Sexismus im Reitsport

Lisa Marie-Kreutz reitet unter den Top 1000 der Welt.
Artikel teilen

Pferde sind seit jeher nicht nur ein treuer Freund von Frauen, sie sind auch der Ritt ins Abenteuer und in die Freiheit.

Pippi Langstrumpf stemmt ihr Pferd in die Luft, und sie trabt auch mit ihm wie eine Königin durch Schweden. Dick und Dalli vom Immenhof fanden auf ihren Shetland-Ponys eine Freiheit, die im Deutschland der Nachkriegszeit für Frauen selten war. Die rebellische Mika fliegt auf Ostwind, und auch Bibi und Tina reiten auf Amadeus und Sabrina von einem Abenteuer ins nächste.

Ein Pferd: Nicht nur treuer Freund, sondern auch Abenteuer und Freiheit

Doch die Beziehung von Frauen und Pferden reicht noch viel tiefer. Nahezu jede griechische Göttin, die etwas auf sich hielt, besaß ein Pferd oder war gleich selber eins. Ebenso die Erzfeindinnen der GriechInnen, die Amazonen. Diese berühmt-berüchtigten „Kriegerinnen und Rossebändigerinnen“ ritten wie die Teufelinnen, zogen ihre Kinder mit Stutenmilch groß und galoppierten in einem Heer von 20.000 Frauen furchtlos in die Schlacht.

Und auch die germanischen Göttinnen oder göttlichen Wesen erschienen gern hoch zu Ross. Zum Beispiel Brunhilde, die berühmteste aller Walküren. „Die Königreiche zitterten, wenn sie das Schlachtroß bestieg“, hieß es.

Viele dieser Mythen entspringen einer Zeit, in der nicht nur Männer, sondern ausnahmsweise auch mal Frauen die Vorherrschaft in der Gesellschaft hatten. Sie verehrten Pferde als heilige Mond- und Sonnentiere. Kurzum: Frauen auf Pferden hatten die Macht. Zusammen waren sie der Inbegriff weiblicher Stärke.

Lisa hat den MeToo-Moment im Reitsport ausgelöst.
Lisa hat den MeToo-Moment im Reitsport ausgelöst.

Erst das Christentum setzte dem ein Ende. Mit seiner Ausbreitung wurden Frauen und Pferde verteufelt, die Macht des Duos gebrochen. Reitende Frauen galten als Hexen und auch die Pferde selbst traf der sexistische Blitz. Hengste galten nun als edel, Stuten als hinterlistig. Ihr Huf stand nicht mehr für den Halbmond, ein Zeichen des Himmels, sondern für den Pferdefuß des Teufels.

Dennoch oder darum kämpften Frauen weiter zu Pferde um ihre Freiheit. Siehe Frankreichs Jeanne d’Arc, die auf dem Scheiterhaufen endete, oder Anita Garibaldi, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Heldin des italienischen Freiheitskampfes wurde. Die Reiterstatue, die in Rom für sie errichtet wurde, zeigt sie auf dem Rücken ihres Pferdes mit hocherhobener Pistole in der einen Hand und einem Säugling in der anderen.

Heutzutage muss auch die 22-jährige Springreiterin Lisa Marie Kreutz einen Kampf zu Pferde aufnehmen: den gegen Sexismus im Pferdesport. Denn sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen sind in Reitställen weit verbreitet, besonders im Springreiten. Meistens sind es die Trainer, die übergriffig werden, manchmal auch die Reiter im eigenen Verein. 2018 gerieten Nachwuchsreiter des Nationalkaders in die Schlagzeilen, als sie stark alkoholisiert auf Turnieren marodierten und ihre Kameradinnen sexuell bedrängten.

Lisa kennt das: „Ein Trainer hat mich körperlich bedrängt, ein anderer hat mich in eine Ecke geschoben und mir in den Ausschnitt gefasst. So etwas passiert uns Reiterinnen oft, egal, ob weit oben im Leistungssport oder unten bei den Hobbyreiterinnen.“ Die Magdeburgerin ist aktuell unter den Top 1000 der Weltrangliste der U-25, geschlechterübergreifend wie es im Pferdesport üblich ist. Lisas Vater war zu DDR-Zeiten Leistungssportler in der Leichtathletik und hat seiner Tochter beigebracht, die Ellenbogen auszufahren. Er ließ nie gelten, wenn Lisa sich über mobbende Jungs in der Sport-Eliteschule beschwerte. „Lass dir das nicht gefallen, wehre dich!“, war und ist seine Devise. Das tut sie, ihre Eltern unterstützen dabei.

Meistens beginnt es mit blöden Sprüchen. Stil: „Hey, willst du nicht mal ne Runde auf mir reiten?“ – „Soll ich dir den richtigen Schenkeldruck beibringen?“ – „Reitest du auch Zweibeiner?“ – „Bist du eigentlich schon eingeritten?“ Es folgt Erpressung. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten liefert der Reitsport ein Druckmittel Deluxe: das Pferd. Nicht jede Reiterin hat ihr eigenes, und wer reiten oder gar im Leistungssport weiterkommen will, ist auf ein Pferd angewiesen.

Immer wieder hörte Lisa, wie junge Reiterinnen von Trainern gelockt wurden: „Trainer sagen dann: ‚Du kannst mein Pferd reiten‘ oder ‚Ich sorge dafür, dass du ein besseres Pferd bekommst‘, ‚Ich verschaffe dir Vergünstigungen‘.“ Für Gegenleistungen. Und dann gibt es noch die Partys in den Reiterklausen, auf denen Mädchen oft betrunken gemacht, begrabscht und manchmal auch vergewaltigt werden. Viele Mädchen wehren sich nicht. Lisa: „Das Reiten, die Pferde, das ist ihre Welt, das wollen sie nicht verlieren.“ Auch hat Lisa oft miterlebt, wie Betroffenen keinen Glauben geschenkt und über Täter hinweggesehen wurde. „Ich bin Athletin, ich will in meinem Sport respektiert werden!“, sagt sie, und sie hat entschieden, sich zu wehren!

Die Reittrainer versprechen ein besseres Pferd oder Startlizenzen. Dafür wollen sie Gegenleistungen.

2019 hat Lisa auf Instagram die Initiative „Use your voice equestrian“ – (#uyvequestrian) ins Leben gerufen: Benutze deine Stimme, sportlerin. Nur 24 Stunden nach dem Start der Kampagne hatte sie über 50.000 Frauen erreicht, Tausende schickten ihre Erlebnisse aus dem Reitstall. Lisa ist damit an die Öffentlichkeit gegangen – der MeToo-Moment des Reitsports.

Die Konsequenzen erreichen in diesem Sommer einen ersten Höhepunkt. Der Dachverband des Pferdesports, die Deutsche Reiterliche Vereinigung Deutschland (FN für Fédération Équestre Nationale), wird als erster Sportverband in Deutschland einen Betroffenenrat gründen: ein Gremium, das mit Maßnahmen zur Prävention, Aufarbeitung und Intervention gegen sexualisierte Gewalt mobil macht. Die Mitglieder nehmen ab August 2021 ihre Arbeit auf. Aufbauhilfe hatte sich die FN bei „Innocence in Danger“ geholt, dem international agierenden Verein gegen Pädokriminalität.

Maria Schierhölter-Otte beschäftigt das Problem der sexualisierten Gewalt im Pferdesport seit über zehn Jahren. Sie ist Leiterin der Jugendarbeit der FN in Warendorf, hat auch Lisa beraten, den Betroffenenrat mitinitiiert und freut sich, dass ihr Kampf nun endlich Fahrt aufnimmt: „Noch bis vor wenigen Jahren wäre Lisas Kampagne wahrscheinlich im Sande verlaufen. An einen Betroffenenrat wäre nicht im Traum zu denken gewesen. Wenn wir in den Ställen Plakataktionen zu diesem Thema machen wollten, wurde uns signalisiert: ‚Komm, lass mal!‘. Aber der Wind hat sich gedreht. Dank MeToo wollen junge Sportlerinnen diesen Sexismus nicht mehr hinnehmen und Betroffene sprechen endlich.“

FN-Leiterin Maria Schierhölter-Otte.
FN-Leiterin Maria Schierhölter-Otte.

Sie rufen bei Maria Schierhölter-Otte an. Es sind Frauen aus jeder Schicht, jeden Alters und aus ganz Deutschland. Reiterinnen, Bereiterinnen, Pferdepflegerinnen. Oft sind es auch Frauen, bei denen die Vergewaltigungen und Übergriffe schon über Jahre zurückliegen und die nun doch dagegen vorgehen wollen. Schierhölter-Otte: „Ich höre ihnen zu und signalisiere, dass ich ihnen Glauben schenke. Und dann überlegen wir gemeinsam, welche Schritte wir gehen. Wir vermitteln den Kontakt zu N.I.N.A., einer Hilfsorganisation bei sexuellem Missbrauch, die wiederum versierte AnwältInnen vermittelt, Prozesshilfe und psychosoziale Prozessbegleitung anbietet.“ Wenn ein Strafprozess stattgefunden hat, kann die FN aktiv werden und gegebenenfalls Trainer entlassen oder ihnen die Lizenz vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) entziehen.

Ein Problem ist, dass viele Trainer ohne Lizenz arbeiten. „Reitlehrer kann sich praktisch jeder nennen, und wo keine Lizenz vorhanden ist, können wir auch keine wegnehmen“, klagt Schierhölter-Otte. Ganz wie Lisa sieht auch sie das Hauptproblem des Machtverhältnisses durch die Pferde. Sie berichtet von Fällen, wo der Täter seinen späteren Opfern gesagt hat: „Ich gebe die Pferde alle zum Schlachter, wenn du mich anzeigst“. Und sie weiß: „In den Pferdeställen sind zehn-, zwölf-, 14-jährige Mädchen unterwegs, die blind vor Pferdeliebe und damit leichte Beute sind. Die Eltern wissen oft gar nicht, was los ist und ihre Töchter vertrauen sich ihnen nicht an, weil sie Angst haben, nicht mehr reiten zu dürfen.“

Schierhölter-Otte sensibilisiert nun Eltern, trägt das Thema in die 17 Landesverbände. „Wir brauchen jetzt eine Kultur der Aufmerksamkeit und des Handelns. Wir müssen Betroffene zum Reden ermutigen, potenzielle Täter abschrecken und ein Klima schaffen, das Mädchen und Frauen vor sexualisierter Gewalt schützt.“

Das ist nicht immer einfach. Und darum zieht sie noch eine Stellschraube an: „Allen Sportfachverbänden, die so etwas dulden, werden die Zuschüsse gestrichen. Der DOSB hat in seinen Statuten verankert, dass ihm zugehörige Sportverbände in der Verantwortung stehen, sexualisierter Gewalt vorzubeugen und aktiv Kinder und Jugendliche zu schützen.“

Die Leiterin der Abteilung Jugend reitet selbst seit 40 Jahren und weiß nur zu gut, wie es in Reitställen so läuft. „Das Schlimme sind ja auch die ganzen Mitwisser. Es gibt sogar Männer, die sind von Beruf Richter und wissen ganz genau, was im eigenen Verein passiert – aber sie gehen ‚kameradschaftlich‘ darüber hinweg. Frauen, die sich wehren, werden als Nestbeschmutzerinnen abgestempelt.“

Diesen Vorwurf musste sich auch Lisa anhören. Das hat sie nur noch wütender gemacht: „Warum sollten wir Frauen das hinnehmen? Wir sind die Mehrheit! Frauen machen 76 Prozent der Mitglieder im Pferdesport aus! Wir Reiterinnen wollen uns unseren Sport nicht kaputt machen lassen. Immerhin ist Reiten die einzige olympische Sportart, in der Männer und Frauen gleichberechtigt gegeneinander antreten!“

Warum sollten wir Frauen das hinnehmen? Wir sind die Mehrheit und lassen uns den Sport nicht kaputt machen!

Sexismus zu Pferde ist allerdings nicht nur ein Problem in der Szene, sondern auch ein gesamtgesellschaftliche  Phänomen. Im letzten Sommer titelte das Magazin der Süddeutschen Zeitung mit dem Foto eines gewaltigen Pferdehinterns. In der Titelgeschichte „Ross und Reiterin“ ging es um die Beziehung von Isabell Werth zu ihrem Pferd. Die Anzüglichkeit war unübersehbar. Isabell Werth ist sechsfache Olympiasiegerin und weltweit die erfolgreichste Reiterin aller Zeiten. Hätte die SZ sich so einen anzüglichen, sexualisierten Titel bei einem männlichen Spitzensportler getraut?

Nicht nur Reiterinnen, auch Pferde spielen in Männerfantasien und Pornofilmen eine Rolle. Die Pferde selbst werden zum Lustobjekt. Stolze schöne, wilde Tiere, die gezähmt, ja gebrochen werden sollen. Auch die Morde an Pferden passieren nicht nur aus Mordlust, sondern zeigen immer auch deutliche Spuren von Sexualgewalt.

Dabei ist die Geschichte von Frauen und Pferden eigentlich eine sehr starke. Die berühmteste Reiterin der deutschen Geschichte ist Mathilde Franziska Anneke (1817 – 1884). Die Soldatin, Journalistin und Frauenrechtlerin ritt auf ihrer Isabella in den 1848er Aufständen „wie der Wind“ quer durch Westfalen, sie war eine der ersten
Frauen, die das seit 1794 gesetzlich verankerte Scheidungsrecht in die Tat umsetzte. 1848 schloss sie sich in eigener Sache dem pfälzischen Revolutionsheer an und wurde zur „Meldereiterin“. Später emigrierte Anneke in die USA und wurde dort zu einer führenden Pionierin der US-amerikanischen Frauenbewegung.

Die berühmteste „Jagdreiterin“ unseres Kulturkreises war Sisi, die sogar im kreuzgefährlichen Damensattel über Hindernisse sprang und neben diversen anderen Titeln auch den der „besten Reiterin Europas“ innehatte. Die Kaiserin Österreichs stattete der Queen von Großbritannien einen offiziellen Staatsbesuch ab, nur um an den berühmt-berüchtigten Parforcejagden, den Hetzjagden mit Hunden, teilzunehmen – was nicht so nett für die Tiere war und heutzutage zum Glück verboten ist.

Auch für die amtierende Queen Elizabeth bedeuten Pferde kleine Fluchten aus einem Korsett königlicher Pflichten.

„Mädchen, die reiten, sind verdammt mutig!“, sagt auch Lisa.

In der Tat. Auf einem 1,70 hohen und um die 500 Kilo schweren Tier zu sitzen, es in den unterschiedlichen Gangarten zu meistern, zu lenken und mit ihm – wie Lisa – über zwei Meter hohe Hindernisse zu springen, das ist schon was. Da fühlt frau sich zurecht stark – und ist nicht länger bereit, sich brechen zu lassen.

ANNIKA ROSS

Ausgabe bestellen
Anzeige
'
 
Zur Startseite