Les Femmes en marche

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Glaubt man dem französischen Publizisten Alain Finkielkraut, ist die Sache gelaufen: Die feministische Revolution ist vollzogen. Die Männer haben verloren, die patriarchale Ordnung gehört ein für alle Mal der Vergangenheit an. Überflüssig hinzuzufügen, dass Finkielkraut diese Entwicklung bedauert.

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Frankreich ist in Bewegung. In den Chefetagen der Konzerne des Aktienindexes CAC40 haben weiße Männer über 50 alle Mühe, sich zu behaupten. „Wer das Ziel des Managements gerade mal so erfüllt oder darunterbleibt, wird durch eine zehn Jahre jüngere Frau ersetzt“, erzählt ein Mann in Führungsposition eines Luxusunternehmens unter dem Schutz der Anonymität, weil er fürchtet, demnächst selbst über die Klinge zu springen. In Ruhe schlafen könne als Mann nur noch, wer „Außergewöhnliches leistet“, versichert er.

Ganz wie in der Wirtschaft spielen die Frauen jetzt auch im Wahlkampf eine entscheidende Rolle. Die beiden Kandidaten, die dem amtierenden Präsidenten am gefährlichsten werden könnten, sind Frauen: die konservative Valérie Pécresse und die rechtspopulistische Marine Le Pen. Wie konnte das passieren?

Frankreichs Frauen haben sich nicht mit den Siegen zufriedengegeben, die ihre Vorkämpferinnen seit den frühen Siebziger Jahren errungen haben. Die Erbinnen von Simone de Beauvoir haben sich neuen Kämpfen verschrieben, kreative Protestformen entwickelt, neue Allianzen geschlossen: Sie tragen angeklebte Bärte und stören rein männliche Diskussionsrunden oder Vorstandssitzungen; sie ziehen ihre T-Shirts aus und gehen barbusig auf die Barrikaden; sie zerren die Veranstalter des Schönheitswettbewerbs „Miss France“ vor Gericht oder zeichnen den Regisseur Roman Polanski mit dem „Ehrenpreis der Schande“ aus. Sie demonstrieren verhüllt unter schwarzem Niqab. Sie kleistern nachts Botschaften auf die Hauswände, Buchstaben auf DIN-A4-Blättern, damit die Frauenmorde nicht in Vergessenheit geraten.

Im öffentlichen Raum, in den sozialen Netzwerken, in den Medien, aber auch in Familien ist die Geschlechterfrage allgegenwärtig. Egal, ob es um inklusive Schreibweise, Gehaltsunterschiede oder Anmache auf der Straße geht: Keine junge Französin, die sich nicht mehr oder minder von den Kämpfen ihrer Schwestern betroffen fühlt. Doch anders als in den 70er Jahren, der Hochzeit des „Mouvement de Libération des Femmes“ (MLF), hat keine der Gruppen die Meinungsführerschaft. Die Front ist bunt und unübersichtlich.

Um sich besser im feministischen Dschungel zurechtzufinden, hat sich La Croix sogar an einem Leitfaden versucht, einem „Kleinen Führer des Feminismus der 2020er Jahre“: „Die Generationen des Umschwungs“, titelte die katholische Tageszeitung.

Den Wendepunkt kann man leicht bestimmen: Im Mai 2011, wenige Tage nachdem der Chef des Internationalen Währungsfonds und politische Hoffnungsträger Frankreichs, Dominique Strauss-Kahn, in New York wegen der Anschuldigung einer Vergewaltigung verhaftet wurde, gingen in Paris Frauen mit angeklebten Bärten auf die Straße und demonstrierten gegen den Umgang von Journalisten, Politikern und Intellektuellen mit dem, was fortan als DSK-Affäre galt.

Der Philosoph Bernard-Henri Lévy hatte apropos der Tatsache, dass DSK der Vergewaltigung eines Zimmermädchens im Hotel angeklagt war, vom „puritanischen Irrsinn“ der AmerikanerInnen gesprochen. Der linke Journalist Jean-François Kahn fand eine sagenhafte Formulierung, die nahelegte, dass Strauss-Kahn vom „Recht der ersten Nacht“ gebraucht gemacht hätte, offensichtlich, weil es sich um das Zimmermädchen eines Luxushotels gehandelt hatte. Ex-Kulturminister Jacques Lang sagte altväterlich, man müsse nicht übertreiben, es habe „schließlich keine Toten gegeben“.

Französinnen empörten sich also zu Recht darüber, dass sexuelle Gewalt runtergespielt, ja weiterhin als „exception culturelle“, als kulturelle Ausnahme französischer Galanterie abgeheftet wurde. Eine ältere Demonstrantin, die schon in den 70er Jahren aktiv gewesen war, stellte desillusioniert fest: „Damals haben wir für konkrete Ziele gekämpft, heute müssen wir gegen die allgemeine Atmosphäre auf die Straße gehen.“

Zu der Demo am 22. Mai 2011 hatten Frauenorganisationen wie „La Barbe“ (Der Bart) und „Osez le féminisme“ (Feminismus wagen) aufgerufen. Vor dem Pariser Centre Pompidou hatten sich rund 3.000 Demonstrantinnen versammelt. Sie hielten Transparente hoch mit Parolen wie: „Nein heißt Nein“. 16.000 Frauen und Männer hatten wenige Tage zuvor eine Online-Petition gegen den „schamlosen Sexismus“ in Frankreich unterschrieben.

Caroline de Haas, damals Sprecherin von „Osez le féminisme“ und bald zentrale Figur eines neuen Feminismus, sagte damals: „Es geht uns nicht darum, was in New York passiert ist. Was uns auf die Barrikaden bringt, ist die Welle des Sexismus, die seit einigen Tagen über Frankreich schwappt, und dass das Opfer in Vergessenheit geraten ist.“

„Osez le féminisme“ ist gerade gegen die Veranstalter des Wettbewerbs der Miss France vors Arbeitsgericht gezogen. Offiziell geht es um die Tatsache, dass die teilnehmenden Frauen keinen Arbeitsvertrag haben, aber mehrere Wochen unentgeltlich bei den Vorbereitungen zur Verfügung stehen müssen. Eigentliche Absicht ist es, eine Diskussion anzustoßen: „Wir würden gerne in einer Gesellschaft leben, die es für idiotisch hält, sich einen Abend lang vor den Fernseher zu setzen, um Frauen zu kritisieren, zu bewerten, zu benoten, zu vergleichen“, sagt Ursula Le Menn, die Sprecherin von „Osez le féminisme“. Sie stellt die rhetorische Frage, ob diese Sendung nach MeToo tatsächlich immer noch Sinn habe.

Die MeToo-Welle hat Frankreich mit Verspätung, aber damit umso heftiger erfasst. Spätestens seit die Schauspielerin Adèle Haenel bei der César-Verleihung empört aufgesprungen ist und den Saal verlassen hat, weil Polanski trotz Protesten im Vorfeld mit dem wichtigsten französischen Kinopreis ausgezeichnet wurde, erfasst der Protest der Frauen alle gesellschaftlichen Bereiche. Die Schriftstellerin Virginie Despentes („King Kong Theorie“) erklärte spontan: „Von nun an stehen wir auf und hauen ab.“

Nach dem Kino, dem Theater, dem Sport und den Medien ist jetzt die Politik an der Reihe. „Mit einem Mal sind alle Dämme gebrochen“, konstatiert der Soziologe Éric Fassin. Im November 2021 lancierten 285 politische Journalistinnen den Hashtag #MeTooPolitique und veröffentlichten einen Aufruf gegen den „lüsternen Paternalismus“. Offensichtlich war es eine Illusion zu glauben, dass nach der DSK-Affäre Journalistinnen vor Interviews keine anzüglichen Textnachrichten wie diese mehr erhalten: „Ich erwarte sie mit ausgefahrenem Periskop“.

Die Journalistinnen nennen unzählige Beispiele deplatzierter Anmache bis hin zu hartnäckiger sexueller Belästigung. „Solange die Politik in den Händen von heterosexuellen, eher sechzigjährigen Männern ist, wird sich nichts ändern“, schreiben sie.

Auch Emmanuel Macron hat das nicht wirklich geändert. Der Präsident hatte die Frauenfrage zwar gleich zu Beginn seiner Amtszeit zur Staatsangelegenheit gemacht, hat aber in fünf Jahren keine einzige Frau mit einem wirklich wichtigen Ministeramt betraut, geschweige denn zur Regierungschefin gemacht. Als er Innenminister Gérald Darmanin ins Amt berief, obwohl zu diesem Zeitpunkt ein Verfahren wegen Vergewaltigung gegen ihn lief, verloren die Feministinnen endgültig den Glauben an seine Versprechen.

Immerhin hat sich mit seinem Wahlsieg 2017 das Gesicht der französischen Nationalversammlung verändert. Das Parlament ist dank Macron klar weiblicher und jünger geworden. Als sich nicht genügend Frauen für die Listenplätze seiner damals neu gegründeten Partei „La République en Marche“ bewarben, organisierte der Präsident gezielt ein Politik-Coaching-Seminar, um interessierte Frauen zur Bewerbung zu ermutigen. Anschließend wurden die Listenplätze paritätisch besetzt und prompt wuchs der Frauenanteil des Parlaments von knapp 26 auf über 42 Prozent. Immerhin.

Als Meilensteine können im Nachhinein zwei Bestseller gelten, die exemplarisch zwei Männer zu Fall brachten, die unter ihrem kulturellen Heiligenschein jahrzehntelang unantastbar waren. Im Januar 2020 veröffentlichte Vanessa Springora „Die Einwilligung“, ein Buch, in dem sie erzählt, wie sie als Minderjährige in einer vermeintlichen Liebesbeziehung von dem 36 Jahre älteren Schriftsteller Gabriel Matzneff jahrelang sexuell ausgebeutet wurde.

Ein Jahr später brachte die Juristin Camille Kouchner „Die große Familie“ heraus und damit ihren Stiefvater Olivier Duhamel zu Fall. Der bestritt nicht, Kouchners Zwillingsbruder, seinen eigenen Stiefsohn, sexuell missbraucht zu haben. Der bekannte Politikwissenschaftler- und Verfassungsrechtler, der bis dahin in jeder Diskussionssendung charmant den Ton angab, verschwand von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche. Auch Matzneff versteckt sich seither in Italien.

Spätestens damit brach der Mythos zusammen, dass Franzosen einfach nur raffiniertere Verführer seien.

Durch die bunte Landschaft des feministischen Aktivismus zieht sich allerdings ein tiefer, ideologischer Graben. Französische Feministinnen liefern sich unerbittliche Schwesternkriege, bei denen die Vorkämpferinnen der „Intersektionalität“ ideologisch mit Frauen zusammenstoßen, die ein universalistisch-republikanisches Menschenbild verteidigen.

Marguerite Stern, die lange als „Heldin der Straße“ gefeiert wurde und deren Femizid-Collagen international Nachahmerinnen fand, wurde sogar körperlich angegriffen und steht in den sozialen Netzwerken unter Dauerbeschuss, weil sie wagte, Transgender-Aktivistinnen zu kritisieren. Nach zwei Jahren permanenter Attacken brach sie zusammen. „Mobbing und Cancel Culture verursachen Traumata“, tweetete sie kurz vor ihrer Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik.

Die „Generation des Umschwungs“ muss noch wie ihre Vorgängerinnen lernen, dass Grabenkämpfe mitunter unvermeidlich sind, aber in der Regel nur eins zur Folge haben: die Schwächung des Feminismus und damit die Entfernung vom gemeinsamen Ziel.

Dennoch: Die feministische Philosophin Camille Froidevaux-Metterie verkündete den „Zusammenbruch eines Systems“, des unantastbaren Patriacharts, dem Frauenkörper frei zur Verfügung standen: „Feministinnen haben entschieden, das nicht länger hinzunehmen. Deshalb steht die Frage des weiblichen Körpers wieder im Vordergrund.“

MARTINA MEISTER

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