Alice Schwarzer schreibt

Brauchen wir noch Feminismus?

Alice Schwarzer mit EMMA-Leserinnen beim Abonnentinnen-Fest 2023. - Foto: Bettina Flitner
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MicroMega (italienische linke Theoriezeitschrift) fragt mich, was für mich „die grundlegenden Themen des Feminismus heute“ seien und was „das Patriarchat für mich heute" bedeutet. Bemerkenswert finde ich bei dieser Frage das „Heute“. Es kann doch niemand im Ernst glauben, dass das (mindestens) 5.000 Jahre alte Patriarchat in 50 Jahren Neuer Feminismus entmachtet werden kann?! Die grundlegenden Themen des Feminismus heute sind die von gestern - aber sie sind leider nicht von gestern. Es sind gewaltige Fortschritte gemacht worden, aber gleichzeitig dräut ein gewaltiger Backlash.

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Thema Nr. 1: Die Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder. Gewalt ist der dunkle Kern jeder Herrschaft, zwischen den Welten, den Klassen oder den Geschlechtern. Zwar haben wir, dank feministischer Aufklärung, inzwischen ein öffentliches Wissen um die Existenz der meist sexualisierten Gewalt, hinter verschlossenen Türen wie im öffentlichen Raum. Aber deswegen ist die Gewalt nicht weniger geworden, vielleicht sogar mehr. Denn in Zeiten der Infragestellung der herrschenden Macht steigt das Bedürfnis der Machthaber nach Festigung der guten alten Verhältnisse. Mit Gewalt.

Wir müssen davon ausgehen, dass mindestens jede dritte Frau Opfer von sexueller Gewalt ist, vom Missbrauch bis zur ehelichen oder Gruppenvergewaltigung. Der frühe Missbrauch ist eine Brechung, die meist lebenslang nicht ganz überwunden werden kann. Und die Frauen, die Gewalt (noch) nicht erlebt haben, wissen, dass es passieren könnte. Kurzum: Frauen sind das gefolterte Geschlecht.

Thema Nr. 2: Das Schlachtfeld Körper. Vom Abtreibungsverbot über die Pornographie bis zu Schönheitsoperationen. Der Spielraum ist nicht kleiner geworden, sondern größer. Eine Minderheit der Frauen erlaubt sich „männliche“ Freiheiten. Aber die Mehrheit lässt sich von der Propaganda verführen und verinnerlicht ihre eigene Entwertung. So lassen Frauen sich bei der Ausübung ihres Rechtes auf den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft heute wieder von dem schlechten Gewissen beunruhigen. So folgen Frauen Modediktaten, die ihre Bewegungsfreiheit einschränken und ihrem Körper schaden (High Heels). So lassen Frauen sich vom Diktat der ewigen Jugend einschüchtern und entstellen ihre lebendigen Gesichter zu Botox-Masken. So leugnen Frauen ihre Individualität und machen sich via Operationen zu Karikaturen einer sogenannten „Weiblichkeit“.

Thema Nr. 3: Geld. Ja, da gibt es einen gewissen Fortschritt. Die berufliche Teilhabe der Frauen ist größer geworden – aber ihre häuslichen „Pflichten“ sind nicht kleiner geworden. Und sie werden so manches Mal immer noch schlechter bezahlt für die gleiche Leistung. In der Summe weniger verdienen sie jedoch vor allem wegen ihres „Frauenlebenslaufes“: ein familienkompatibler Beruf, die Familienpause für Kinder, Teilzeitarbeit. Das alles führt zu einem ökonomischen Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und viele Frauen geradewegs in die Altersarmut. Für Spitzenposten zahlen Frauen in der Regel den Preis der gänzlichen Anpassung an eine männergeprägte Welt. Der Quoten-Feminismus kann nicht alles sein. Es geht schließlich nicht nur um Teilhabe am Bestehenden, sondern auch um dessen Veränderung Richtung Menschwerdung aller und Humanität.

Thema Nr. 4: Liebe. Das Patriarchat, das sind nicht nur die Männer, das sind auch willfährige Frauen. Auch nach drei Generationen neuer Feminismus sind längst nicht alle Frauen bereit, die Unbillen der Emanzipation auf sich zu nehmen. Aus Angst vor Liebesverlust fordern Frauen die Männer nicht genug. Zu viele neigen noch dazu, um jeden Preis geliebt und begehrt werden zu wollen. Sie geben ihren Namen und ihr Leben auf. Aus Liebe. Sie wollen die Hälfte der Welt, aber wagen nicht, ihn einzufordern für die Hälfte des Hauses. Aus Liebe. Sie stecken klaglos Verachtung und Gewalt weg. Aus Liebe.

Thema Nr. 5: Macht und Männlichkeitswahn. In den Bereichen der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Macht sind Frauen nur in kleinen Schritten vorangekommen. An der Spitze stehen weiterhin Männer. Was nicht verwunderlich ist in Anbetracht der Zeitspanne von 50 Jahren gegen 5.000 Jahre. Und in der Regel schaffen sie das auch nur um den Preis der weitgehenden Anpassung an bestehende Verhältnisse. In Deutschland rufen heute Frauen wie die grüne Außenministerin Baerbock oder die liberale Abgeordnete Strack-Zimmermann noch lauter nach immer mehr Waffen für die Ukraine statt Friedensverhandlungen als die Männer und schüren so den Krieg.

Im Weltmaßstab schließlich schlägt der religiöse Fundamentalismus zu, für den die Religion nur ein Vorwand ist, und der den Glauben in Geiselhaft nimmt. Diese erzpatriarchalen Fundamentalisten entrechten die Frauen wieder total, Gewalt gegen Kinder und Frauen ist bei ihnen die Norm. Führend ist im religiösen Fundamentalismus weltweit zurzeit der politische Islam, der Islamismus. Ihm auf dem Fuße folgt der christliche Fundamentalismus, angetrieben von den Dollars der amerikanischen Evangelikalen. Es folgt der jüdische Fundamentalismus, der nur einen Vorteil hat: Er missioniert nicht, sondern quält nur sein eigenes Volk.

Ist es das, was wir wollten?

Nein! Wir feministischen Pionierinnen wollten – und wollen! – die Welt nicht nur erobern, sondern auch verändern. Wir streben nach sozialer Gerechtigkeit, zwischen den Klassen und Welten wie zwischen den Geschlechtern. Wir kämpfen gegen den Missbrauch von Macht und für Frieden. Denn der Krieg ist der höchste Ausdruck der Machtausübung und die stärkste Perversion des Patriarchats. Der radikale Feminismus ist untrennbar mit dem Pazifismus verbunden.

Was also ist heute neu?

Neu ist die immer weiter fortschreitende Globalisierung und sind die Sozialen Medien mit den erhöhten Gefahren der raschen und weltweiten Propaganda. Neu ist ein Postfeminismus, der sich immer stärker vom Alltag der Menschen, vom Wesentlichen entfernt und in den letzten Verästelungen verheddert. Zum Beispiel die gegenderte Sprache. Ja zu einer Sprache, in der nicht nur das männliche Prinzip, sondern auch das weibliche präsent ist! Nein zu einer Sprache, die mit ihren * und _ nicht mehr gesprochen werden kann.

Oder diese immer abstruser werdende Transdebatte. Darin werden penetrant biologisches Geschlecht und kulturelle Geschlechterrolle, sex and gender, gleichgesetzt. Geschlecht wird scheinbar beliebig. Doch es gibt nun mal nur zwei biologische Geschlechter, das ist eine wissenschaftliche Evidenz. (Und es ist beunruhigend, dass wir in Zeiten leben, in denen Ideologien über die Realität gestellt werden. Auch von etablierten Parteien und seriösen Medien.) Aber es gibt viele Geschlechterrollen. Dass die nicht gebunden sind an das biologische Geschlecht, war zuvörderst eine feministische Erkenntnis. Frauen können Kinder kriegen, Männer können Kinder zeugen. Das ist der einzige fundamentale Unterschied (abgesehen von einigen medizinisch relevanten körperlichen Unterschieden). Aber weil Frauen Kinder gebären können, sind sie noch lange nicht zur Mutter geboren. Und weil Männer keine Kinder gebären können, sind sie noch längst nicht unfähig zur Mütterlichkeit (sprich Versorgung, Einfühlsamkeit, Verantwortung).

Es gibt allerdings eine extreme Minderheit von Menschen, die so verstört ist über ihren Geschlechtskörper, dass sie sich im „falschen“ Körper wähnt und alles dafür riskiert, in den „richtigen“ wechseln zu können. Die sind zwischen die Räder des Geschlechterdiktates geraten. Rein biologisch geht so ein Geschlechtswechsel zwar nicht, aber Körper können mit Hormonen und Operationen dem anderen Geschlecht „angeglichen“ werden. Ich persönlich setze mich seit genau 40 Jahren öffentlich dafür ein, dass das möglich ist. Dass Menschen, die echt transsexuell sind, ohne Diskriminierung ihren Personenstand ändern können.

Doch das Phänomen, mit dem wir jetzt zu tun haben, ist etwas ganz anderes. Mal abgesehen von der Frage, was „eine richtige Frau“ bzw. „ein richtiger Mann“ überhaupt sein soll, abgesehen davon haben wir es in der ganzen westlichen Welt mit dem Trend zu tun, dass die Zahl vor allem der Mädchen und jungen Frauen, die sich für „transsexuell“ halten, rasant steigt. Es ist nicht schwer, zu erkennen, warum. Die Rolle der Frauen war noch nie verwirrender als heute. Zum einen suggeriert man ihnen, sie hätten alle Rechte und Freiheiten. Gleichzeitig aber zwängt man sie in ein Rosa-Tüll-Korsett, das ihnen jede Freiheit raubt. Dagegen rebellieren sie.

Doch statt ihnen zu antworten, dass man biologisch eine Frau sein kann, sich aber trotzdem alle „männlichen Freiheiten“ nehmen , einfach Mensch sein kann, suggeriert man ihnen: Wenn du keine „Frau“ bist, dann bist du eben ein Mann. Von der einen Schublade in die andere. Binärer, rückständiger geht es nicht!

Die allgegenwärtigen Transpropagandisten erreichen in Deutschland vermutlich bald ein Gesetz, nach dem jeder Mensch beim Standesamt erklären kann, er sei in Wahrheit das andere Geschlecht. Und das nach einem Jahr immer wieder neu. Ohne Recht der Therapeuten und Mediziner auf Rückfragen nach den Gründen oder gar den Versuch einer Therapie. Was vor jedem anderen so schweren Eingriff eine Selbstverständlichkeit wäre. Das gilt jetzt als fortschrittlich, als „selbstbestimmt“, ist aber nur verantwortungslos. Dabei nehmen solche Ideologen in Kauf, dass dieser Schritt für die meisten Transitionierenden lebenslange Hormongaben und operative Eingriffe nach sich zieht. Gesunde Körper werden krank gemacht. Und Pharmaindustrie und Ärzte verdienen daran.

Menschen, die als Männer geboren wurden und nun Frauen sein wollen, leugnen ihr bisheriges Leben als Männer, man soll unter Androhung von Strafen ihren „Deadname“ nicht mehr nennen dürfen – also nicht sagen, dass sie zunächst ein Männerleben geführt haben. Aber genau das ist es doch, was Männer zu Männern und Frauen zu Frauen macht: Nicht die Biologie, sondern ihr Männer- bzw. Frauenleben. Letzteres kann zum Beispiel in Afghanistan das Leben kosten, ist aber auch in unseren Breitengraden noch ein kleiner Unterschied mit großen Folgen.

Nun schreibe selbst ich schon über Seiten und Seiten über diese abstruse Transdebatte. Doch deren tieferer Sinn ist ja tatsächlich die Negierung bis hin zur Abschaffung der Frauen. Und damit auch der Frauenfrage. Das gilt auch für das Verhältnis von Rassismus und Sexismus. Der berechtigte Kampf gegen den Rassismus wird einfach zur Hauptsache erklärt, auf Kosten des Kampfes gegen den Sexismus. Das ist wie früher, als der Klassenkampf der Hauptwiderspruch war und der Geschlechterkampf der Nebenwiderspruch. Dass das ein schlechter Scherz ist, das sollte nach 50 Jahren neuer Feminismus eigentlich klar sein. Nein, die Unterdrückung der Hälfte der Menschheit, der Frauen, ist und bleibt die Mutter aller Unterdrückungen. Ohne ihre Abschaffung werden auch die vielen anderen Widersprüche und Machtverhältnisse nicht ernsthaft ins Wanken geraten.

ALICE SCHWARZER

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