Till Lindemann: Alles wie immer... ?

Foto: Sebastian Dammark/Gonzales Photo/IMAGO
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Es ist also – erwartbar - ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Denn, wie gewohnt, ballerten Lindemanns Anwälte mit „Einstweiligen Verfügungen“ und „Gutachten“ von Experten, die das Gewünschte lieferten: Dass es so war – oder vielleicht auch ganz anders.  Eines allerdings beginnt sich 50 Jahre nach Aufbruch der Frauenbewegung – und damit der Thematisierung der sexuellen Gewalt – zu ändern: Die Medien, allen voran die Leitmedien, berichten in diesem Fall anders. Scheinbar plötzlich und über Nacht. Hier ein gutes, ermutigendes Beispiel: ein Kommentar von Spiegel-Autor Arno Frank. Ja, Spiegel. Siehe da.

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Mit neun Jahren soll Till Lindemann, so erzählte es einmal sein Vater, folgendes Gedicht auf einen Nussknacker verfasst haben: „Er knackt ganz einfach jede Nuss/Und die nicht will/Muss“. In diesen Zeilen ist, wenn man so will, schon der ganze Lindemann enthalten – vom schlichten Reim über die holpernde Metrik bis zum, sagen wir, eher gelassenen Verhältnis des „lyrischen Ichs“ zu körperlicher Gewalt.

Auf Anhieb dürften vom Laien diese schlichten Zeilen stilistisch kaum von den Gedichten des erwachsenen Lindemanns und seinen Songtexten für Rammzigen Unterschied, dass man im Lichte neuerlicher Vorwürfe dem „Nussknacker“ eher eine sexuelle Ebene zuweisen würde. Rein symbolisch, versteht sich.

An der Verwunderung über die aktuellen Vorwürfe verwundert, dass alle Welt sich plötzlich zu wundern vorgibt. Sprechen wir etwa vom selben Künstler, dem wir Refrains wie „Ich will ficken“, Songtitel wie „Bück dich“ und lyrische Betrachtungen der segensreichen Auswirkungen von „Rohypnol im Wein“ verdanken („Ich schlafe gerne mit dir wenn du schläfst/Wenn du dich überhaupt nicht regst/Mund ist offen/Augen zu“)?

Ein Künstler, der als Videoclip zu seinem Song „Till The End“ erst 2020 einen Fetisch- und Gewaltporno präsentierte, der heute nur noch auf einschlägigen Internetseiten für Fetisch- und Gewaltpornos zu besichtigen ist? Doch nicht der Lindemann?

Der Lindemann.

Die Frage ist nicht (und auch noch nicht geklärt), ob sein Verhalten kriminell oder einfach nur unmoralisch war. Sondern, wie die anscheinend misogyne Praxis so lange vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten werden konnte. Der Verdacht liegt nahe, dass sie schon immer in der Öffentlichkeit versteckt gewesen ist. In plain sight ist das beste Versteck, das sich denken lässt.

Zugutehalten könnte man Lindemann, seine Dämonen nie auch nur versuchsweise zum Geheimnis gemacht zu haben. Er führt sie, im Gegenteil, ohne Leine spazieren. Und lebt genau davon. Zugutehalten könnte man demnach aber auch einem Exhibitionisten, dass er in manchen Situationen eben keine Anstalten macht, seine Blöße zu bedecken. Dafür braucht es nicht nur Nerven, sondern auch die richtigen Voraussetzungen.

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Erstens geht’s „nur“ um Rockmusik, yeah, und da gehört der stellvertretende Grenzübertritt seit jeher zur Folklore. Das ist der erste Verteidigungsring. Leute, die mit dem RAMMSTEIN-Aufkleber im Heckfenster ihres Seat zur Arbeit fahren und es dabei bewenden lassen, die Anlage voll aufzudrehen.

Zweitens mögen gerade wir Deutschen unsere wahren Weltstars gerne am Rand des Wahnsinns. Oder wirklich irre, wie Klaus Kinski, mit dem sich Lindemann neben den großen und unendlich traurigen Augen offenbar auch den Hang zu dunklen Begierden teilt. Was sich mit den Erwartungen einer Welt deckt, die den Deutschen noch immer am liebsten in der Rolle des Wahnsinnigen sieht. Lindemann hat diese globale Nachfrage mit der faschistoiden Ästhetik seiner Band bestens bedient. Das ist der zweite Verteidigungsring. Im Grunde ging es, wie übrigens beim benachbarten Schriftsteller, Popstar und Pornokollegen Michel Houellebecq, auch im Kern immer nur darum: „Ich will ficken!“

Drittens, und das ist nicht leicht, braucht es fürs Verstecken in aller Öffentlichkeit eine kleine Armee kluger Gewährsleute, die von der öffentlichen Beteuerung leben, das sei alles rein symbolisch gemeint. Die meinen das auch so. Es ist dies der dritte und solideste Verteidigungsring. Leute also, die bestenfalls mit akademischen Arbeiten darüber aufwarten können, was es mit der „Intertextualität“ und der „Symbolik“ des Offensichtlichen auf sich hat, welche Bezüge es zu Brecht, Schiller und Micky Mouse gibt. Ein professionelles Bescheidwissertum also, das alles Offensichtliche hinter einer Nebelwand aus Exegesen verschwinden lässt. Und gerne erklärt, wie genau des Kaisers schlangenlederne Kleider ihrer Meinung nach beschaffen sind.

Es scheint, dass sich der Nussknacker auf diese Weise bisher recht behaglich in einem sehr privaten Raum verbarrikadieren konnte. In einer originellen Mischung aus Projektionsfläche, „Safe Space“ und Gummizelle.

ARNO FRANK

Der Artikel erschien zuerst im SPIEGEL.

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