Der Westen hat seine Werte verloren!
1976 prophezeiten Sie aufgrund demografischer Daten den Zusammenbruch der Sowjetunion. Welche Rolle spielt die Demografie im Krieg in der Ukraine?
Emmanuel Todd Zum Beispiel in Bezug auf die Erkenntnis der Zunahme der Kindersterblichkeit. Als Putin an die Macht kam, ging die Kindersterblichkeit rapide zurück. Heute ist die Kindersterblichkeit in den Vereinigten Staaten höher als in Russland. Nicht Russland – Amerika steckt in der Krise. Alle Zeitungen schreiben: Der Westen ist normal und Putin geisteskrank. Die Russen sind blutrünstige Monster. Die Demografie sagt etwas anderes: Russland ist stabiler und seine Gesellschaft zivilisierter geworden. Was in Russland passiert, ist mir völlig klar. Ich verstehe Putins Denken und Handeln und kann es in drei Minuten erklären. Die Russen sind brutal und rational, sogar ihre Lügen sind quasi vernünftig.
Sie sprachen vor ein paar Tagen von der „westlichen Irrationalität“.
Das Verhalten des Westens ist für mich ein einziges Rätsel. Die Zeitungen erzählen uns, wie die Russen auf Gefängnisse schießen, die sie besetzt haben. Dass sie Atomkraftwerke beschießen, die sie vor Ort kontrollieren. Dass sie Pipelines in die Luft jagen, die sie selber gebaut haben.
Wer ist für die Sabotage von Nord Stream verantwortlich?
Natürlich die Amerikaner. Aber das ist völlig unwichtig. Es ist normal. Wichtig ist die Frage: Wie kann eine Gesellschaft glauben, dass es die Russen gewesen sein könnten? Wir haben es hier mit einer Umkehrung der möglichen Realität zu tun. Das ist viel schlimmer. Ich verweigere mich dem herrschenden Realitätsverlust, unter dem vor allem die Europäer leiden, und will versuchen, ihn zu verstehen. Eine meiner Hypothesen ist der Zusammenbruch der protestantischen Welt.
Der Realitätsverlust unterscheidet Europa von den Russen?
Auch von den Amerikanern, die sehr wohl wissen, was sie tun. Ihre Vorstellung von Macht ist klar und zynisch. Zur Durchsetzung ihrer Interessen haben sie immer wieder Kriege geführt – auch angezettelt. Sie können Putin sehr wohl verstehen. Auch die Russen sprechen von Machtverhältnissen, aber ihre Sprache ist defensiv. Die Europäer schwadronieren von Frieden und der Verbreitung ihrer humanistischen Werte ohne Armee. Das geopolitische Denken ist ihnen abhandengekommen. Zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen befinden sich die Europäer in einem atemberaubenden Zustand der geistigen Verwirrung. Das gilt ganz besonders für Deutschland.
Wie erklären Sie sich ihre Verwirrung? Mit Schuldgefühlen und dem Bemühen, in diesem dritten Weltkrieg auf der guten Seite zu stehen?
Nein. Nein! Ganz und gar nicht. Ich habe sehr viel Mitgefühl mit den Deutschen. Deutschland ist ein Land, das sich vom Krieg losgesagt hat. Ein Land praktisch ohne Armee. Das so wenig Kinder zeugt, dass seine hauptsächlichste Sorge darin besteht, Arbeitskräfte für die Erhaltung seiner Industrie ins Land zu holen. Es interessiert sich nur für die Wirtschaft. Seine Logik war: Russland liefert Gas, unsere beiden Länder sind komplementär. Und seit 1945 sorgt Amerika in einer Welt, für die wir keine Bedrohung mehr sein wollen, für unsere Sicherheit. Aus dieser durch und durch rationalen Überlegung heraus entstand das Projekt Nord Stream. Es ging darum, die von der Ukraine und Polen erhobenen Abgaben zu umgehen. Deutschlands Tragödie besteht darin, dass es noch immer daran glaubt, von den Vereinigten Staaten beschützt zu werden.
Und das ist nicht mehr der Fall?
Die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gemacht, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa wurde und damit auch ein Rivale der USA. Bis 1989 war es politisch ein Zwerg. Nun ließ Berlin seine Bereitschaft erkennen, sich mit den Russen einzulassen. Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie. Dass sie das Gas-Abkommen torpedieren wollten, hatten die USA stets deutlich gesagt. Der Ausbau der NATO in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Russland gerichtet, sondern gegen Deutschland. Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner.
Und die Ukraine?
Es ist schrecklich, was der Ukraine angetan wird. Sie war nie wirklich das Problem. Am Anfang ging es darum, die europäische Wiedervereinigung unter deutscher Vorherrschaft zu vereiteln. Die geostrategischen Beziehungen belegen es. Die Wahrheit der NATO sieht so aus: Sie besteht aus der Achse Washington–London–Warschau–Kiew. Deutschland und Frankreich sind heute ihre Juniorpartner, mit ihrer vorherrschenden Stellung in Europa ist es vorbei. Die Polen und die Ukrainer beschimpfen und beleidigen permanent die Deutschen.
Wie meinen Sie das?
Die Deutschen wollten nicht in den Krieg. Scholz, der mir ein sehr vernünftiger Mensch zu sein scheint, wurde kritisiert, weil er sich nicht engagieren wollte. Krieg ist grauenhaft, scheußlich, ekelhaft, schrecklich. Die Deutschen wissen nur zu genau, dass Nord Stream von den Amerikanern zerstört wurde. Durch eine gemeinsame militärische Aktion der Amerikaner, Briten und Polen. Gegen Deutschland. Aber sie können es nicht sagen. In Tat und Wahrheit sind die Deutschen von den Amerikanern angegriffen worden. Man wollte sie vom russischen Gas abkoppeln.
In jeder Kriegsrede verhöhnt Putin den Niedergang der westlichen LGBT-Zivilisation. Auch das ist nicht besonders rational.
Die Art und Weise, wie sich die LGBT-Thematik in die rhetorische Kriegsführung eingemischt hat, ist in der Tat sehr bemerkenswert. Der Westen wirft den Russen Homophobie vor, und die Duma reagiert mit noch strengeren Gesetzen gegen die LGBT-Propaganda. An dieser Front wird der Bruch zwischen dem Westen und dem Rest der Welt deutlich sichtbar. Dem Rest der Welt sind die westlichen Werte und seine Demokratie gleichgültig, gegen seine moralischen Lektionen verwahrt er sich. Der Krieg in der Ukraine interessiert ihn nicht.
Das heißt, die moralische Beurteilung dieses Kriegs führt in die Ausweglosigkeit?
Ich unterschätze die Bedeutung der Moral keineswegs. Ich hasse den Krieg. Ich wollte ihn nicht kommentieren, weil ich mich nicht besonders kompetent oder gar berufen fühle, ethische Werte zu predigen. Allerdings wünschte ich mir, dass die Deutschen begreifen würden: Die Seite des Guten, auf der sie stehen möchten, ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden! Aber als Historiker analysiere ich ihn ohne Sentimentalität. Und da stellt sich die Frage: Wer wird gewinnen?
Und – Ihrer Ansicht nach?
Mit Weltkriegen ist es immer dasselbe: Es kommt völlig anders, als man denkt. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren alle überzeugt, dass er sehr schnell vorbei sein würde. Diesmal herrschte die Vorstellung von den übermächtigen Russen. Völlig unerwarteterweise hat die ukrainische Armee dem Angriff standgehalten – dank der westlichen Unterstützung. Die Sanktionen wurden in der Überzeugung erlassen, dass sie Russland in die Knie zwingen würden. Aber seine Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Gegenüber dem Dollar hat der Rubel seit Ausbruch des Kriegs um 23 Prozent zugelegt, 36 Prozent gegenüber dem Euro. Inzwischen stellt sich nicht mehr die Frage, ob die russische Wirtschaft widerstehen kann, sondern die europäische. Darum rede ich so wenig über die Ukraine. Dabei ist mir der Preis, den die Ukraine bezahlt, sehr wohl bewusst. Die Zerstörung des Landes. Die Toten und Verletzten. Das Leben im Krieg ist fürchterlich. Es ist zunehmend ein Zermürbungskrieg, ein Abnutzungskrieg.
Wie steht es um die industrielle Stärke und Reserven der Russen?
Der Krieg macht das fundamentale Problem der Amerikaner bewusst: Es fehlt ihnen an Ingenieuren. In den USA werden 7 Prozent der Studenten zu Ingenieuren ausgebildet. In Russland sind es 25 Prozent. Der Westen hat die Russen völlig unterschätzt, sein intellektuelles Defizit ist erschreckend.
Putin und die Russen sind intelligenter?
Gegen den Krieg im Irak hatten Chirac, Schröder und Putin in einer gemeinsamen Pressekonferenz protestiert. Seither hat Amerika das erreicht, was man auf Deutsch die „Gleichschaltung“ Europas nennt. Der Rest der Welt aber hält es mit Russland. Als es kommunistisch war, verbreitete es Angst und Schrecken. Es war atheistisch, imperialistisch. Heute steht Russland für eine konservative Weltsicht und verteidigt die Souveränität der Völker und Nationen, die alle ein Recht auf Existenz haben.
Außer der Ukraine.
Putin hatte verlangt, dass in den russischsprachigen Gebieten die Sprache respektiert wird. Und er wollte, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt. Dieser Krieg hätte vermieden werden können.
Niemand hat Putin zum Überfall gezwungen.
Deutschland und Frankreich sind mitverantwortlich. Man war ständig in Kiew. Europa träumte von seiner Ausdehnung nach Osten, in die Ukraine. Ausgelöst hat die russische Reaktion die militärische Aufrüstung, Ausbildung und „Beratung“ der ukrainischen Armee. Wenn die NATO darauf verzichtet hätte, die Ukraine zu einem Teil ihres militärischen Dispositivs zu machen, hätte es diesen Krieg nicht gegeben.
Und jetzt ist es ein Weltkrieg.
Wenn Russland überlebt, den Donbass und die Krim behält, wenn seine Wirtschaft weiterhin funktioniert und es seine Handelsbeziehungen neu gestalten kann – mit China und Indien –, dann hat Amerika den Krieg verloren. Deshalb werden Amerika und die NATO weitermachen. Und darum handelt es sich um einen Weltkrieg, der andauern wird. Seine hauptsächlichste Ursache ist die Krise des Westens. Durch den Krieg ist Deutschland, die führende europäische Wirtschaftsmacht, wieder zu einem verängstigten, bevormundeten Protektorat geworden.
Wie sehen Sie die Welt von morgen?
Der Westen hat seine Werte verloren und befindet sich in einer Spirale der Selbstzerstörung. Europa gerät wieder unter die amerikanische Herrschaft. Wegen seiner schwachen Demografie wird nicht China die Welt beherrschen, sondern Indien zur Supermacht aufsteigen. Russland ist im Begriff, sich als kulturell konservative, in technischer Hinsicht fortschrittliche Großmacht neu zu bestimmen. In der Ukraine führen sie gegeneinander Krieg. Wenn er nicht gestoppt wird, werden ihn alle verlieren.
Jürg Altwegg führte das Interview. Es erschien zuerst in der Schweizer Weltwoche. EMMA veröffentlicht Auszüge.
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