Rachel Cusk: Auf der Suche

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Coventry ist der Name einer mittelenglischen Stadt, die zum Symbol für den Zweiten Weltkrieg wurde. Im Coventry beschoss die Deutsche Luftwaffe im November 1944 zivile Ziele, 500 Zivilisten wurden getötet und die St. Michael’s Cathedral sackte bis auf den Turm und einige Außenmauern zu Schutt zusammen. Heute ist „Coventry“ im Englischen zu einer Redeweise geworden, zum Synonym für Auslöschung.

Wenn Rachel Cusk ihrem neuen Essayband den drastischen Titel „Coventry“ gibt, wählt sie diesen schicksalsbelasteten Namen zur Lagebeschreibung erlebter und durchlittener Lektionen. Im Zentrum von Rachel Cusks literarischer Recherche steht sie selbst. Davon überzeugt, dass der aktive Mensch sein „wesentliches Unbehagen an der Welt“ nicht aufgeben darf, erforscht sie alles, was ihm widerfährt, mit der größtmöglichen Schonungslosigkeit vor allem ihrem eigenen Leben gegenüber. Das ist eine Strapaze für die Autorin und manchmal auch für ihre LeserInnen. Seit dem Erscheinen ihrer Sachbücher: „Lebenswerk. Über das Mutterwerden“ (2019) und „Danach. Über Ehe und Trennung“ (2020) schreibt Rachel Cusk Bücher über ihre Wahrnehmungen und Empfindungen.

Die Erbarmungslosigkeit ihres Denkens hat sich in ihr festgesetzt und lenkt ihren Blick. Immer sieht Rachel Cusk die Verhältnisse mit. Rachel Cusk kann nicht auf rosige Babys, Freunde, Passanten oder ein Auto schauen, ohne in den Analysemodus zu schalten und darüber nachzudenken: Was folgt daraus für den Einzelnen, sie selbst und die Gesellschaft?
Rachel Cusk, die 1967 in Kanada geborene, bis zum neunten Lebensjahr in San Francisco aufgewachsene Tochter aus britischem Mittelstand, brachte es zum Studium in Oxford und sicherte sich einen Logenplatz in der Familie, wuchs, wenn auch nicht über sich selbst, so doch über den Horizont ihrer Eltern hinaus. Diese intellektuelle Entfremdung führte zu Verletzungen und zum Bruch.

Nachdem die Autorin Rachel Cusk sich ihre Herkunft vorgenommen hatte, folgten der Ehemann, die Schwangerschaft, die Geburt zweier Töchter, das Leben als Mutter im Alltag. Sie beobachtete ihre Ängste, Reaktionen, Verzweiflungen, Leidenschaften, das Rollenbild der Hausfrau, die Anforderungen des auf Gleichberechtigung trainierten neuen Lebensmodells und verlangte vom Ehemann, seinen Beruf als Anwalt aufzugeben und ihren „weiblichen“ Platz einzunehmen. Sie musste als Schriftstellerin für den Unterhalt sorgen. Dass nach 13-jähriger Ehe eine Trennung folgte, entspricht der traurigen Statistik.

Rachel Cusk ist jetzt zum zweiten Mal verheiratet und lebt mit ihrem Mann, einem Fotografen, zur Zeit in Paris. Schwer war es, so beschreibt es Rachel Cusk in dem Essayband „Coventry“, mit den Verlusten alter Bilder, der fehlenden Zeit für mütterliche Hingabe und Kontrolle über die Dinge des häuslichen Alltags zurecht zu kommen. Schönheit, Gemütlichkeit, liebevolles Familienleben mussten aufgegeben werden, um sich auf die Suche nach einem praktikablen und gleichberechtigten Weg zu machen. Anders als im Modell von Simone de Beauvoir überwiegt bei Rachel Cusk nicht die Theorie, sondern die praktizierte Anstrengung, nicht nur die Lust am Aufdecken, sondern das Tun und Streiten.
Dennoch ist ihre verzweifelte Suche nach der so genannten Wahrheit, der fast jedes ihrer Sachbücher und ihre sechs Romane (darunter „Outline“, 2014, „Transit“, 2017, „Kudos“ 2018 sowie „Der andere Ort“, 2020) durchzieht, eine produktive Provokation.

Die New York Times nannte ihre Intelligenz „beißend“ und „kompromisslos“. Während Amerika sie feierte, fielen englische Blätter über Rachel Cusk her. My home is my castle, das beschmutzt man nicht. Dabei ist die Radikalität ihres quälenden und anstrengenden Selbstversuchs sowohl erkenntnisfördernd, als logischerweise für die nachfolgenden Generationen in Teilen bereits veraltet, da sich die Strategien der Verteilungs- und Verteidigungskämpfe längst verlagert haben.

Warum schätze ich Rachel Cusk? Weil sie in jedem ihrer Bücher mit detektivischem Eifer die Absurditäten des Alltags und ihre Muster aufdeckt. Mir gefällt weniger ihr „Stil“, – darum geht es nicht. Sie ist keine „Schönschreiberin“, keine Belletristin, obwohl sie in ihren Romanen danach strebt. Mir imponieren ihre schier wahnsinnigen Anläufe, die „Ehrlichkeit“ durchzusetzen und der utopische Plan, die „Wahrheit“ herauszufinden. Denn die Wahrheit, das wissen wir, die allgemeingültige Wahrheit kann es nie geben.

Wir werden als LeserInnen Teil ihres durchlebten literarisch ausgefochtenen Kampfes, sich aus dem Steinblock, in den sie sich von den frühsten Jahren an eingeschlossen fühlte, zu befreien.

Simone de Beauvoirs berühmter Satz „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, feiert bei Rachel Cusk Auferstehung, wenn sie schreibt, dass eine Frau nicht geboren, sondern „gemacht“ wird. Sie sagt es nicht, aber es ist nicht zu übersehen, wieviel sie von der französischen Vorkämpferin gelernt hat. Auch Cusks Überlegungen zum Feminismus ergehen sich im Dualismus der Möglichkeiten, diesen setzt die Autorin in Beziehung zum Mann, der nicht von der Existenz der Kinder durchdrungen ist „wie ein Farbstoff das Wasser“, da zum männlichen „Gründungsmythos“ die mütterliche Rolle einfach nicht gehört.

„Um als Mutter aufzutreten“, schreibt sie, „musste ich meinen von maskulinen Werten genährten Charakter beurlauben.“ Ihre naive Vorstellung, Mann und Frau würden wie zwei „Mischwesen“ zusammenleben, scheiterte im Selbstexperiment. Rachel Cusk legt ihre Gründe offen. Auch hier ist sie wieder die Protagonistin des Experiments.

In ihren Romanen „Outline“, „Transit“ und „Kudos“ tritt das Ich als Geschichtensammlerin auf, die aus Reisen zu Kongressen, zu Schreibkursen, unterwegs in Flugzeugen und beim Essen im Restaurant Alltagswirklichkeiten entdeckt und zur Überprüfung des Ich einsetzt. Rachel Cusk untersucht in ihren Büchern eine Welt, wie sie ist, und nicht die Welt, wie wir sie gerne hätten. Es sind episodenhaften Erkenntnisse, die sie aus scheinbar belanglosen Begebenheiten destilliert. Immer treibt sie ihr bohrendes Interesse den Menschen gegenüber, die Intimes preisgeben und im nächsten Augenblick das Intime wieder verdecken; die Autorin konstatiert eine im Menschen fest verankerte Angst, sich „bloßzustellen“.

In jedem ihrer Bücher beschreibt Rachel Cusk den weiblichen Kampf um die eigene Identität, ihren Platz in der Gesellschaft. In jedem ihrer Bücher geht es um das Imago, das Bild von sich selbst und um das Experiment: Emanzipation. Ihre Widerstandsfähigkeit und Hartnäckigkeit hat sie erprobt und immer wieder beschrieben. Sie packt das „Genderthema“ bei den Haaren und schleudert den Erkenntnisgewinn aus ihren „Selbstversuchen“ auf die Seiten ihrer Bücher.

Die Essaysammlung „Coventry“ enthält die Quersumme ihrer Überzeugungen und Erfahrungen, ein „work in progress“, das seine tiefe Notwendigkeit zur Konsequenz verteidigt. Wer sich auf Rachel Cusks Werk einlässt, kommt sich selbst und seinen eigenen Widersprüchen ein Stück näher.

Rachel Cusk: Coventry. Ü: Eva Bonné. (alle Bücher von Cusk bei Suhrkamp)

 

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