MeToo erreicht auch Japan
Auf dem Platz vor der hell erleuchteten Front des Tokioter Hauptbahnhofs sitzen im April 2019 überwiegend Frauen, in mehreren Reihen und halbkreisförmig auf dem Boden oder sie stehen hinter den Sitzenden. Viele halten Blumen, Rosen und Gerbera, sowie kleine Plakate in den Händen. „It is rape – I standing #With You“ steht in unbeholfenem Englisch darauf, oder „#MeToo“, sowie Forderungen auf Japanisch, dass das Gesetz die Opfer schützen müsse, nicht die Täter. Sodann steht eine Frau nach der anderen auf und ergreift das Mikrofon. Die Japanerinnern, die sonst kaum zu Wort kommen, reden öffentlich und weit über eine Stunde lang.
Da ist die Schülerin, die von einem Musiklehrer missbraucht wurde; sie reiste zur Demo extra zwei Stunden an. Bei einer anderen war es der Vater, der übergriffig wurde, oder der Freund bzw. Kollege. Viele sagen, sie würden zum ersten Mal von ihren Erfahrungen in der Öffentlichkeit sprechen. Manche halten einander im Arm, andere haben Tränen in den Augen.
Rund 500 TeilnehmerInnen zählten die Veranstalterinnen – viel mehr als erwartet. Es war die Geburtsstunde einer Bewegung, die in Japan heute als „Flower Demo“ bekannt ist. Die Demonstrationen finden seither in rund 50 Städten immer am 11. eines Monats statt. Überlebende von sexuellem Missbrauch und UnterstützerInnen protestieren für mehr Schutz und bessere Gesetze. Wegen der Corona-Pandemie wurden zuletzt Online-Veranstaltungen abgehalten.
Durch die Tokioter Online-Demo am 11. Mai 2021 führte die Feministin und Schriftstellerin Minori Kitahara. Die 50-Jährige war es auch, die über soziale Medien zu Protesten aufgerufen hatte. Denn im März 2019 gab es mehrere Freisprüche, die sie wütend machten. Einmal bezweifelte ein Richter die Vorwürfe eines Kindes – andere Familienmitglieder hätten doch auch die Übergriffe des Vaters bemerken müssen. In einem weiteren Fall wurde die Klage einer 19-Jährigen „wegen Zweifeln am Zeitpunkt der Vorfälle“ abgewiesen – sie hatte ein halbes Jahr vor Ablauf der zehnjährigen Verjährungsfrist den Lebensgefährten der Mutter der Vergewaltigung beschuldigt. Und selbst wenn Gerichte den Missbrauch anerkannten, sprachen sie dennoch die Täter frei, weil sich die Opfer angeblich nicht genug gewehrt hätten.
Laut Umfragen des Kabinettsbüros gab eine von 13 Japanerinnen über 20 Jahren an, von Männern „zum Sex gezwungen“ worden zu sein. Die Dunkelziffer wird als sehr viel höher geschätzt, da laut Umfragen nur Fälle im niedrigen einstelligen Prozentbereich überhaupt angezeigt werden. Über die Hälfte der betroffenen Frauen erzählt aus Scham niemandem davon.
Was Kitahara ebenfalls anspornte, war die ablehnende Reaktion der Gesellschaft gegenüber allen, die die milden Urteile kritisierten. Während 2017 der Hashtag #MeToo um die Welt raste, regte sich in Japan zunächst nichts. Anders als in den USA oder im benachbarten Südkorea, wo sich Hollywood- oder K-Pop-Stars engagieren, gibt es in Japan keine prominenten FürsprecherInnen. Die meisten Jugendlichen sind nicht ausreichend aufgeklärt, da die konservative Regierung Sexualkundeunterricht stark einschränkt.
Wer an die Öffentlichkeit geht, muss eine „sekundäre Vergewaltigung“ fürchten, sei es im Rahmen der Strafverfolgung oder durch Schuldzuweisungen durch die Gesellschaft. So erging es der Journalistin Shiori Ito, die seither zum Gesicht der MeToo-Bewegung wurde. Die heute 32-Jährige hatte sich vor fünf Jahren nicht nur mit vollem Namen und unverhüllt vor Kameras gezeigt, sondern auch ihren Vergewaltiger benannt: ein doppelt so alter Fernsehjournalist, mit dem sie sich getroffen hatte, um über ein Jobangebot zu sprechen. Sie hatte sich beim Abendessen plötzlich schlecht gefühlt – und fand sich später in einem Hotelzimmer wieder, der Mann auf ihr liegend. Er sprach später von „einvernehmlichem Sex“.
Als Ito gut ein Jahr später zur Polizei ging, wurde ihr von einer Anzeige abgeraten, das würde ihre Karriere zerstören. Außerdem hielt man ihr vor, sie verhalte sich nicht wie ein Opfer.
Der von Ito beschuldigte Noriyuki Yamaguchi war Chef des Washington-Büros eines TV-Senders und Biograf des damaligen Ministerpräsidenten Shinzo Abe. Erst nach einer Pressekonferenz vor ausländischen JournalistInnen fand Ito Aufmerksamkeit. Ihre Klage wurde am Ende vor dem Strafgericht „aus Mangel an Beweisen“ fallengelassen. Doch im Dezember 2019 gewann sie überraschend eine Zivilklage – ein Meilenstein für Missbrauchsopfer in Japan.
Itos Fall habe viele aufgerüttelt, sagt die bekannte japanische Journalistin Isoko Mochizuki, auch junge JapanerInnen. Trotzdem wurden Ito und sogar ihre Familie angefeindet und bedroht. Ito hat inzwischen Japan verlassen. Im Jahr 2020 setzte das Magazin Time Ito für ihren Aktivismus auf ihre Liste der „100 einflussreichsten Personen des Jahres“. Eine englische Übersetzung ihres Buches „Black Box“ über die Ereignisse soll im Juli 2021 erscheinen.
Opferverbände wie „Spring“ fordern eine Strafrechtsreform – strengere Strafen, keine Verjährungsfristen mehr, und ein höheres Alter der sexuellen Mündigkeit, die aktuell bei 13 Jahren liegt! „Spring“-Gründerin Jun Yamamoto nimmt an Treffen einer Arbeitsgruppe im Justizministerium teil, wie sie bei der Online-Demo berichtet. Sie sagt: „Es muss in Japan ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass jede und jeder davon betroffen sein kann.“ Aber Veränderungen brauchen Zeit: 2017 änderte Japan erstmals das seit 1907 gültige Gesetz über sexuelle Strafbestände. Erst da wurde die Definition von Vergewaltigung von vaginaler auf orale und anale Penetration erweitert und so der Weg für weitere Opfer, auch Männer, geebnet, vor Gericht zu gehen.
SONJA BLASCHKE
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