„Nicht um den heißen Brei herumreden!“

Foto: Alex Talash/BILD
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Herr Mathies, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Nachrichten über die Attacken an Silvester gesehen haben?
Mein Gefühl war: Das, was wir schon vor Corona hatten, kommt jetzt mit gesteigerter Wucht zurück. Das heißt, alles, was wir vorher in den Großstädten auch schon hatten, war plötzlich wieder da.

Es gab ja diesmal ganz gezielte Angriffe auf Polizisten und Rettungskräfte, also Menschen, die die Angreifer offenbar als Repräsentanten des Staates ansehen.
Dieser Ausbruch war tatsächlich unfassbar. Ich finde es unerträglich, dass Feuerwehr und Polizei im Einsatz angegriffen werden! Nach allem, was wir von den Behörden und aus den Medien wissen, ist der Anteil von Männern mit Migrationshintergrund groß. Es gibt allerdings auch Hinweise darauf, dass an der einen oder anderen Stelle auch Links- und Rechtsextremisten und sonstige Gewaltsuchende mit deutscher Staatsangehörigkeit beteiligt waren. Da hat eine Mischung aus Menschenmenge, Pyrotechnik, Alkohol und eine wie auch immer geartete Grundaggression zu einem Ausbruch von Gewalt geführt. Und der Migrationshintergrund ist ja nur ein Faktor. Wenn wir zum Beispiel die Fußball-Gewalt nehmen, die uns ebenfalls sehr große Sorgen macht: Da sprechen wir von den „erlebnisorientierten“ Männern, die in einer Gruppe losziehen und sich stark fühlen, und auch da sind Alkohol und Drogen Enthemmer. Und immer wieder dreht es sich um die Frage: Warum sind Männer so sozialisiert, dass sie aus Gruppen heraus Gewalt anwenden? Wir wissen ja zum Beispiel von den Hooligans, dass sich da Personen an Gewalttätigkeiten beteiligen, die im normalen Leben ganz normale Menschen mit ganz normalen Berufen sind.

Sie haben als Kölner Polizeipräsident dafür gesorgt, dass sich an Silvester 2016/17 die Katastrophe von 2015/16 nicht wiederholt hat. Wie ist ihnen das gelungen?
Wir wollten verhindern, dass mehrere Hundert Männer unkontrolliert in die Stadt strömen. Deshalb wurden sie von den Beamten angesprochen, wir haben also viele Gefährderansprachen gemacht. Die Stadt hatte außerdem einen großen Bereich um den Dom herum zur „feuerwerksfreien Zone“ erklärt. Da gab es Absperrungen mit Durchlass-Stellen, an denen die Personen, die reinwollten, sich einer Taschenkontrolle unterziehen mussten. Dabei haben wir viele Polizisten und Polizistinnen mit Migrationshintergrund eingesetzt, die über entsprechende Sprachkenntnisse verfügten und die Regeln, die wir aufgestellt hatten, entsprechend kommunizieren konnten.

Ihnen ist anschließend, unter anderem von der damaligen Grünen-Vorsitzenden Simone Peters, „Racial Profiling“ vorgeworfen worden.
Ja. Damit musste ich leben, denn ich wollte einfach verhindern, dass sich die Situation von 2015 wiederholt. Dazu stehe ich auch.

Ist es inzwischen leichter geworden, klar zu sagen, wer bei solchen Ereignissen die größte Tätergruppe ist, nämlich junge Männer mit Migrationshintergrund?
Ich glaube, inzwischen haben viele Menschen erkannt, dass es nicht zielführend ist, um den heißen Brei herumzureden. Natürlich spielt es überhaupt keine Rolle, ob zum Beispiel ein Verkehrsunfall von einem deutschen oder einem marokkanischen Staatsbürger verursacht wurde. Aber es spielt natürlich eine Rolle, wenn bei solchen Ereignissen wie den Silvester-Krawallen, die die Bürgerinnen und Bürger beunruhigen, eine bestimmte Menschengruppe besonders beteiligt war. Dann muss man diese Gruppe auch benennen. Ich erwarte und hoffe, dass alle Beteiligten jetzt so gut es eben geht analysieren: Mit welchem Personenpotenzial hatten wir es zu tun, um dann weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. Deshalb sollten jetzt alle größeren Städte genau hinsehen: Was ist bei uns an Silvester passiert? Welche Personen waren beteiligt? Was wollen wir nächstes Silvester nicht haben und wie genau verhindern wir das? Meine Sorge ist nämlich, dass damit zu spät angefangen wird. Wer Anfang Dezember erst wach wird und sich fragt, wie Silvester laufen soll, der hat verschlafen.

Wie könnte so ein Konzept aussehen?
Wir müssen klar definieren: Wo kann Feuerwerk stattfinden und wo nicht? Dann hätten auch die Einsatzkräfte eine klare Entscheidungsgrundlage. Und Ordnungsbehörden und Polizei müssen schnell, klar und konsequent einschreiten.

So eine Gewaltexplosion kommt ja nicht aus dem Nichts. Nicht nur die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci sagt, dass der Ausbruch an Silvester nur die Spitze des Eisbergs war. Diese jungen Männer beherrschten auch im Rest des Jahres ganze Straßen oder Viertel. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja. In Nordrhein-Westfalen hatten wir in den letzten Jahren erhebliche Probleme mit sogenannten Tumult-Delikten. Wir hatten im Ruhrgebiet Fälle, wo sich bei kleinsten Anlässen – zum Beispiel einem Unfall mit Sachbeschädigung – bei Eintreffen der Polizei 50 oder 100 Menschen versammelt haben und es für die Polizei zu bedrohlichen Situationen kam.

Wie haben Sie reagiert?
Die Polizei hat sofort viele Kräfte zusammengezogen, um die bestehende Gefahrenlage zu bewältigen. Ich bin davon überzeugt, das ist das Entscheidende: Zuständige staatliche Stellen und insbesondere die Polizei müssen schnell und konsequent einschreiten, und zwar schon im Ansatz einer Gefahrenentwicklung.

Nach den Silvester-Krawallen wurden schnelle Strafen für die Täter gefordert.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Strafe muss eigentlich auf dem Fuße folgen und nicht Wochen oder gar Monate später. Und da hapert es nach wie vor. Was natürlich auch mit Personalmangel in der Justiz zu tun hat. Das läuft nicht so, wie es eigentlich erforderlich wäre.

Könnte die Polizei in diesen Milieus denn auch präventiv arbeiten?
Da gibt es viele Möglichkeiten, wenn alle Beteiligten zusammenarbeiten, also Schulen, Sozialarbeit und Polizei. In Köln gibt es zum Beispiel das schon mehrfach ausgezeichnete Projekt „180 Grad Wende“. Es hat das Ziel, junge Menschen aus benachteiligten Milieus niederschwellig zu erreichen und ihnen Chancen und Perspektiven für ihr Leben aufzuzeigen. So soll Orientierungslosigkeit und Kriminalität, vor allem aber auch einer Radikalisierung entgegengewirkt werden. Bei der Polizei spielen Bezirksbeamte eine besondere Rolle: Sie kennen die Menschen in ihren Bezirken und halten engen Kontakt zu Kindergärten und Schulen. Da führen sie regelmäßig Sprechstunden durch, zu denen die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler kommen können. Schulleitungen haben zum Beispiel auch die Möglichkeit, auffällige Schüler oder Schülerinnen durch den Polizisten ansprechen zu lassen, der ihnen erklärt: So geht es nicht! Das könnte man schon als sogenannte „Gefährderansprache“ bezeichnen.

Und das wirkt?
Ich bin als Polizeipräsident mehrmals mit Bezirksbeamten Streife gelaufen. Wir waren dabei auch an Schulen und ich war begeistert darüber, wie bekannt einzelne Bezirksbeamte dort waren und wie positiv sie aufgenommen wurden. Und ich denke, dass es gerade für junge Menschen, die ihre Wurzeln in anderen Ländern haben, wichtig ist, dass sie die Polizei auf diese Weise kennenlernen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Art der menschennahen Polizeiarbeit essenziell ist, auch, um Respekt gegenüber der Polizei herzustellen. Man muss das sehr langfristig angehen und dafür sorgen, dass in Kindergärten und Schulen viel mehr über staatliche Aufgaben und Verantwortung gesprochen wird – und über die Menschen, die für diesen Staat arbeiten. Es muss deutlich werden, dass das keine abstrakte Institution ist, sondern: Menschen.

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