Die Mutter der Erfindung

Erfindungen, die als "unmännlich" gelten, haben es schwer. Wie das Elektro-Auto.
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Wann wurde das Elektroauto erfunden? Vor zehn Jahren? Vor 15? Jedenfalls in den 2000ern, oder? Nein, falsch. Ganz falsch. Die richtige Antwort lautet: Das Elektroauto wurde gleichzeitig mit dem Benziner entwickelt, ist also schon weit über 100 Jahre alt. Im Gegensatz zum spritbetriebenen Wagen verschwand es allerdings bald wieder in der Versenkung. Das Elektrofahrzeug hatte nämlich einen Haken: Es war zu leise, zu sauber und zu zuverlässig.

Das konnte man vom Benzinauto keineswegs behaupten. Das Gefährt knatterte und stank, wenn es denn erst einmal angesprungen war. Gestartet werden musste das Automobil mit kraftvollen Kurbelschwüngen, wobei Verletzungen bis hin zu Knochenbrüchen an der Tagesordnung waren. Hinzu kam die Anfälligkeit des Fahrzeugs für technische Pannen, außerdem war man in dem dachlosen Fahrzeug Wind und Wetter ausgesetzt. Kurz: Der Fahrer des Benziners war im Grunde ein Abenteurer, ein ölverschmierter Held der Straße, der nur mit Mut und Können am Ziel ankam oder auch nicht.

Beim elektrisch betriebenen Auto hingegen gab es all diese Probleme nicht – und genau das war das Problem. „Elektroautos werden jeden ansprechen, der ein absolut geräuschloses, geruchloses und stilvolles Gefährt sucht, das einen nie im Stich lässt“, versprach ein Werbetext aus dem Jahr 1903. Doch genau dieses Verspre­chen führte dazu, dass das Elektroauto in Verruf geriet. Denn: Echte Männer wollten es auf keinen Fall fahren.

Das amerikanische Branchenmagazin Electric Vehicles brachte es auf den Punkt: „Wenn das Elek­troauto erst einmal als feminin verbucht ist, denkt der Autokäufer gar nicht erst darüber nach, sondern kauft ohne weiteres den Benziner.“ Denn: „Was verweichlicht ist oder auch nur in den Ruf gerät, es zu sein, wird nie in der Gunst des amerikanischen Mannes stehen.“

Dabei war das E-Auto Anfang des 20. Jahrhun­derts in den USA schon in größeren Mengen pro­duziert worden. Aus gutem Grund: Die Batterien brachten das Fahrzeug stolze 80 Kilometer weit (viel weiter schaffen sie es bis heute nicht); es gab Ladestationen, an denen die Batterien nicht nur geladen, sondern auch ausgetauscht werden konn­ten, was eine schnelle Weiterfahrt ermöglichte. Man konnte Elektroautos mieten oder nach einem Streckentarif für einzelne Fahrten bezahlen – ein moderner Vorläufer des Carsharings.

Es nützte alles nichts. Das E-Auto, mit Dach und weichen Sitzen ausgestattet, galt als „Weiberwagen“, mit dem Frauen sicher und warm zum Einkaufsbummel fuhren oder Familienausflüge machten. War es überhaupt ein Auto? „Es scheint nicht unstatthaft, das Elektroauto als den Kinder­wagen unserer Tage zu bezeichnen“, spottete ein Kolumnist. Die Konkurrenz wusste den Horror der Herren vor Verweichlichung selbstredend zu nut­zen und stellte ihr Marketing entsprechend auf. „Die Verbrennungsmotoren-Händler haben es fer­tiggebracht, Elektroautos als das Gefährt der Alten,

Kranken und Frauen hinzustellen“, klagte der Vor­standsvorsitzende von „Detroit Electric“. Damit war das Schicksal des Elektroautos besiegelt.

Die so brillante Idee, die wir 100 Jahre später wieder hervorholen, weil der Verbrennungsmotor als Klimakiller untragbar geworden ist, scheiterte maßgeblich an einer simplen, aber extrem wirk­mächtigen Sache: Geschlechterrollen.

„Hätte alles anders kommen können, wenn unsere Rollenerwartungen weniger rigide gewe­sen wären? Vor gut hundert Jahren bevölkerten in nicht wenigen Städten elektrisch betriebene Feu­erlöschzüge, Taxen und Omnibusse die Straßen. Dann verschwanden sie. Benziner setzten sich als dominierende Kultur durch und bescherten uns Lärm, Gestank und Umweltschäden. Wie wäre die Technologiegeschichte verlaufen, wenn man das Elektroauto um die Jahrhundertwende nicht als weiblich abqualifiziert hätte?“

Eine hochinteressante Frage, die Katrine Marçal da stellt. Die schwedische Wirtschaftsjournalistin hat in ihrem Buch „Die Mutter der Erfindung – Wie in einer Welt für Männer gute Ideen ignoriert werden“ noch viel mehr solche Fälle auf Lager. Zum Beispiel: den Rollkoffer. Es dauerte Jahr­zehnte, bis sich die äußerst praktische Idee, Kof­fer zu rollen anstatt sich mit ihnen abzuschlep­pen, auf dem Markt durchgesetzt hatte. Und es brauchte dazu eine gewaltige gesellschaftliche Kraft: die Frauenbewegung!

Als Bernard Sadow, Vizegeschäftsführer des Gepäckherstellers „US Luggage“, im Jahr 1970 aus einem Familienurlaub auf Aruba zurückkehrte und mit zwei 25-Kilo-Koffern durch den Flugha­fen wankte, kam ihm die im Grunde simple Idee. Zurück in Massachusetts, schraubte er vier Rol­len unter einen Koffer und versah das Ganze mit einer Schlaufe zum Ziehen. Nachdem er noch ein wenig getüftelt hatte, ließ Sadow seine Erfin­dung patentieren und pries in dem dazugehöri­gen Antrag die Vorzüge des Rollkoffers: „Das Gepäck gleitet förmlich. Jede Person kann den Koffer ohne Mühe und Anstrengung einfach zie­hen, unabhängig von Körpergröße, Kraft oder Alter.“ Wir ahnen es schon: Genau das war das Problem.

Die Warenhäuser verschmähten das Produkt. „Es gab damals diese machohafte Einstellung: Männer trugen ihren Frauen das Gepäck. Das wurde als der natürliche Lauf der Dinge angese­hen“, erklärte Sadow rückblickend. Männer, die Koffer rollten, gerieten also unter Weichei-Ver­dacht. Frauen, die ohne Mann verreisten, galten ohnehin als verdächtig. Natürlich hatte es schon Jahrzehnte vorher immer wieder Versuche gege­ben, das schon Jahrtausende vorher erfundene Rad unter schwere Koffer zu montieren, aber sobald die naheliegende Konstruktion in der Rubrik „Frau und Heim“ vorgestellt wurde, war das ihr Todesstoß.

Erst als die Feministinnen auf den Plan traten und die Rollenklischees aufbrachen, die dem rol­lenden Koffer im Weg standen, nahm die Sache Fahrt auf. „Die Einkäufer der Warenhäuser muss­ten einsehen, dass die Geschlechterrollen im Wandel begriffen waren: Moderne Frauen wollten selbstständig reisen und Männer hatten es weni­ger nötig, sich durch ihre Körperkraft zu bewei­sen“, erklärt Katrine Marçal. Ab Mitte der 1980er trat der Rollkoffer seinen Siegeszug an, und wer heutzutage seinen Koffer noch trägt, kann sich der mitleidigen und verständnislosen Blicke sei­ner oder ihrer Mitreisenden gewiss sein. Fazit: „Offenbar nimmt man es wichtiger, die Geschlech­terrollen aufrechtzuerhalten als Geld zu machen.“

So ist es. Niemand beweist das übrigens zwin­gender als die Modeindustrie, die lieber auf Gewinne verzichtet als ausreichend Kleidung in der Größe in die Geschäfte zu hängen, die die meisten Frauen tragen – vor allem, die, die es bezahlen: 42. Stattdessen sollen sie sich in kleine Fähnchen in Mädchengrößen 34 oder 36 hungern, um dem rappeldürren Schönheitsideal zu ent­sprechen.

Doch zurück zur „Mutter der Erfindung“. Am Beispiel von E-Auto und Rollkoffer haben wir gesehen: Nur, was Männer benutzen (dürfen),

kommt auf den Markt. Hinzu kommt: Nur, was Männer erfinden und herstellen, gilt als „Technik“. Frauen haben in der Geschichte der Menschheit zwar ziemlich viel erfunden, nur gelten diese Erfindungen nicht wirklich als solche. „Warum bezeichnen wir zum Beispiel Zeitalter als Bronze- oder Eisenzeit und nicht als Textil- oder Keramik­zeit?“, fragt Autorin Marçal. „Von einem Töpferei­zeitalter oder einem Flachszeitalter ist nie die Rede. Dabei ist die Entdeckung, dass sich Lehm durch Hitzezufuhr härten lässt – und sich dann dazu eignet, darin Wasser und Nahrungsmittel zu transportieren oder zu lagern – kein geringerer technologischer Fortschritt als die Nutzung von Bronze oder Eisen.“

Technische Produkte, die als Erfindung gelten, müssen so hart sein wie die echten Männer, die sie sich – angeblich oder tatsächlich – ausgedacht haben. So ist zum Beispiel zu erklären, dass kaum jemand weiß, dass die Raumanzüge, die Neil Arm­strong und seine Mitastronauten bei der Mondlan­dung trugen, von den Näherinnen eines Miederwa­ren-Unternehmens entwickelt wurden. Sämtliche Rüstungsfirmen, die die NASA beauftragte, versag­ten bei der Herstellung eines Raumanzugs, der die hochkomplexen Anforderungen des Weltalls erfüllt. Ihre Metallanzüge, die an eine Ritterrüstung erin­nerten, waren schlicht zu unflexibel.

Erst die erfahrenen Mitarbeiterinnen der „International Latex Corporation“, die Mieder, BHs und Windeln aus Latex produzierte, schafften es, einen Anzug aus 21 Lagen und 4.000 Einzelteilen herzustellen, der, wie man seit 1969 weiß, perfekt funktioniert. Hätten Männer den weltbekannten Raumanzug entwickelt, wäre ihr Name vermut­lich ähnlich bekannt wie der von Neil Armstrong. Aber da der innovative Anzug ja nicht geschweißt oder gelötet, sondern genäht werden musste, sind seine Entwicklerinnen unbekannt.

„Unsere Auffassung von Technikgeschichte hat nicht nur unmittelbar Frauen ausgeschlossen. Zugleich hat sich auch unsere Definition von Technik beständig so verändert, dass Tätigkeiten, die typischerweise von Frauen ausgeübt werden, nicht darunter fallen“, erklärt Katerine Marçal. Die Tochter einer Informatikerin weiß, wovon sie spricht. „Als noch Frauen Computer program­mierten, galt das als etwas, zu dem jede und jeder fähig war. Als Männer anfingen, sich damit zu beschäftigen, brauchte es plötzlich ein geniales Nerd-Gehirn, das vor lauter Brillanz kaum in der Lage war, den dazugehörigen Körper unter eine Dusche zu bewegen, von einfachsten sozialen Kompetenzen ganz zu schweigen.“

Wirtschaftsjournalistin Marçal wirft auch einen Blick in die Zukunft: Was wird passieren, fragt sie, wenn künstliche Intelligenz immer mehr technische „Männerberufe“ ersetzt, wäh­rend gleichzeitig der Bedarf an „Frauenberufen“, zum Beispiel in der Pflege, konstant wächst? Wer­den dann massenhaft LKW-Fahrer, die durch selbstfahrende Autos ersetzt werden, zu Alten­pflegern? Und falls ja, wie wird das das Ansehen dieses Frauenberufs verändern – und vor allem: dessen Bezahlung? Wir werden sehen.

Noch einmal zurück zum Elektroauto. Das erfreut sich wachsender Beliebtheit – unter Män­nern. Denn Elon Musk wusste, was er tat, als er seinen Tesla baute. Das Modell 3 wird zu 85 Pro­zent von Männern gefahren, kein anderes Auto kommt auf diese hohe Männerquote. Der Grund ist einfach: Es hat 513 PS. Klimafreundlich geht anders. Aber Hauptsache, es ist kein „Weiberwagen“.

 

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