Suffragetten im Exil?

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Winter 1914 im Nordsibirischen Tiefland. Die Expedition von Maria Czaplicka steckt in einem Schneesturm fest. Der Wind fegt über die Tundra; harte, spitze Eiskörner treffen Marias Gesicht „wie ein verrückt machender Hagel von Nadelstichen“, schreibt sie. Seit Wochen ist die Sonne nicht mehr aufgegangen. Die Gruppe befindet sich 800 Kilometer nördlich des Polarkreises. Und nun, bei dichter Bewölkung, sind nicht einmal Sternbilder zu erkennen.

Die Rentierschlittenführer haben den Weg verloren. Maria lockert die Gurte, mit denen sie festgeschnallt ist und wühlt sich aus mehreren Lagen Tierfellen hervor. Sie trägt über wollenen Hemden Jacke und Hose, einen wasserdichten Overall, Ölzeug und einen ewig stinkenden und feuchten Schafsfellmantel. Ihre Füße stecken in Socken aus Hundehaaren, darüber Wollsocken und zwei Paar Stiefel aus Rentierfell. Ein lederner Fußsack hält sie zusätzlich warm.

Doch Maria steht jetzt auf, um ihre Begleiterin und Übersetzerin Michika zu beruhigen. Die stammt, wie die Schlittenführer, aus dem Volk der Ewenken und schimpft wütend auf die Männer ein. Maria sucht in ihrem Gepäck nach einer Thermoskanne und bietet Michika einen Schluck warmen Kakao an. Als sie auch selbst trinken will, ist der Kakao gefroren.

Was treibt eine 28-jährige Polin in die Polarnacht Sibiriens? Es ist eine Mischung aus Neugier und Wissenschaft. Im britischen Oxford, wo Maria zuletzt zuhause war, hat sie bereits ein Fachbuch verfasst. „Aboriginal Siberia“ (Die Eingeborenen Sibiriens) heißt es, zur Recherche hat sie die Aufzeichnungen meist russischer Forscher benutzt. Maria spricht Russisch, ihr Heimatland Polen ist Teil des Zarenreichs.

Doch Völkerkunde aus zweiter Hand befriedigt die junge Ethnologin nicht auf Dauer. Sie will die Menschen selbst kennenlernen. Darum die eisige Schlittenfahrt von Chum zu Chum – von Familienzelt zu Familienzelt. Denn die Rentierzüchter verteilen sich im Winter über die magere Ebene, damit ihre Tiere genug zu fressen finden.

Auch bei den frierenden Reisenden ist erst einmal Essen angesagt, als sie endlich die gesuchte Behausung gefunden haben. Ein Rentier wird geschlachtet und gebraten, die Einheimischen verzehren das Fleisch roh. Dann müssen die hereingeschneiten Gäste – Maria und ihr amerikanischer Begleiter Henry Hall – erst einmal Fragen beantworten: In welcher Tundra sie denn zu Hause seien? Warum sie keine Felle zum Verkauf mitgebracht hätten? Und warum die junge Frau so alte Haare habe? Marias Haare sind blond, nicht grau, aber die nordasiatischen Ewenken, in Russland auch als Tungusen bekannt, haben noch nie eine weiße Europäerin gesehen.

Wer studiert hier wen? Das ist nicht leicht zu entscheiden. Einer Kommilitonin von Maria, Katherine Routledge, war es ähnlich ergangen, als sie in Nyeri (Kenia), dem nördlichsten Posten des damaligen britischen Protektorats Ostafrika, alles über das Familienleben der kleinbäuerlichen Kikuyu recherchierte, indem sie in gebrochenem Suaheli neugierige Fragen stellte.

Katherine, geborene Pease, war mit ihrem Ehemann Scoresby Routledge angereist – und stieß bei ihren einheimischen Geschlechtsgenossinnen auf Mitleid: Nur eine Frau in der Familie? Wer bewältigte dann die ganze Hausarbeit? Kikuyu-Frauen, so wurde Katherine belehrt, legten Wert darauf, dass der Ehemann den Haushalt durch weitere Heiraten vergrößerte. Aber sie würden ihrerseits nie einen Gemahl akzeptieren, den sie nicht heiraten wollten! Katherine gab das zu denken, zumal ihre eigene Ehe nach zwei Jahren im Ausland zu kriseln begann. Die Kikuyu- Frauen führten ein „unvergleichlich leichteres Leben“, notierte sie, als viele Frauen in Großbritannien.

Dass Maria Czaplicka und Katherine Routledge 1911 an der Universität Oxford zusammentreffen, ist Zufall – oder auch nicht. Während in London die Suffragetten zu militanten Mitteln greifen, im Kampf um das Frauenwahlrecht, wird in Oxford ab 1907 ein Diplomstudiengang in Anthropologie angeboten, offen für Frauen und geleitet von drei ehrgeizigen Professoren. Am Pitt Rivers Museum angestellt, sind sie nicht nur scharf auf immer neue Ausstellungsstücke aus den Kolonien, sondern auch auf neues Wissen über die fremden Völker, die die Briten bei ihrer Welteroberung zwangsläufig antreffen. Zwischen 1907 und 1918 bilden die drei Museumsdirektoren 103 Männer und 27 Frauen zu EthnologInnen aus. Fünf herausragenden Frauen aus dieser Oxford-Schule hat die Anthropologin Frances Larson nun in ihrem Buch „Undreamed Shores“ ein Denkmal gesetzt, darunter Maria Czaplicka und Katherine Routledge.

Einer der Oxforder Dozenten ist Robert Marett. Immer schon ein Frauenförderer, ist er spätestens 1910 überzeugt: „Nur eine Frau kann die Lebensumstände von Frauen in primitiven Gesellschaften studieren.“ Da hat er gerade das Buch des Ehepaars Routledge gelesen: „With a Prehistoric People. The Akikuyu of British East Africa“. Beide Routledges sind nur Hobby-Anthropologen (Katherine hat Geschichte studiert), doch Marett ist beeindruckt. Er wirbt um Katherine als Studentin, Tochter aus vermögendem Hause. Die plant bereits ihre nächste Expedition: Die soll per Schiff auf die Osterinseln gehen. Das Schiff, die Mana, ist bereits im Bau. Es wird auf einer britischen Werft für die Routledges maßgefertigt.

In diesem denkwürdigen Jahr 1911 hält auch erstmals eine Frau eine Vorlesung über Anthropologie: Barbara Freire-Marreco. Die Britin mit dem portugiesischen Namen (ein Großvater war Portugiese) hatte bereits 1908 ihr Anthropologie-Diplom in Oxford bestanden, gemeinsam mit einem einzigen männlichen Kommilitonen. Als Hochbegabte hat sie anschließend ein Forschungsstipendium ergattert und sich entschieden, es für Feldstudien in Neu-Mexiko und Arizona einzusetzen, wo sie die lokalen Pueblo-Indianer untersucht.

Ohne wirkliches Vorbild in den Methoden der wissenschaftlichen Feldforschung, versucht Barbara auf eigene Faust, aus einem Aufenthalt von wenigen Monaten etwas Publizierbares herauszuholen – aber es ist schwer. „Sie kämpfte damit, müseine geeignete Gruppe ‚Wilder‘ zu finden“, schreibt Frances Larson. „Einige waren nicht wild genug, andere waren zu wild, und keine war besonders interessiert daran, mit ihr zu reden.“

Am Ende eines Aufenthalts voller Ängste und Selbstzweifel hat die junge Forscherin Zugang zu den Indianern gefunden – vor allem, indem sie nicht nur mit den Männern über Politik diskutiert, sondern auch mit den Frauen über Handarbeiten und Babypflege. „Es war die schönste Zeit meines Lebens!“, jubelt sie in einem Brief an die Sponsoren. „Was für ein vielfältiges Leben und was für eine Chance, ein richtiger Mensch zu werden.“ Nun traut sich Barbara auch intellektuell alles zu, sie wird als feldforschungserfahrene Dozentin zum Vorbild für junge Ethnologinnen. Die brauchen Ermutigung. Denn so groß auch ihre Ambitionen sein mögen, die Hindernisse, die ihnen im Weg stehen, sind größer. Gerade von den höheren Töchtern Großbritanniens wird keineswegs eine akademische Karriere erwartet wie von ihren Brüdern. Viel wichtiger ist den Herkunftsfamilien eine standesgemäße Heirat. Und so herrscht auch im teilweise fortschrittlichen Oxford eine altmodische Geschlechtertrennung. Im Frauencollege Somerville gibt es einen strengen Dresscode, Herrenbesuche sind tabu.

Maria Czaplicka nimmt die Einschränkungen hin, weil sie den Luxus genießt, den ihr ein Stipendium ermöglicht: Heizmaterial und Badewasser wird den Somerville-Bewohnerinnen von Dienstboten gebracht, Tee und einfache Mahlzeiten inklusive.

Wie anders hatte Maria in Polen studiert: Da die Russen Frauen nicht an den eigenen Universitäten dulden, hat sie Kurse in polnischer Sprache an der illegalen „fliegenden Universität“ besucht und sich durch eigene Lehrtätigkeit und eine Reihe von Sekretärinnen-Jobs finanziell über Wasser gehalten. Ähnlich hatte rund 20 Jahre zuvor Maria Sklodowska ihre Karriere gestartet. Als Marie Curie heimst die Chemikerin 1911 bereits ihren zweiten Nobelpreis ein.

Bereits im Sommer 1912 ist Czaplickas Diplomkurs zu Ende, ihr Geld wird knapp. Und nun zeigt sich ein Muster, das für alle jungen Ethnologinnen gilt, die nicht wie Katherine Routledge über eigenes Vermögen verfügen: Sie müssen viel stärker um die Finanzierung ihrer Forschung kämpfen und bangen als ihre männlichen Kollegen. Selbst Frauenförderer Marett zapft im Falle Czaplicka lieber Mittel an, die gezielt für Studentinnen zur Verfügung stehen, als in den allgemeinen Museumstopf zu greifen, aus dem die Feldforschung der Männer bezahlt wird. Ob ihre lange geplante Russland-Expedition überhaupt starten kann, steht noch wenige Tage vor Abfahrt Spitz auf Knopf.

Doch dann geht es los: Man trifft sich im noch zaristischen Moskau und nimmt dann die Transsibirische Eisenbahn. Das Team besteht zunächst aus vier Personen: Denn statt mit Geld zu helfen, hat Marett sich Sorgen um den guten Ruf seines wissenschaftlichen Schützlings gemacht: Wer ist dieser Amerikaner Hall, mit dem Czaplicka reisen will? Offensichtlich nicht ihr Ehemann, also müseine sen zwei Anstandsdamen mit: die Ornithologin Maud Haviland und die Illustratorin Dora Curtis. Beide sind abenteuerlustig und praktisch begabt, Curtis kocht sogar recht gut.

Henry Hall steht von Anfang an im Schatten des lebhaften Frauentrios, denn er spricht nur Englisch. Czaplicka lernt in Windeseile zwei sibirische Sprachen, Nenzisch und Samojedisch, und kann sich überall auf Russisch verständigen. Die Sibirer, die die drei Frauen im Sommer 1914 treffen, halten sie nicht nur einmal für eine Gruppe von „suffragettski“, die von der britischen Regierung verbannt worden sind – sozusagen Suffragetten im Exil. Haviland und Czaplicka finden das amüsant – und passend.

Politische Exilanten werden neben berühmten Schamaninnen und betrunkenen Prinzen auch eine Rolle spielen in dem populären Reisebericht „My Siberian Year“, den Maria Czaplicka 1915 veröffentlicht und der sie für eine Weile berühmt macht. Ihr Album mit gesammelten Presseberichten ist jedenfalls rund 100 Seiten dick. „Furchtlose Lady als Entdeckerin“, „3000 Meilen mit dem Schlitten durch Sibirien“ und „Erste weiße Frau unter Eingeborenen“ lauten einige der Schlagzeilen.

Nicht ganz so erfolgreich ist Katherine Routledge, die während Czaplickas sibirischem Jahr tatsächlich die Osterinseln erreicht, berühmt für ihre riesigen Steinstatuen. Schon unterwegs auf der Mana gibt es Meutereien, die hauptsächlich Scoresby Routledge mit seinem arroganten Auftreten auslöst. Auf der Insel Honga Roa meutern die Einheimischen gegen die ungebetenen Besucher, angeführt von einer Prophetin namens Angata, die sich auch von Katherine nicht besänftigen lässt. Fast kommt es zu Blutvergießen.

Dennoch trägt Katherine Routledge mit Hilfe eines einheimischen Vertrauten Material zusammen, das in ihr Buch „The Mystery of Easter Island“ mündet. Auch sie kann das Mysterium, wie die Steinstatuen hergestellt und transportiert wurden, nicht endgültig lösen. Aber sie liefert wertvolle Hinweise zur Abstammung der Bewohner und zu ihren Mythen.

Der Erste Weltkrieg wird für alle zur Zäsur. Maria Czaplicka erfährt davon in Sibirien, kurz bevor ihre beiden Sommer-Reisegefährtinnen sich verabschieden und sie mit Hall allein den Jenissei hinab zu den Ewenken reist. Sie macht sich Sorgen um ihre Familie in Polen. Erst auf der Rückreise im August 1915 kann sie sie besuchen – kurz bevor die Deutschen Warschau besetzen.

Nach dem Ersten Weltkrieg tritt eine neue Generation von EthnologInnen ihre Feldforschungen an. Geprägt sind sie durch Czaplickas Landsmann Bronislaw Malinowski und sein 1922 erschienenes Buch „Argonauten des westlichen Pazifik“. Mit seiner Studie über Seeleute der Trobriand-Inseln hat er Feldforschung neu und enger definiert als es bisher üblich war: als tiefes Eintauchen des Forschers in eine eng umschriebene Gemeinschaft statt weiter Reisen, anatomischer Untersuchungen und statistischer Erhebungen. Doch im Grunde hat er eine Methode zum Standard gemacht, die von weiblichen Ethnologen erfunden wurde.

Winifred Blackman taucht jedenfalls ebenfalls gerne tief ein. Als sie Ende 1920 zum ersten Mal nach Ägypten reist, ist sie 48 Jahre alt. Zwanzig Jahre lang hat sie nur theoretische Studien betrieben und am Pitt Rivers Museum die Sammlung katalogisiert. Nun aber wird sie so sehr zur Ägypterin, dass sie eigentlich gar nicht mehr nach Hause will. Zwei Jahrzehnte lang bleibt sie ihrem Traumland treu, wird zur Spezialistin für die kriegerischen „Fellachen des oberen Ägypten“ (so der Titel ihres Buchs). Im Gastland kennt man sie als „Miss Blackman of Fayum“.

Und dann ist da Beatrice Blackwood. Sie ist eine Schülerin und Freundin von Maria Czaplicka. Als sie 1929 nach Neuguinea reist, hat sie mit widersprüchlichen Erwartungen zu kämpfen: Der von der britischen Regierung eingesetzte Anthropologe vor Ort will sie nicht zu den Urwaldbewohnern weiterziehen lassen, denn deren Männer gelten als so „triebhaft“ und „unzivilisiert“, dass sie, so heißt es, sofort über eine weiße Frau herfallen würden.

Auf der anderen Seite fühlt Beatrice sich durch das Vorbild Malinowskis unter Druck gesetzt, und auch das Selbstbewusstsein der Amerikanerin Magaret Mead, die 1928 ihr Buch „Coming of Age in Samoa“ veröffentlicht hat, schüchtert sie ein. Blackwood ist Mead in Sydney begegnet, wo sich die junge, angesagte Garde der EthnologInnen trifft – und hat sich in ihrer Gegenwart „sehr klein“ gefühlt. Dennoch geht Beatrice unbeirrbar ihren Weg. Sie reist 1938 ein zweites Mal nach Melanesien und dreht als eine der Ersten ethnologische Filme. Danach tritt sie eine feste Stelle am Pitt Rivers Museum an.

Ihre Lehrerin Maria Czaplicka ist da schon lange tot. Im Mai 1921 hat sie sich mit Tabletten das Leben genommen, mit 36 Jahren. Der wichtigste Grund: Die erfolgsverwöhnte Entdeckerin hatte sich um ein zweites Forschungsstipendium beworben, es sollte wieder nach Sibirien gehen. Doch ein männlicher Kollege hat ihr das Stipendium vor der Nase weggeschnappt. Maria Czaplicka sieht sich als gescheitert an. An britischen Universitäten hat man ihr nur befristete Stellen angeboten; Pläne, in die USA zu gehen, haben sich zerschlagen. Am Tag ihres Freitods ist sie einsam und hat Schulden.

Czaplickas wissenschaftlicher Nachlass geht an den alten Reisegefährten Henry Hall. Der lässt ihn verkommen, so dass von ihrem großen wissenschaftlichen Abenteuer nur das populäre Sachbuch bleibt: „My Siberian Year“. Es wirkt bis heute frisch, hochpolitisch und unbedingt lesenswert.

Neben Büchern haben die ersten britischen Ethnologinnen Fundstücke, Fotos, Filme und Archivmaterial hinterlassen, zum Beispiel ihre oft vergeblichen Anträge auf wissenschaftliche Förderung. Frances Larson, selbst als Ethnologin ausgebildet, hat das Material ausgegraben und daraus eine spannende Expedition in die Wissenschaftsgeschichte von Frauen gemacht.

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