Angehörige auf den Barrikaden
"Ich zähle die Minuten. Nicht die Stunden, nicht die Tage, sondern die Minuten, während ich darauf warte, dass Agam, die am 7. Oktober von Hamas-Terroristen entführt wurde, nach Hause zurückkehrt.“ Das sagt Meirav Berger, Mutter der 19-jährigen Agam, die seit mehr als sechs Monaten von der Hamas als Geisel gehalten wird.
Es gibt wohl kaum einen israelischen Menschen, der Agams Gesicht nicht kennt. Ihr Gesicht auf dem „Bring them home now“-Poster, die Hand nachdenklich ans Kinn gelegt. Ihr Gesicht aus dem Instagram-Video, in dem die 19-Jährige „Hallelujah“ auf der Geige spielt. Ihr Gesicht unter einem Basecap in den Himmel schauend, irgendwo auf einer Wanderung. Und natürlich ihr Gesicht in dem Video, das Hamas-Terroristen am Tag ihrer Entführung von ihr machten: Agam, gefesselt auf dem Boden irgendwo in Gaza sitzend, ihr Mund, ihr Hals, ihr Schlafanzugoberteil, alles blutig, ihr Blick völlig verstört.
Agam Berger ist eine von 14 lebenden israelischen Frauen, die seit dem 7. Oktober in den Händen palästinensischer Terroristen sind. 14 Frauen, die in der internationalen Debatte um den aktuellen Krieg zwischen Israel und der Hamas kaum eine Rolle spielen.
Als Ende Januar 2024 Pramila Patten, Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten, Israel besuchte und die Opfer der sexuellen Übergriffe vom 7. Oktober aufforderte, „ihr Schweigen zu brechen“, sorgte das in Israel für Wut. Welches Schweigen? Seit dem 7. Oktober sind doch alle Informationen verfügbar. Die Hamas-Terroristen haben ihre Grausamkeiten mit Go-Pro-Kameras live in die Welt übertragen. Später stellte sich heraus: Die Terroristen, die in die israelischen Dörfer in der Nähe des Gazastreifens eingedrungen waren, verfügten über Handbücher mit Anweisungen zur Vergewaltigung von Frauen vor ihrer Ermordung. Viele Frauen wurden sexuell missbraucht, ihre Genitalien wurden verstümmelt.
ZeugInnen und Videomaterial belegen, dass die sexuelle Gewalt systematisch war
Etwa 300 Frauen wurden schon am 7. Oktober ermordet. Internationale Medien, von der New York Times bis zum Spiegel, haben in den letzten Wochen anhand von zahlreichen Zeugenaussagen, Bild- und Videomaterial, umfassend belegt, dass die sexuelle Gewalt und Verstümmelung am 7. Oktober systematisch war. Das sagen auch palästinensische Terroristen, die am 7. Oktober dabei waren und festgenommen und verhört wurden. Hinzu kommen unzählige Zeugenaussagen bereits freigelassener israelischer Geiseln, die bezeugen, dass die Vergewaltigungen für die Frauen in Geiselhaft weitergehen. Eine der weiblichen Geiseln, die Rechtsanwältin Amit Soussana, hat es als erste gewagt, ausführlich über die ihr angetane sexuelle Gewalt zu sprechen. Während sie an einen Fensterrahmen gekettet war, habe einer ihrer Bewacher sie immer wieder „begrapscht“. Einmal habe er sie „ins Schlafzimmer gezerrt“ und mit vorgehaltener Waffe gezwungen, einen „sexuellen Akt“ an ihm vorzunehmen. Während ihrer zweimonatigen Geiselhaft sei sie außerdem immer wieder gefoltert worden.
Das „Schweigen“, von dem die UN-Beauftragte Patten spricht, betrifft nicht die israelischen Frauen. Es betrifft Linke wie Rechte, Feministinnen und Menschenrechtsorganisationen und beruht nicht auf einem Mangel an Beweisen. Es geht darum, dass die Opfer Israelis sind. Und Israelis nimmt die Welt als Täter wahr.
Umso mehr, da der jüdische Staat auf die Angriffe des 7. Oktobers und die anhaltende Geiselnahme mit einer Militäroperation reagiert, die in Gaza bereits jetzt rund 35.000 Tote forderte und alles in Schutt und Asche legt.
Doch geht es auch darum, dass die Opfer Jüdinnen sind? Denn das große Schweigen begann schon vor dem Bodeneinsatz der israelischen Armee. Es begann direkt am 7. Oktober. Als das Video von der ebenfalls 19-jährigen Naama Levy im Internet kursierte: Als die ganze Welt zusah, wie Hamas-Terroristen sie an ihren Haaren aus dem Kofferraum eines Jeeps zogen. Die Hose im Schritt blutdurchtränkt.
Mehr als fünf Monate hat es danach gedauert, bis sich UN Women zu einer sehr schwammigen Erklärung zu den Sexualverbrechen am 7. Oktober durchringen konnte. Die Vergewaltigungen der Hamas wurden fünf Monate und 41 Sitzungen lang von der UN nicht einmal verurteilt. Es dauerte fünf ganze Monate, bis sich der UN-Sicherheitsrat endlich zu einer Sondersitzung zusammenfand, um die Sexualverbrechen der Hamas gegen Israelis während der Invasion zu erörtern. Fünf ganze Monate bis Pramila Patten einen Bericht über die Gräueltaten aufsetzte.
Dieser Bericht geht allerdings nicht auf die strafrechtlich relevante Frage ein, ob die Taten systematisch begangen wurden, und erklärt nur, dass „das wahre Ausmaß der sexuellen Gewalt am 7. Oktober und ihrer Folgen erst in Monaten oder Jahren aufgedeckt werden“ könne. „Und möglicherweise nie vollständig bekannt sein wird.“ Die „Informationen“ in dem vorgestellten Bericht, betonte Patten, seien keine „Beweise“, die beispielsweise vor Gericht verwendet werden könnten.
Das Bedenklichste an dem UN-Bericht Pattens ist die Pressekonferenz dazu. Die beginnt Patten mit einigen Worten darüber, wie problematisch und schwierig die Sammlung von Beweismitteln war. Danach erklärt sie, dass es trotz alledem eine starke Beweislage dafür gebe, dass Geiseln in Hamas-Gefangenschaft Vergewaltigungen, sexuelle Folter und ähnliches erleben, betont jedoch gleichzeitig, dass dies keine „weiteren Feindseligkeiten legitimiere“, sondern „eine moralische Notwendigkeit für einen humanitären Waffenstillstand schaffe“. Das Ziel, so Patten, sei nicht „ein Krieg ohne Vergewaltigungen“, sondern „eine Welt ohne Krieg“.
Die Frauen wurden unter Jubel wie Trophäen durch die Straßen Gazas geschleift
Die vergewaltigten Israelinnen, die schwerverletzten, ermordeten Frauen, die am 7. Oktober durch die Straßen Gazas geschleift und vorgeführt wurden wie Trophäen, werden so zu einer Art Randnotiz. Am Ende der Pressekonferenz meldet sich noch eine amerikanische Journalistin, die fürchtet, der Bericht könne als Waffe gegen die Palästinenser genutzt werden. Nicht einmal auf die Instagram-Seite von UN Women hat der Bericht es geschafft. Prominente wie Angelina Jolie oder Michelle Obama, sonst immer lautstark da, wo Frauen Unrecht geschieht, sagen keinen Ton. Und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International wollen sich bis heute zu dem Thema nicht äußern.
Geschlechtsspezifische Gewalt ist keine Seltenheit in Kriegen. Israelische Frauen sind nicht die ersten, die dieses Grauen erleben. Die massenhafte Vergewaltigung von Frauen ist nicht einfach nur eine Nebenerscheinung von bewaffneten Konflikten, es ist eine im Voraus geplante bewusste militärische Strategie. Die Verbrechen sollen innerhalb der Zivilbevölkerung für Angst und Schrecken sorgen, den Gegner demütigen, den inneren sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft schwächen (wie Feministinnen schon vor Jahrzehnten thematisierten, Anm. d. Red). Umso mehr dann, wenn Frauen nicht nur vergewaltigt oder ermordet werden, sondern wenn sie entführt und über lange Zeiträume als Sexsklavinnen missbraucht werden. Das passiert in der Ukraine, im Sudan, im Kongo, in Nigeria, in so vielen bewaffneten Konflikten. Angezweifelt wird es aber in diesem Ausmaß nur in Israel.
In Israel sitzt der Schock darüber tief. Die Verarbeitung in Zeiten, in denen der Krieg weitergeht, ist schwierig. Die langfristigen Auswirkungen auf die Psyche des Volkes ist noch nicht absehbar. Man versucht, sich derweil auf konkrete, praktische Fragen zu konzentrieren. Auf die Frauen, denen vielleicht noch geholfen werden kann. So wird aktuell diskutiert, wie man mit den gefangengehaltenen Frauen umgehen soll, die schwanger nach Israel zurückkehren. Berichte von befreiten Geiseln haben nicht nur die anhaltenden Vergewaltigungen von jüdischen Gefangenen bestätigt, sie bezeugen auch, dass bei einigen Frauen bereits die Periode ausgeblieben sei. Abtreibungen sind in Israel legal, in bestimmten Fällen auch noch nach der 24. Schwangerschaftswoche, sie müssen allerdings von einem Gremium genehmigt werden. Für zurückkehrende, potenziell schwangere israelische Geiseln soll diese Regelung vereinfacht werden.
Nur müssten sie dafür erst einmal zurückkehren.
Dass die Hamas viele der vor allem noch jungen Frauen, die seit dem 7. Oktober in ihrer Gewalt sind, nicht zurückgeben will, läge auch daran, so die öffentliche Meinung in Israel, dass sie deren Zeugenberichte fürchten.
Für all das gibt es umfassende, voneinander unabhängige Beweise. Aber die Hamas leugnet die Vergewaltigungen bis heute. Und Millionen Menschen tun es mit ihnen. Die von der MeToo-Bewegung geprägte Forderung „Believe all women“ scheint für Israelinnen nicht zu gelten. Die Kampagnen „Me too unless you’re a Jew“, „Believe Israeli women“, die vom israelischen Dvora Institut eingerichtete Civil Commission und die Sisyphusarbeit Dutzender Influencer und Persönlichkeiten, darunter u. a. die ehemalige Facebook-Chefin Sheryl Sandberg, werden fast ausschließlich von jüdischen bzw. israelischen Frauen angeführt. Jüdische Frauen überall auf der Welt wissen, dass sie alle mit diesen Vergewaltigungen gemeint waren. Jüdische Frauen sind es, die traumatisiert wurden. Jüdische Frauen sind es, die nun auch noch den Krieg um die Wahrheit über diese Verbrechen führen müssen.
Und währenddessen zählen die Angehörigen der israelischen Frauen, die immer noch in den Händen von palästinensischen Terroristen sind, die Minuten. Tag für Tag müssen sie mit dem Gedanken leben, dass ihre Töchter, Schwestern, Cousinen nur 70 bis 80 Kilometer entfernt vergewaltigt werden.
KATHARINA HOEFTMANN CIOBOTARU
Die Autorin ist freie Journalistin und Schriftstellerin. Von ihr erschien zuletzt der Roman „Frei“ (Ecco-Verlag). Sie lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv.