeinschaft, in der jeder zählt, egal wie klug oder dumm, wie reich oder arm ein Mensch ist. Als Forum für Glaube, Liebe, Hoffnung. Wir brauchen die Kirche aber auch als Institution, die den Finger in die Wunde legt.
Wenn ich etwas auf den harten Bänken meiner Dorfkirche gelernt habe, dann ist es die Notwendigkeit des selbstständigen, unabhängigen, ideologiefreien Denkens. Der Protestantismus hat weniger von religiöser Verzückung als von Nachdenklichkeit. Er ist eine Schule der Innerlichkeit. Kein Weihrauch, kein Beichtstuhl, in dem man sich die Schuldgefühle von der Seele reden kann, kein Rosenkranz. Sola fide. Allein durch Glauben erlangt der Mensch nach Luthers Lehre Erlösung. Da muss man viel mit sich selbst ausmachen. Einfach ist dieses individuelle Ringen nicht. Doch wenn ich die Kirche meiner Kindheit anschaue, kann ich nur staunen, welche Geisteskraft sie in die Provinz gebracht hat. Allein deshalb verdient sie es, ihr treu zu bleiben.
CLAUDIA BECKER
Ausgabe bestellen