Alice Schwarzer schreibt

Bahnfahren: Wenn eine eine Reise tut

Alice Schwarzer unterwegs mit der Deutschen Bahn. Da kann eine was erleben!
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Am 9. November will ich mit der Bundesbahn von Köln nach München fahren. 5 Stunden und 1 Minute ohne Umsteigen. Ich stehe pünktlich auf dem Bahnsteig. Der Zug kommt nicht. Durch den Lautsprecher tönt Unverständliches. Wir wartenden potenziellen Passagiere tauschen uns aus. 35 Minuten Verspätung? Was? Warum? Reparaturen am Signal… Bitte? Signalwerk. Aha.

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Der Zug kommt an. Ich steige ein. Erleichtert. Er ist knallvoll. Menschen stehen in den Gängen. Als erstes muss ich eine sympathische junge Frau von meiner reservierten Nr. 33 vertreiben. Tut mir leid. Kein Problem.

Wir fahren über die Hohenzollernbrücke. Und halten an. Geraschel im Lautsprecher. Dank Rundumaustausch verstehen wir: Sperrung der Strecke zwischen Siegburg und Frankfurt. Warum? Lange herrscht Ratlosigkeit. Dann die Erklärung: Personenschaden. Nun, das ist wirklich Schicksal. Der arme Mensch.

Wir fahren über die Hohenzollernbrücke. Wir halten an. Geraschel im Lautsprecher

Wir fahren weiter. Dann erneut: Geraschel im Lautsprecher. Der Zug wird über die linksrheinische Strecke fahren. Über Koblenz. Das dauert länger. Aber ich liebe diese Strecke. Und der Zug ist ja durchgehend. Ich freue mich auf den Rhein.

Neben mir sitzt ein sehr distinguiert wirkender Herr, mit Maske und Laptop, in das er ohne Unterbrechung reintippt. Manchmal murmelt er etwas hinter seiner schwarzen Maske. Er scheint zu telefonieren. Sehr diskret.

Ich aber kann nicht an mich halten. Die Loreley! Juble ich. Gucken Sie mal! Der Herr dankt für den Hinweis und scheint hinter seiner Maske zu lächeln. Gefühlte zehn Minuten später schiebe ich kleinlaut hinterher: Ach nein, sorry, ich habe mich vertan, schnell, hier erst ist die Loreley. Eindeutig. Sehen Sie da oben, die Fahnen. Der distinguierte Herr nickt und sagt: Das vorhin sah aber auch schon aus wie die Loreley. Ja, murmele ich reuig, aber die Loreley ist steiler, wie Sie sehen. Ist da nicht eine Figur oben? fragt der Herr. Nein, nur bei Heine, antworte ich beflissen. Er glaubt mir.

Ich arbeite weiter. Im Zug arbeite ich immer. Ich lese Zeitungen, oft von vorgestern, weil ich vorher nicht dazu gekommen bin. Ich gehe in meine mails. Ich redigiere Manuskripte. Darum kriege ich meist nicht mit, wenn Durchsagen kommen. Aber das jetzt steht auch auf dem Bildschirm vor mir. Da steht: „Dieser Zug endet in Stuttgart.“ Punkt. Wie bitte? Ich habe doch eine direkte Durchfahrt nach München!

Auf dem Bildschirm vor mir steht: „Dieser Zug endet in Stuttgart.“ Punkt. Wie bitte?

Ich schaue meinen distinguierten Nachbarn flehend an. Der versteht. Er unterbricht seine Arbeit und beginnt zu recherchieren. Dabei muss er nur nach Stuttgart, der Glückliche.

Im Lautsprecher: Schweigen. Auf der digitalen Tafel: Ödnis.

Es meldet sich meine Kollegin aus der Redaktion, bei der meine Reservierungsinfos landen, per mail. Dein Zug fährt nur bis Stuttgart. Ja. Durch den Gang kommt eine Bedienung vom Restaurantwagen. Jemanden vom Zugpersonal haben wir noch nicht gesehen. Wissen Sie, wie wir von Stuttgart nach München kommen? Nein, sagt sie. Aber ich muss selber nach München. Ich wohne da. Die Frau ist Mitte fünfzig und sieht müde aus.

Mein Nachbar recherchiert weiter für mich. Ich bin gerührt.

Hier, sagt er, Sie haben einen Zug um 18.31 Uhr von Stuttgart nach München. Da haben Sie regulär 36 Minuten Aufenthalt. Aber der hat Verspätung und fährt erst um 19.10 Uhr. Da haben Sie 75 Minuten Aufenthalt. Warum unser unbeschadeter Zug nicht weiterfährt nach München, erfahren wir nicht. Ich vermute, der gewerkschaftlich gesicherte Acht-Stunden-Tag ist in Stuttgart verfuttert.

Mein hilfreicher Nachbar zeigt mir den Weg zur Lounge, immer dem blauen Strich entlang

Inzwischen ist es dunkel draußen und es regnet. Gehen Sie doch in die DB-Lounge, sagt mein Nachbar, sonst können Sie sich in dem Bahnhof nirgendwo hinsetzen. Der Bahnhof wird ja gerade umgebaut.

Das habe ich schon erlebt, sage ich, man läuft kilometerweit. Und ich murmele weiter: Auch so ein Wahnsinn. Der neue Bahnhof kostet das Vielfache des geplanten, und über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, kämpfen die Stuttgarter sich durch diese Baustelle. Ja, sagt der distinguierte Herr, und ich muss immer an den älteren Mann denken, der bei der Protestdemo durch die Wasserwerfer oder Nebelraketen der Polizei erblindet ist. Ja, auch ich erinnere mich.

Stuttgart, ein Kopfbahnhof. Mein hilfreicher Nachbar zeigt mir noch, wo es zur Lounge geht, immer dem blauen Strich lang. Zirka 500 Meter.

Die Lounge. Ich zeige mein 1.Klasse-Ticket. Da sagt die Dame am Schalter: Nein, damit kommen Sie hier nicht rein! Wieso? Ich habe doch ein 1.Klasse-Ticket. Ja. Aber eins mit Ermäßigung. Da dürfen sich nicht mit in die Lounge.

Es reicht! Ich sage: Ich gehe jetzt trotzdem in die Lounge. Ich hatte nämlich tatsächlich noch nicht einmal eine Bank irgendwo gesehen. Sie kommt protestierend hinter mir her, ich sage: Rufen Sie die Bahnpolizei! Oder noch besser: Rufen sie die Bahndirektion an!

Ich fange an, ein schlechtes Gewissen wegen der Aufsicht am Einlass zu kriegen

Die Lounge: ein paar Plastiktische und ein Automat mit Wasser, Cola und Limonade. Selbstbedienung. Ich lande in einer Schicksalsgemeinschaft. Links ein älteres Ehepaar und eine Vielfahrerin.

Rechts ein älterer, sehr aufgeräumt wirkender Herr mit aufgeklapptem Laptop vor sich und der Süddeutschen Zeitung neben sich. Die Vielfahrerin hat grausige Geschichten zu erzählen. Ständig ausgefallene und verspätete Züge. Aber sie nimmt es cool. Das arme Personal, sagt sie, das muss es ausbaden. Letzteres sehe ich ebenso. Ich hatte schon vor Monaten Geschichten über prügelnde Fahrgäste und verprügeltes Bahnpersonal gelesen. So sehr ich zunehmend die Verbitterung der Bundesbahnkunden verstehe, aber so geht es nun auch wieder nicht.

Ich fange an, ein schlechtes Gewissen wegen der Aufsicht am Einlass zu kriegen. Die wischt gerade unsere Plastiktische und lächelt mich entschuldigend an. Ich lächle versöhnt zurück. Sie können ja auch nichts dafür, sage ich.

Jetzt murmelt der Herr rechts von mir - drei Kinder, Wohnsitz in einem bürgerlichen Viertel in Bremen (wie ich später erfahre) - etwas von „Privatisierung“. Das ist mein Stichwort. Mehdorn! sage ich mit vielsagendem Unterton. Genau! sagt mein Nachbar. Wer behauptet denn eigentlich, dass öffentliche Verkehrsmittel Profit abwerfen müssen?! sagt er. Ganz wie beim Gesundheitssystem, ergänze ich. Eine Schande! Wir sind uns wunderbar einig, und ich haste zuguterletzt zum Zug nach München.

Wer behauptet eigentlich, dass öffentliche Verkehrsmittel Profit abwerfen müssen?!

War nicht nötig. Der Zug hat 20 Minuten Verspätung. Die erweitern sich dann auf 40 Minuten. Warum? Das erfahren wir nicht.

Ich steige ein. Inzwischen lese ich nicht mehr. Ich bin zu erschöpft. Mir schräg gegenüber sitzt die Bedienung aus dem Köln-München-Zug, sie schläft. Um 22.55 Uhr komme ich an. Mit dreieinhalb Stunden Verspätung. Ich werde abgeholt. Wie schön.

Bleibt dran, liebe Leserinnen und Leser. Gleich kommt die Fortsetzung. Denn am übernächsten Tag werde ich versuchen, von München nach Straßburg zu kommen.

+++

11. November. Um 14.47 Uhr geht mein Zug von München nach Straßburg. Erst mit der Bundesbahn, und dann ab Karlsruhe mit dem französischen Schnellzug TGV. In Straßburg wird am Wochenende der Dokumentarfilm „Alice Schwarzer“ von Sabine Derflinger gezeigt. Der ist im Frühling in Österreich und in der Schweiz im Kino gestartet, im September in Deutschland und kommt am 4. Dezember auf Arte, in einer Kurzfassung, 55 Minuten. Sabine möchte, dass er in Frankreich mindestens auf Filmfestivals gezeigt wird, in voller Länge (136 Minuten). Ich würde mich auch darüber freuen. Denn schließlich ist Frankreich meine zweite Heimat.

Jetzt also der Start auf dem deutschsprachigen Filmfestival „Augenblick“ in Straßburg. Volker Schlöndorff, der zeitweise in Paris zur Schule gegangen ist und vor allem durch seine Filme mit Margarethe von Trotta in Frankreich bekannt wurde, wird auch da sein. Er kriegt einen Ehrenpreis.

Ein deutschsprachiges Filmfestival im Elsass. Ich bin wirklich gerührt. Ich erinnere mich schließlich an Brunos Schulbücher, mein früherer französischer Lebensgefährte, in denen der kleine blonde Hansi fröhlich pfeifend zur Schule ging - bis die bösen Deutschen kamen. Da ließ Hansi den Kopf hängen. Die deutsche Wehrmacht besetzte im Mai 1940 das Elsass und verbot den Elsässern, Französisch zu reden, sie sollten zwangsgermanisiert werden. Die waren also wirklich böse, die Deutschen. Jetzt, achtzig Jahre später, also wieder eine Präsenz deutscher Kultur im französischen Elsass. Wie schön. Denn die Elsässer haben, historisch gesehen, ja in der Tat zwei Kulturen, und das ist mehr als eine.

Es geht hin und her: Der Zug fällt aus. Der Zug fährt doch. Der Zug fällt aus...

Also, auf nach Straßburg. Jetzt reise ich in Begleitung. Auf dem Weg vom Hotel zum Bahnhof gehen wir noch ins Weißbräuhaus, Klöße essen und ein Weißbier trinken. Glückliches Bayern. Unser Zug fährt um 14.47 Uhr. Da kommt gegen 13.26 Uhr die Nachricht via mail: Der Zug fällt aus. Warum? Reparaturen am Zug. In der darauffolgenden Stunde geht es noch ein wenig hin und her. Der Zug fährt doch. Der Zug fällt aus. Der Zug fährt doch. Der Zug fällt aus. Wir hasten zum Bahnhof und kommen um 14.40 Uhr am Bahnsteig 15 vorbei. Da steht ein Zug nach Stuttgart. Nichts wie rein! Stuttgart liegt schließlich auf dem Weg nach Karlsruhe.

Wir streben, zusammen mit einem Dutzend weiterer Menschen, auf den zwei bis drei Meter von uns entfernt stehenden Zug zu. Der schließt. Bleibt noch stehen, aber geschlossen und fährt irgendwann ab. Aufregung bei uns Beinahe-Passagieren. Aber eine noch größere Aufregung beim Bahnpersonal, eine Frau und ein Mann, die hastig telefonieren. Es stellt sich raus: im Zug war „ein Notfall“, eine Frau. Aber der rasch gerufene Notarzt hatte nicht mehr einsteigen können, weil der Zug einfach abgefahren war. Es gibt also Menschen, die haben noch viel größere Probleme als wir.

Wir stehen ratlos da. Der nächste Zug nach Stuttgart fährt in anderthalb Stunden. Wir gehen in die Lounge, beschließe ich.

Der Notarzt konnte nicht mehr einsteigen, der Zug war einfach abgefahren

Zwecklos, sagt die Frau an meiner Seite. Sie hatte mit ihrem Ticket zwei Tage zuvor Ähnliches in der Münchner Lounge erlebt wie ich in Stuttgart. Wir gehen trotzdem! beschließe ich. Meine Begleitung zeigt ihre Bahncard 1. Klasse mit 50 Prozent Ermäßigung. Nein, sagt die Frau am Einlass, damit kommen Sie nicht in die Lounge-1.Klasse, dazu müssten Sie eine schwarze Bahncard haben. Wir wissen nicht, was das ist.

Wir gehen durch in die Lounge. Große Aufregung. Die Einlassgöttin kommt hinter uns her. Sie sieht die Entschlossenheit in unseren Augen. Sie senkt die Stimme und sagt: Machen wir einen Kompromiss. Kommen Sie mit in den Nebenraum, da können Sie auch mit Ihrer Bahncard rein. Wir wissen nicht warum, wahrscheinlich ist es eine Lounge zweiter Klasse. Aber das ist uns auch recht.

Wir lassen uns erleichtert fallen. Uff. Da kommt ein junger Mann und sagt: Sie können beide mit mir in den Loungeraum 1. Klasse kommen. Man kann immer eine Person mitnehmen, und mein Nachbar nimmt die zweite auf seine Kappe. Echt nett! Aber wir sitzen schon und wollen sitzenbleiben. Er insistiert, sehr liebenswürdig. Wir danken. Wir bleiben.

Ich nicht zuletzt wegen unserer Nachbarn, zwei Männer ü70, beide Bayern. Diese bayerische Gelassenheit hat was. Das Gespräch zwischen den beiden geht los. Schöndichmalwiederzusehen. Unddulebstdunochamstarnbergersee? Klarmeinefrauist javondadadurchkonntenwireingrundstückzumeinheimischenpreiskaufen. Undnichtschonwiederdiepreussen. Ichhatteneulicheinenradunfall. einhundistmirreingelaufenaberniemandhatbezahlt. Inungarnfahrendieälterenumsonstmitderbahn. warumistdashiernichtmöglich? Und so weiter und so fort.

Zuguterletzt stellt sich raus, dass wir mit unseren Tickets durchaus in die 1. Klasse hätten gehen können. Ist auch schon egal. Doch ich scheine nicht mehr ganz auf der Höhe zu sein. Die Bundesbahn aber auch nicht.

Beinahe hätten wir den nächsten Zug nach Stuttgart verpasst. Aber kein Problem: Er hatte 15 Minuten Verspätung. Ursprünglich sollte der Zug um 18 Uhr in Stuttgart ankommen. Um 18.39 Uhr würden wir dann den TGV von Stuttgart aus nehmen (statt Karlsruhe). Super, sagt die Frau an meiner Seite, dann haben wir 39 Minuten Zeit zum Umsteigen. Mit der Verspätung blieben uns immerhin noch 24 Minuten zum Umsteigen. Komfortabel.

Ich kommuniziere in diesem Zug nicht, sondern schreibe diesen Text, den ihr gerade lest. Meine Begleitung übernimmt die Verantwortung fürs Aussteigen.

Um es kurz zu machen: Wir waren eine Station vor Stuttgart Hauptbahnhof ausgestiegen

Sie blickt in ihr Handy und erfährt, dass wir um 18.20 Uhr ankommen werden in Stuttgart Hauptbahnhof. Wir zwei springen pünktlich auf und hieven uns und das Gepäck auf den Bahnsteig. Wo ist denn Gleis 9 vom TGV, fragt sie verwundert, das geht hier nur bis Gleis 6.

Wie bitte?

Um eine entsetzliche Geschichte kurz zu machen: Wir waren eine Station vor Stuttgart Hauptbahnhof ausgestiegen, wo der Zug, der sich inzwischen weiter verspätet hatte, außerplanmäßig angehalten hatte. Außerplanmäßig.

Panik. Wir klopfen an die inzwischen geschlossene Zugtür - und, oh Wunder, sie geht nochmal auf.

Stuttgart Hauptbahnhof. Noch 6 Minuten, um von Gleis 9 auf Gleis 8 zu kommen. Wenn der TGV nach Paris über Straßburg planmäßig um 18.39 Uhr abfahren sollte. 18.36 Uhr. Da steht er. Schnell noch ein Foto von mir in dem mir inzwischen vertrauten Stuttgarter Hauptbahnhof und nix wie rein in den Zug! Der fährt ab, mit zwei Minuten Verspätung und einer Entschuldigung des Zugführers für die zwei Minuten. Wir werden pünktlich um 20.14 Uhr in Straßburg ankommen. Da bin ich sicher.

Vive la France!

A bas la Bundesbahn!

PS: Was schön ist an solchen Horrorfahrten mit der Bundesbahn? Die Begegnungen mit den Menschen.

ALICE SCHWARZER

 

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