Pornos ab der dritten Klasse

Das Handy ist vom Schulhof nicht mehr wegzudenken. Foto: imago
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Frau Freitag, seit wann haben Sie das Thema Pornografisierung im Fokus?
Es begann 2006. Damals hatte ich gleich drei junge Frauen in Therapie, die traumatisiert waren, weil Brüder und Cousins Pornos mit ihnen nachgespielt hatten. Alle drei kamen aus stabilen, guten Familienverhältnissen. Das hat mich stutzig gemacht und ich habe Studien zu Pornografie recherchiert. Der immense, aber tabuisierte Einfluss von Pornografie auf sexuelle Übergriffe ist mir schlagartig bewusst geworden. So bin ich zur Prävention gekommen.

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Ihre Fachstelle Mediensucht sensibilisiert bereits Eltern in Grundschulen. Warum?
Weil es dort anfängt. Ihren ersten Kontakt mit Pornos haben Kinder heute vielfach schon gegen Ende der Grundschulzeit. Und da reden wir nicht von Kindern in Problembezirken, sondern vom ganz normalen bürgerlichen Milieu. Durch Pornos lernen Jungs, Mädchen als Sexobjekt zu sehen, Mädchen lernen sich selbst als Objekt zu begreifen. Corona hat diese Entwicklung verstärkt. Vor allem, weil Kinder durch Lockdowns und digitalen Unterricht viel schneller und alternativloser ins Internet gekommen sind. Eltern geben ihnen bereitwillig ein internetfähiges Smartphone, weil sie glauben, ihr Kind würde sonst abgehängt. Das hat zur Folge, dass schon Drittklässler Hardcore-Pornos mit Thai-Mädchen herumschicken.

Dabei steht auf jeder bildungspolitischen Agenda „Digitalisierung first“.
Aber „Kinderschutz last“ müsste man hinzufügen. Es herrscht der Glaube, dass mit dem Verteilen von Tablets und allenfalls ein bisschen Medienkompetenztraining ein verantwortlicher Umgang mit Inhalten, die Kinder total überfordern und ihre Grenzen verletzen wie von ganz alleine entsteht. Doch Kindern Tablets in die Hand zu drücken ist, als würden Sie einem zehnjährigen Jungen kurz erklären, wie ein Auto funktioniert und ihn dann auf die Autobahn schicken.

Digitalisierung klingt doch erstmal progressiv und modern.
Ja, daher steht es auch in so ziemlich jedem Wahlprogramm. Worunter wir aber tatsächlich leiden, ist Lehrermangel und Unterrichtsausfall. Viele Kinder lernen nicht mehr richtig zu schreiben, zu lesen und zu rechnen. Es fehlen Sozial- und SonderpädagogInnen, um Kinder aus sozialschwachen Familien oder mit Lernbehinderung aufzufangen. Das soziale Miteinander leidet an vielen Stellen, besonders seit Corona. Das kann kein Tablet dieser Welt auffangen. Im Gegenteil, das verschärft die Situation massiv.

Tabea Freitag ist Therapeutin für sexuelle Traumatisierung.

Wieso?
Ich halte die frühe Digitalisierung für den größten Missbrauchsskandal unserer Gesellschaft. Es ist nur ein Klick zu hardcore-Videos, zu Vergewaltigungspornos. Der Zugang zu Pornos ist in Deutschland unfassbar leicht. Und es ist eine Form von sexuellem Missbrauch, Kinder mit Pornografie zu konfrontieren. Das steht auch so in unserem Strafgesetzbuch, Paragraf 176a. Selbst Erwachsene werden durch Pornokonsum massiv in ihren Vorlieben geprägt. Wie sollen Kinder sich vor so etwas schützen? Wir lassen sie völlig allein damit. Hin und wieder wird ihnen dann gesagt, dass das alles ja nicht echt sei. Das greift zu kurz!

Was erleben Sie in Ihrem Praxisalltag?
Ich erlebe junge Studentinnen, die mir davon berichten, wie pornografische Standards in ihr Beziehungsleben einsickern. Wer Sado-Maso-Praktiken nicht mitmachen möchte, muss sich nicht selten als verklemmt beschimpfen lassen. Viele junge Frauen lassen dann schmerzhafte und demütigende Praktiken zu, um die Beziehung nicht zu verlieren. Bei den 18-21-Jährigen haben mehr als die Hälfte schon einmal Gewalt beim Sex erlebt. Unter den 16-21-Jährigen sind nach einer aktuellen repräsentativen Umfrage in England 47 Prozent der Auffassung, dass Mädchen Gewalt beim Sex wie etwa Würgen oder Schläge „erwarten“, 42 Prozent glauben sogar, dass Mädchen dies mögen. Pornos setzen dabei den Standard: Nachdem in den letzten Jahren schmerzhafter Analsex sich etwa verzehnfacht hat, ist aktuell das Würgen beim Sex ein großes Thema. Nach einer aktuellen Studie sind schon 13 Prozent der 14 bis 17-jährigen sexuell aktiven Mädchen beim Sex plötzlich gewürgt worden. 24 Prozent der erwachsenen Frauen geben an, Situationen mit großer Angst beim Sex erlebt zu haben, z.B. Angst zu ersticken. Das alles geht einher mit dem immer früheren, massenhaften Zugang zu Pornografie. Viele junge Männer und Frauen haben zudem eine ausgeprägte Sucht nach Pornografie und Cybersex entwickelt und brauchen dann immer härtere, das heißt gewöhnlich immer brutalere Inhalte. Deswegen ist uns die Präventionsarbeit so wichtig geworden.

Wie erleben Sie und Ihre Kolleginnen die Jungen?
Eine junge Kollegin in der offenen Jugendarbeit erlebt  Jugendliche, die es völlig normal finden, Mädchen herumzureichen. Absoluter Held ist, wer die meisten Mädchen entjungfert hat, der erhält dann den Titel „Dosenöffner“. Auch wenn das natürlich nicht alle betrifft, sind das keine Einzelfälle! Ein 18-Jähriger sagte ihr „Ein Loch ist ein Loch, ob sie nun zwölf oder 20 ist.“ Pornos haben ihren Blick auf Mädchen entmenschlicht. Die Steigerung von dem Ganzen ist, wenn Mädchen heimlich beim Sex, vorzugsweise ihrem ersten Sex, gefilmt und dadurch erpressbar gemacht werden. Ab da ist dann vieles möglich: Sexuelle Verfügbarkeit, Drogenhandel, der Einstieg in die Prostitution. Eigentlich sind das Mafia-Methoden, die aber zunehmend in der Mitte der Gesellschaft, in der Jugendkultur angewandt werden.

Wo bleibt die Aufklärung?
Ich bin an einem Punkt, an dem ich denke: So wie man nach Rumänien geht, um Mädchen über Menschenhandel aufzuklären und vor Schlepperbanden warnt – genauso müsste man in Deutschland anfangen und alle 12- bis 15-jährigen Mädchen über die Folgen von Pornokonsum und über die Methoden so mancher charmanter Jungen aufklären. Die Schulen müssen stärker eingebunden werden und das muss auch von ganz oben kommen. Wir haben in Deutschland ein massives Problem durch die immer frühere Pornografisierung der Gesellschaft. Das betrifft nicht nur die Normalisierung und Zunahme von sexueller Gewalt an Frauen und Mädchen, sondern auch massive Beziehungsstörungen und die Häufung von Pornosucht bei jungen Männern und Frauen. Da braucht es endlich politischen Druck. Wir sehen es doch längst an den Straftaten.

Die da wären?
Straftaten hinsichtlich Kinderpornografie, die von Jugendlichen nicht nur konsumiert, sondern auch hergestellt und verbreitet wird, haben sich von 2018 bis 2021 verzehnfacht. Mittlerweile haben wir mehr Täter im Bereich Kinderpornografie unter 21 Jahren als alle zusammen, die vom Alter her darüber liegen. Auch beim Cybergrooming, also der Anbahnung von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen im Internet, haben sich die Grenzen drastisch verschoben. Die Täter werden immer jünger. Und gehen weiter, agieren mit einer Selbstverständlichkeit weil sie durch ihre eigene frühe Pornografisierung eine übersexualisierte Wahrnehmung entwickelt haben. Grenzverletzungen werden normalisiert. Dazu kommt, dass Pornografie den narzisstischen Anspruch fördert und füttert: Das ist doch nur Sex, da kann ich mir alles nehmen, was ich will, das ist mein gutes Recht.

Und die Mädchen?
Über dem ganzen Thema liegt ein Tabu. Die Folge der Pornografisierung ist, dass Selbstunsicherheit bis hin zu Hass auf den eigenen Körper bei den Mädchen eine neue Dimension erreicht hat. Ich sehe da auch deutlich die Verbindung zum Thema Transsexualität. Ist es ein Wunder, dass Mädchen Ekel oder Hass auf den eigenen Körper entwickeln, wenn sie in den Pornos sehen, was von ihnen erwartet wird? Wenn sie schon allein in den ganz normalen Mainstream-Standard-Pornos sehen, wie Frauen und Mädchen auf jede Art penetriert, gewürgt, ihnen ins Gesicht ejakuliert wird, sie gedemütigt und beschimpft werden? Wer will denn da noch ein Mädchen sein? Wundert da die extrem gestiegene Zahl von körperdysmorphen Störungen? Zu sagen ‚Ich bin trans‘ ist für viele Mädchen ein Lösungsweg geworden.

Da dürfte es schwer sein, eine „normale“ Sexualität zu entwickeln?
Absolut. Kinder und Jugendliche erleben beim Schauen von Pornos oft ein komisches Gemisch aus: Es ekelt mich an, aber es erregt und fasziniert mich auch. Es ist menschenverachtend und trotzdem muss ich es mir wieder ansehen. Das liegt daran, dass die Affekte vermischt werden. Angst und Ekel und Schock erzeugen dieselben Adrenalin-Kicks wie Lust, Erregung und Neugierde. Dadurch entwickeln zum Beispiel auch viele Mädchen Vorlieben wie Sado-Maso. Sie haben ganz früh Gewalt-Sex gesehen, die Affekte haben sich vermischt, durch klassische Konditionierung wurde Gewalt und Sex fest miteinander gekoppelt und dann glauben sie, das sei ihre angeborene Art von Lust. Dabei hat es ihnen eine kranke Industrie ins Hirn gepflanzt.

Wieso wird so wenig dagegen getan?
Ein entscheidender Faktor ist der hohe Pornokonsum auch erwachsener Männer. 80 Prozent der 22 bis 30-jährigen jungen Männer konsumieren mehrmals wöchentlich oder täglich Pornos. Bei den bis 40-Jährigen sind es noch 72 Prozent. Lediglich zwei von Hundert tun es nie. Es gibt Studien, die belegen, dass Erwachsene, die regelmäßig Pornos konsumieren, weniger von Kinderschutz halten. Ein weiterer Faktor ist, dass sich kein Politiker das Thema freiwillig auf den Tisch holt, es könnte ja unmodern sein. Man will doch niemandem den „Spaß verderben“. Frühe Digitalisierung zu fordern klingt dagegen immer progressiv, verspricht Stimmen. - Und vielleicht konsumiert er selbst auch Pornos. Dann möchte er natürlich anonym bleiben und hat kein Interesse an der Umsetzung einer Altersverifikation. Wir haben ja Gesetze, die den Zugang zu Pornografie im Sinne des Jugendschutzes regeln wie zum Beispiel den Paragrafen 184 StGB, aber sie werden gesellschaftlich und politisch fast vollständig ignoriert. Danach müsste jede Schule und jedes Elternhaus dafür sorgen, dass Pornos für unter 18-Jährige gar nicht zugänglich sind. Das ist den meisten nicht einmal bekannt. Tabletklassen werden oft eingeführt ohne effektiven  Filterschutz.

Ist es das allein?
Da kommt natürlich noch die sogenannte ‚sexpositive‘ bzw. ‚neo-emanzipatorische‘ Sexualpädagogik ins Spiel, die das Mantra der Harmlosigkeit von Pornografie seit Jahrzehnten gebetsmühlenartig propagiert. Sie beanspruchen – trotz erdrückender Studienlage – immer noch die Deutungshoheit und sie prägen in Ministerien, in der Sexualpädagogik und sogar der Präventionsarbeit die Richtung. Es ist das immergleiche Schema, mit dem auch für Prostitution Partei ergriffen wird. ‚Sexpositiv‘ zu argumentieren, bedeutet aber immer die Reduzierung von Sexualität auf den Lustaspekt. Dabei ist das schon vom Ansatz her absolut unwissenschaftlich. Psychologisch wird menschliche Sexualität immer als „bio-psycho-soziales“ Geschehen begriffen. Gerade dort, wo die psychische und Bindungsdimension von Sexualität ausgeklammert wird, entstehen doch die Probleme - wie sexuelle Gewalt und Ausbeutung, Sucht und Beziehungsstörungen. Sogenannte ‚sexpositive‘ Ansätze leugnen das. Obwohl ein früher Pornokonsum inzwischen der größte Risikofaktor für sexuelle Gewalt unter Minderjährigen ist, die ja extrem zunimmt, kommt dies in Präventionskonzepten zu sexueller Gewalt meist nicht vor. Selbst hier  haben ‚sexpositive‘ Sexualpädagogen, Funktionäre und Wissenschaftler heute die Deutungshoheit in Deutschland.

Warum?
Das rührt noch aus dem großen akademischen Dunstkreis von Helmut Kentler seit Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, dessen Schüler bis heute die vorherrschende Sexualpädagogik prägen. Vermeintlich aufklärerische Pädagogen, die die „Lust des Kindes“ propagierten, aber in Wahrheit pädokriminell agierten, so wie Kentler selbst, haben ihren angekündigten Marsch durch die Institutionen angetreten und inzwischen erfolgreich durchgesetzt. Im Zentrum stehen ideologisch geprägte Ziele der sogenannten ‚Sexualpädagogik der Vielfalt‘ und die frühe Sexualisierung von Kindern, indem diese z.B. zu Masturbation und Doktorspielen angeleitet werden. Stichwort „sexualfreundliche Erziehung in Kitas“. Ältere Kinder und Jugendliche werden mit Pornopraktiken und Sexspielzeug vertraut gemacht oder sollen z.B. einen „Puff für alle“ kreieren, wie das Praxisbuch der Sexualpädagogik der Vielfalt empfiehlt. Vermittelt wird also letztlich das gleiche Paradigma wie das der Pornografie.

Was würden Sie Eltern raten, Frau Freitag?
Eltern müssen sich im Klaren sein, dass das Smartphone in Kinderhänden Pornokonsum sehr wahrscheinlich macht. Insofern ist jedes smartphonefreie Jahr für Kinder ein gewonnenes Jahr. Zudem: Muss es gleich ein eigenes sein? Können sie es sich von den Eltern leihen? Eine Filterschutzsoftware ist das Mindeste. Und das „Aufenthaltsbestimmungsrecht“, das Eltern in der analogen Welt zum Schutz ihrer Kinder ausüben, muss genauso auch für die digitale Welt gelten. Und weil sie natürlich durch andere Kinder damit in Kontakt kommen, sollten Eltern das Gespräch suchen, ihren Kindern Brücken bauen. Nur vier Prozent der Kinder reden – auch bei sehr guter Beziehung – von sich aus mit ihren Eltern darüber. Wir erleben in unserer Prävention mit „Fit for Love?“ in Schulen, wie dankbar Teenager sind, dass endlich Erwachsene Pornografie zum Thema machen. Viele wünschen sich Orientierung, sind durch Bilder von Gewaltsex, ihr Kopfkino, Suchtdruck und ihre ambivalenten Gefühle belastet. Darum ist es wichtig, gesichtswahrend und wertschätzend das Gespräch zu suchen, ohne Schamgefühle zu verletzen. Man darf ihnen nicht die Schuld dafür geben. Es ist unsere alleinige Verantwortung als Erwachsene, dass sie mit einem Klick auf menschenverachtende und gewalttätige Pornografie stoßen können.

Tabea Freitag ist Dipl.-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin (www.tabea-freitag.de). Zusammen mit ihrem Mann hat sie 2008 „Return Fachstelle Mediensucht“ gegründet: www.return-mediensucht.de

Weiterlesen: Tabea Freitag: Fit for Love - Prävention von jugendlichem Pornografiekonsum (Return), www.fit-for-love.org

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