Cornelia Weigand: räumt auf
Am Nachmittag des 14. Juli 2021 fährt Cornelia Weigand vom Rathaus in die Einsatzleitzentrale der Feuerwehr. Es ist 15.30 Uhr, der Pegel der Ahr liegt bei 1,60 Meter. Die Bürgermeisterin und die Feuerwehrleute beobachten am Bildschirm die Pegelprognosen, die das Landesamt für Umwelt schickt. Plötzlich erscheint dort eine Zahl, die sie kaum glauben können: 5,50 Meter. „Wir haben uns gefragt: Ist das ein Fehler?“ Doch die Bürgermeisterin ist Biologin und „als Naturwissenschaftlerin gewohnt, Zahlen ernst zu nehmen“. Cornelia Weigand telefoniert sich also beim Landesamt durch und erfährt: kein Fehler.
Der Wehrleiter sagt: „Frau Weigand, lassen Sie den Katastrophenfall ausrufen!“ Doch das kann nur der Landrat. Und der ruft nicht zurück. Auch nicht, als um kurz vor neun die Pegel-Prognose bei sieben Metern liegt. Da steht das Wasser schon im Keller des Rathauses, werden in den Straßen von Altenahr die Autos weggeschwemmt, gehen Notrufe von Menschen ein, die auf ihren Dächern sitzen. „Ich wusste: Eigentlich muss sich jetzt alles in Bewegung setzen“, erinnert sich Weigand. Doch erst am nächsten Vormittag um 10.30 kommen die ersten Hubschrauber.
Einen Monat nach der Katastrophe, bei der 134 Menschen starben, wird sich Landrat Jürgen Pföhler „aus gesundheitlichen Gründen“ in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lassen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen unterlassener Hilfeleistung. Als am 23. Januar 2022 sein Nachfolger gewählt wird, entscheiden sich die BewohnerInnen des Landkreises Ahrweiler diesmal nicht, wie seit Jahrzehnten, für einen CDU-Mann Marke Pföhler. Sondern für Cornelia Weigand: 50, parteilos, auf Sylt geboren, in Bonn studiert, gearbeitet in Liechtenstein und am Bodensee. Erst 2013 ganz an die Ahr gezogen, zu ihrem Mann, der in Altenahr seine Arztpraxis hat. Eine gleichermaßen besonnene wie zupackende Frau, die den Menschen offenbar über die Katastrophennacht hinaus Vertrauen einflößt. Zum Beispiel mit dem Offenen Brief, einem Zehn-Punkte-Plan, den sie an Kanzlerin Merkel und Ministerpräsidentin Dreyer schrieb. Seitdem gilt sie als das „Gesicht des Wiederaufbaus“.
Zu ihrem Bedauern hat sie auf manches „keinen direkten Einfluss“, zum Beispiel auf die Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds des Bundes, die oft mit monatelanger Verzögerung kommen. „Hinter den Kulissen rede ich mit Engelszungen und versuche klarzumachen: Das dauert zu lang!“ Sie hat dafür gesorgt, dass auch die vielen nebenberuflichen Winzer im Ahrtal Soforthilfe bekommen, sie macht Tempo bei den Baugenehmigungen und beim Neubau der zerstörten Schulen.
Dass auch ihr eigenes Haus überschwemmt wurde, darüber redet sie normalerweise nicht, weil „es uns besser geht als vielen anderen“. Ihr Mann musste aus dem dritten Stock in den Berghang klettern. „Aber weil die Telefonverbindung abriss, wusste ich nicht, ob er das geschafft hat.“ Als sie erfuhr, dass er lebt, „habe ich das abgehakt und weitergemacht. Ich musste ja funktionieren.“
Cornelia Weigand erzählt ruhig und konzentriert, woher ihre Zähigkeit womöglich kommt: Ihre Mutter hatte acht Geschwister, der Vater sechs. Der Vater ging zunächst zum Militär, holte dort nach Feierabend sämtliche Schulabschlüsse nach und studierte dann mit vierköpfiger Familie Zahnmedizin. „Vor Kurzem ist er gestorben, als einer der ältesten Herztransplantierten Deutschlands.“ Fast 30 Jahre lang hatte er mit dem Herzen und einer Niere eines anderen Menschen gelebt. „Das Prinzip ‚Nicht aufgeben!‘ ist mir sehr bekannt“, sagt Cornelia Weigand. Nicht umsonst läuft sie Marathon.
Immer wieder kam es nach der Katastrophe vor, dass die kleine drahtige Frau in ein Zelt marschierte und ein Feuerwehrmann sie wieder herausbugsieren wollte: „Hier ist ne Einsatzlage!“ Weigand erwiderte gelassen: „Ja, weiß ich. Und ich bin die Chefin davon.“ Nur 9,7 Prozent der hauptamtlichen Bürgermeister in Rheinland-Pfalz sind weiblich, von den 24 Landräten sind immerhin fünf Frauen. „Da stand am Anfang immer wieder die Frage im Raum: Kann die das?“ Die Frage dürfte inzwischen beantwortet sein.
CHANTAL LOUIS
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