Die Ehre der Geschlechter
Um 1900 hatte die Ehre eines Mannes darin bestanden, „dass man sich auf ihn, auf sein Wort und seine Tatkraft verlassen kann“. Weibliche Ehre hingegen „fordert nicht mannhaftes Eintreten nach Außen, sondern Reinheit im Innenleben“. Reinheit bedeutete vor allem körperliche „Schamhaftigkeit“. Sexuelle Aktivität war Frauen ausschließlich in der Ehe gestattet. Falls sie sich auf eine vor- oder außereheliche Beziehung einließen, galten ihre „Keuschheit“ und damit auch ihre Ehre als verletzt.
Dabei nahm man selbstverständlich an, dass sie diese Beziehung nicht von sich aus eingegangen, sondern dazu verführt worden waren. Dass eine Frau die Initiative ergriff, war undenkbar und sozial geächtet. Klassisch kam dies im Fall Elisabeth von Bennigsens zur Anwendung. Seit 1890 mit dem Gutsbesitzer und Landrat Adolf von Bennigsen verheiratet und Mutter von fünf Kindern, hatte sie dem Werben des Domänenpächters Oswald Falkenhagen, der im Haus Bennigsen ein- und ausging, zunächst kein Gehör schenken wollen, war ihm dann aber doch „erlegen“. Damit entsprach sie dem Bild der wehrlosen, passiven Frau, die sich aus Schwäche einem starken Mann hingab und ihre Ehre dabei verlor.
Aber ihr Fehltritt verletzte auch die Ehre ihres Ehemanns. Was man einer Frau antat, tat man ihrem Mann an, der als Familienvorstand für sie verantwortlich war. Der 41-jährige Adolf von Bennigsen forderte seinen „Beleidiger“ folgerichtig zum Pistolenduell, das am frühen Morgen des 16. Januar 1902 stattfand und mit dem Tod des Herausforderers endete. Duelle waren zwar strafrechtlich verboten, fanden jedoch wegen ihrer „noblen“ Motive stets milde Richter und einen Kaiser, der Gnade vor Recht ergehen ließ. Darauf konnten Frauen, die ihre Ehre verloren, nicht hoffen. Wer als „gefallenes Mädchen“ bekannt war, bekam die Missbilligung und Verachtung der sozialen Umwelt hautnah zu spüren. Elisabeth von Bennigsen wurde nach dem Duelltod ihres Mannes von der Familie verstoßen, die Kinder wuchsen bei Verwandten auf, in, wie die Familienchronik festhielt, wenig liebevollen Verhältnissen.
Die Asymmetrie der Geschlechter spiegelte sich auch im Beleidigungsstrafrecht. Es gestand Vätern, Ehemännern und Vormündern zu, Ehrverletzungen, die der Ehefrau oder den „unter väterlicher Gewalt stehenden Kindern“ zugefügt wurden, gerichtlich zu verfolgen. Mit Hilfe des Begriffs der „mittelbaren Beleidigung“ durfte sich ein Mann wegen der seiner Frau oder seinen Kindern zugefügten Beleidigung auch selber beleidigt fühlen. Er verfolgte deshalb „in seinem eigenen Namen sein eigenes Recht“, selbst wenn der Beleidiger gar nicht die Absicht gehabt hatte, ihn in seiner Ehre zu kränken.
In diesem Sinne definierte 1907 die Haager Landkriegsordnung Vergewaltigungen durch Angehörige einer militärischen Besatzungsmacht als Angriffe auf „die Ehre und die Rechte der Familie“. Dieser Familie stand selbstredend immer ein männliches Oberhaupt vor.
In der Weimarer Republik geriet diese patriarchalische Sicht kurzzeitig ins Wanken. Das Berliner Kammergericht stellte sich in den 1920er Jahren auf den Standpunkt, „dass ein Eingriff in die Rechte des Gatten nicht zugleich eine Ehrenkränkung für diesen zu sein braucht“. Das Leipziger Reichsgericht hingegen bestätigte 1930 die „von der Volksanschauung seit jeher“ gedeckte Auffassung, wonach ein Ehebruch „in der Regel auch eine Ehrenkränkung und Missachtung des verletzten Ehegatten“ darstelle. Dass das für betrogene Gattinnen nicht galt, verstand sich von selber und war keiner Begründung wert.
Der NS-Staat rückte die auseinanderdriftenden Positionen zurecht, verwarf alle auf die „Einzelperson“ bezogenen Argumente und verhalf dem Konzept der „Familienehre“ zu neuem Glanz. Im Einklang mit dem „gesunden Volksempfinden“ setzte das Reichsgericht Ehemänner und Väter wieder in ihre Ehrenrechte ein.
Dass diese Sicht das Ende des „Dritten Reichs“ überlebte, bestätigte 1947 das Freiburger Oberlandesgericht. Es wollte zwar der „unter dem Einfluss des Nationalsozialismus entwickelten Rechtsprechung über die Familienehre“ nicht mehr folgen, erkannte aber doch in der Behauptung, eine Ehe frau sei eine „Hure“, die „bewusste Kundgebung der Missachtung auch des Ehemannes“.
1951 urteilte das Magdeburger Landgericht im gleichen Sinn. Allerdings intervenierte hier nun Oberste Gericht der DDR, bezeichnete die Auffassung als „rein faschistisch“ (was nicht stimmte) und als Widerspruch zum verfassungsmäßigen Gleichberechtigungsgrundsatz (was stimmte).
Damit war die Argumentation ein für alle Mal vom Tisch. In der Bundesrepublik wurde 1953, ebenfalls mit Hinweis auf das im Grundgesetz verankerte Prinzip männlich-weiblicher Gleichberechtigung, Paragraph 195 StGB aufgehoben. Er hatte es Ehemännern und Vätern beleidigter Frauen und Mädchen erlaubt, Strafantrag gegen den Beleidiger zu stellen.
Zugleich setzte sich die Rechtspraxis fort, sexuelle Übergriffe, in welcher Form auch immer, als Angriffe auf die weibliche Ehre zu werten. 1955 erkannte der Bundesgerichtshof in dem Versuch eines Arztes, seine Patientin zu vergewaltigen, eine „tätliche Beleidigung“. Auch das Oberlandesgericht Frankfurt bemühte 1967 den Begriff der „Geschlechtsehre“, als es eine Anklage wegen Notzucht, Körperverletzung und Beleidigung gegen einen Vergewaltiger für statthaft erklärte.
In der DDR sah man das ähnlich. Ende der 1960er Jahre verurteilte ein Kreisgericht zwei Eisenbahnarbeiter wegen „gemeinschaftlicher Nötigung zu sexuellen Handlungen“ mit einer 16-Jährigen. Das Bezirksgericht hob das Urteil auf und wies das untere Gericht an, die Angeklagten wegen „Rowdytums“ zu belangen. Doch das Oberste Gericht kassierte die Revision mit der Begründung, es handele sich nicht um Rowdytum, sondern um Beleidigung: Die Angeklagten „haben durch unsittliche Belästigungen die persönliche Würde der Zeugin grob missachtet“, was die „sozialistische Gesellschaft“ nicht dulden dürfe.
Auffällig ist, dass die obersten Richter hier nicht mehr mit Ehre, sondern mit Würde argumentierten. Das entsprach den Vorgaben des neuen, 1968 in Kraft getretenen Strafgesetzbuches der DDR. Vergewaltigung war nunmehr eine Straftat „gegen Freiheit und Würde des Menschen“. Beleidigungen richteten sich gegen die „persönliche Würde“, während Verleumdungen geeignet sein mussten, „das gesellschaftliche Ansehen eines Menschen oder eines Kollektivs herabzusetzen“.
In der Bundesrepublik tat sich die Justiz schwerer mit der Gleichsetzung von Würde und Ehre, ohne sich jedoch auf verbindliche Definitionen und Differenzkriterien einigen zu können. Immerhin aber wurde das, was vorher Sittlichkeit hieß, 1973 in „sexuelle Selbstbestimmung“ umgetauft. Damit änderte sich das zu schützende Gut: Es war nicht mehr die an sittliche Normen gebundene Geschlechtsehre, sondern das Recht jeder Frau (und jeden Mannes), über sexuelle Kontakte selber zu entscheiden.
In der Rechtsentwicklung bildeten sich erhebliche soziale, emotionale und politische Veränderungen ab. Die bereits in der Weimarer Verfassung prinzipiell anerkannte und 1949 im Grundgesetz ebenso wie in der DDR-Verfassung bestätigte und vertiefte Gleichberechtigung von Frauen und Männern verschaffte sich auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zunehmend Geltung. Das lag nicht zuletzt daran, dass Frauen – zunächst in ihren traditionellen Organisationen und als Mitglieder von Parteien, seit Ende der 1960er Jahre auch und vor allem in der neuen Frauenbewegung der Bundesrepublik – ihre Rechte einforderten und Diskriminierung öffentlich skandalisierten.
Als diskriminierend empfanden die Frauen die Tatsache, dass das Familien- und Strafrecht Frauen teilweise wie das Eigentum von Männern und nicht als Menschen mit gleichen Rechten auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit behandelten. Außerdem erregte die doppelte Moral Anstoß, wonach sich Frauen an gesellschaftliche Normen sexueller Reinheit halten sollten, während Männer sehr viel größere Freiheiten genossen. Das hatte die Frauenbewegung schon um 1900 gestört, ohne dass sie damals viel dagegen ausrichten konnte. Sechzig, siebzig Jahre später war das anders, und Gleichberechtigung wurde auch im sexuellen Verhalten zu einem großen, breit diskutierten Thema.
Darüber hinaus galt es als nicht mehr zeitgemäß, Frauen auf eine an ihre Sexualität gebundene Ehre zu reduzieren. Bereits die alte Frauenbewegung hatte moniert, dass man Frauen ausschließlich über ihre „Geschlechtsehre“ wahrnahm, Männern hingegen viele weitere Facetten von Ehre anbot: wie Berufsehre, Amtsehre, Sportlerehre oder „bürgerliche Ehrenrechte“. Letztere kamen seit 1919 auch Frauen zu. In dem Maße, wie Frauen anschließend angesehene Berufe, Ämter und sogar Sportkarrieren für sich eroberten, verschafften sie sich auch Zugang zu anderen Ehren.
UTE FREVERT
WEITERLESEN: Der Text ist ein Auszug aus „Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung“ von Ute Frevert. (Fischer, 28 €)
Ausgabe bestellen