Sandra Hüller: Räumt ab
Wenn beim Filmfestival in Cannes die Goldene Palme vergeben wird, steht der Regisseur für gewöhnlich allein auf der Bühne und nimmt die Auszeichnung entgegen. In
diesem Jahr war das alles anders: Auf die Bühne ging mit Justine Triet eine Regisseurin (nach Jane Campion und Julia Ducournau erst die dritte Frau in der 76-jährigen Geschichte des Festivals, die den Hauptpreis erhält) – und sie ging nicht allein nach vorn. Triet holte ihre HauptdarstellerInnen mit ins Rampenlicht, allen voran Sandra Hüller, die den ausgezeichneten Film „Anatomie eines Falls“ über weite Strecken allein auf ihren Schultern trug.
Sie spielt darin eine erfolgreiche Schriftstellerin, die des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt wird. Im Prozess muss sie sich Verhöre gefallen lassen, die ihren Charakter aufgrund ihrer bisexuellen Orientierung und ihrer künstlerischen Arbeit in Zweifel ziehen. Ist sie eine schlechte Mutter, weil sie ihren Beruf nicht aufgab? Scheiterte ihre Ehe, weil sie eine Affäre mit einer Frau hatte? Hüller arbeitet in ihrem Spiel die Ambivalenz dieser Figur heraus, wirkt manchmal spröde, fast schroff in ihren Antworten auf die Angriffe vor Gericht. Immer schimmert unter dieser Schroffheit aber die große emotionale Aufgewühltheit durch, die man Frauen so gern als Schwäche auslegt. Diesen Kampf zwischen Rationalität und Gefühl präsentiert Hüller mit großer Authentizität, wie all ihre Figuren.
Die Bandbreite ihrer Darstellungskunst zeigte ein weiterer Film, der prompt den zweiten Platz errang: „The Zone of Interest“ vom Briten Jonathan Glazer. Hüller spielt darin die Frau des Auschwitz-Kommandanten Höß, die sich vor den Mauern des Konzentrationslagers eine idyllische Familienwelt aufgebaut hat. Diesen Charakter ging sie von außen an. Empathie mit den Tätern wäre falsch, das verlangt der Film weder vom Publikum noch von seinen Darstellern. Hüller versuchte sich also vorzustellen, „wie sich eine Frau bewegt, die so viele Kinder bekommen hat, oder welche Spuren die körperliche Arbeit bei ihr hinterlassen hat.“ Sie setzt das mit schweren Schritten und steifen Schultern um. Man mag diese Frau so wenig, wie man mit der erfolgreichen Schriftstellerin vor Gericht mitgelitten hat.
Was ihre Auftritte beim Filmfestival, auf dem roten Teppich, bei Presseterminen und Interviews, vor allem offenbarten: Diese Frau spielt nicht nach den Regeln des Betriebs – und ist trotzdem erfolgreich wie kaum eine andere. Hüller lächelt nicht zuckersüß vor den Fotografen, will keine perfekte Projektionsoberfläche für Fans sein, lehnt es ab, sich für Luxuskleider auf Größe 34 herunterzuhungern. Wenn sie Interviews gibt, wird die Mutter einer Tochter gern politisch, spricht über Gender Pay Gap und die ungerechte Aufteilung von Care Arbeit und empört sich über die Debatten über das Recht auf Abtreibung. Sie hat den Mut, nicht gefallen zu wollen und setzt stattdessen komplett auf ihr Talent, auf ihre harte Arbeit und eine sehr überlegte Rollenwahl.
1978 in Thüringen geboren, spielte Hüller nach dem Studium an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch schnell Hauptrollen an renommierten Theaterhäusern, gab die Medea, die Julia, das Gretchen, und fand Gefallen am Film. 2006 gewann sie gleich für ihren zweiten Langfilm den Silbernen Bären für ihre Rolle in „Requiem“, sie verkörpert darin eine junge Frau mit Epilepsie, die in ihrem religiösen Elternhaus in Süddeutschland nach einer Teufelsaustreibung stirbt. Da war sie gerade 27 Jahre alt und erkannte: „All die Jahre habe ich Mädchen gespielt, die am Ende sterben, die sich verletzen oder verrückt werden.“ Dabei seien echte Frauen viel komplexer, und nach solchen Rollen suchte sie fortan und fand sie etwa in Maren Ades „Toni Erdmann“ (als in Ehrgeiz- und Selbstoptimierungsschleifen gefangene Unternehmensberaterin) oder in Frauke Finsterwalders „Sisi“, in dem sie die Hofdame mit dem ihr eigenen Humor spielt. Bei einer Körpermusterung wird ihr die Frage
gestellt, ob sie denn turne („Am Barren? Am Reck?“). Die Hofdame nickt geflissentlich und antwortet: „Ach ja, das mach ich eigentlich ständig.“