Tragödie für die ganze Menschheit
In Akira Kurosawas Episodenfilm „Akira Kurosawas Träume“ explodiert ein Kernkraftwerk in der Nähe des Fujiyama. Der Vulkan ist feuerrot, über die Erde ziehen Wolken von Plutonium-239, Strontium-90 und Cäsium-137. Die Menschen trinken Tee, reden über ihre Angelegenheiten, küssen sich – sie wissen noch nicht, dass sie alle zum Tode verurteilt sind. Der unsichtbare Tod kriecht in ihr Blut, in ihr Gehirn, in ihren Körper. Nur Eingeweihte – einige wenige Atomphysiker – kennen die Wahrheit. Einer von ihnen greift nach seiner Aktentasche voller technischer Unterlagen und rudert in einem Boot hinaus auf den Ozean, um sich umzubringen, aus Reue.
An diesen Film musste ich denken, als ich von dem Erdbeben in Japan und der nicht abreißenden Reihe von Havarien in japanischen Atomkraftwerken erfuhr.
Der Mythos vom Atom hatte nicht gelitten, der Schock war schnell vorbei
Dank der neuen Kommunikationsmittel verfolgen wir die japanische Tragödie in Echtzeit. Alles geschieht unmittelbar vor unseren Augen. Als widerfahre es uns selbst. Die Angst vor dem Atom hat die Welt schrumpfen lassen. Die alten Kategorien wie „das Eigene“ und „das Fremde“, „Distanz“ und „Nähe“ funktionieren nicht mehr.
Jeder erinnert sich daran, dass die radioaktiven Wolken aus Tschernobyl am vierten Tag über Afrika und China hingen. In Europa kaufen die Menschen jetzt Geigerzähler und Jodtabletten, die die Aufnahme von Radioaktivität blockieren sollen. Alle sitzen unablässig vor dem Fernseher. Die Nachrichtenprogramme wirken wie Kriegsberichte.
Wir stehen vor der Frage: Ist das eine Tragödie nur für Japan – oder für die ganze Menschheit? Hat die Katastrophe unsere Vorstellung von der Stabilität der Zivilisation ins Wanken gebracht? Und von der Gültigkeit unserer Werte? Nur die Angst kann uns etwas lehren.
Die erste atomare Lektion war Tschernobyl. Schon in der Bibel gibt es eine Warnung vor Tschernobyl. Aber Tschernobyl wurde auf den Totalitarismus zurückgeführt. Auf die Unvollkommenheit sowjetischer Kernreaktoren, die technologische Rückständigkeit, die Schlamperei und den überall zur Normalität gewordenen Diebstahl in Russland.
Der Mythos vom Atom selbst hatte nicht gelitten. Der Schock war schnell wieder vorbei. Radioaktivität tötet nicht sofort, und wenn jemand nach fünf Jahren Krebs bekommt, interessiert das niemanden mehr. Aber es existiert eine von unabhängigen russischen Umweltschützern erstellte Statistik, die verschwiegen wird: in der Folge von Tschernobyl sind 1,5 Millionen Menschen gestorben.
Das Problem ist das Verhältnis zwischen Mensch und Technologie
Und nun die zweite atomare Lektion: Havarien in nicht nur einem, sondern gleich in elf japanischen Reaktoren. Den Namen Fukushima kennt heute die ganze Welt, genau wie Tschernobyl. Er steht nun in einer Reihe mit Hiroshima und Nagasaki. Das militärische und das friedliche Atom haben sich als Komplizen erwiesen, beide töten gleichermaßen. Die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt erweist sich als machtlos gegen das „friedliche Atom“. Gegen die entfesselten Naturgewalten.
Innerhalb weniger Stunden – nein, Minuten! – hat der Tsunami ganze Städte in den Ozean geschwemmt. Vom Fortschritt blieb nur der Schutt des Fortschritts übrig. Ein Friedhof der Trugbilder des Fortschritts. Und der für „erstklassig“ gehaltene Schutz der Atomreaktoren erwies sich bei einem Erdbeben der Stärke 9 als Kinderkleidchen. Als Babystrampler.
Das Problem ist also nicht die Gesellschaftsordnung – Kommunismus oder Kapitalismus – sondern ist das Verhältnis zwischen dem Menschen und den Technologien, die er einsetzt. Es klingt paradox: Je höher entwickelt die Technologie, desto schlimmer die Katastrophen – aber genau so ist es heute. Die Einwohner von Haiti, Chile und Neuseeland hatten Glück, dass sie kein „gezähmtes“ Atom besitzen.
Vor einigen Jahren habe ich das japanische Atomkraftwerk Tomari auf der Insel Hokkaido besucht. Zuerst sah ich es vom Hotelfenster aus – es wirkte wie ein an der Küste gelandetes UFO, so perfekt waren seine Formen. Und es war weiß wie die Flügel der Möwen.
Die Menschen, die im Atomkraftwerk arbeiteten, fühlten sich wie Demiurgen. Wie Herrscher. Sie fragten mich nach Tschernobyl. Hörten mir zu und lächelten mitfühlend. Und sagten, bei ihnen sei so etwas unmöglich. In ihr Kraftwerk könne ein Flugzeug stürzen, es könne das schlimmste Erdbeben der Stärke 8 aushalten. Doch diesmal hatte das Erdbeben zum ersten Mal die Stärke 9 erreicht. Der moderne Mensch möchte sich nicht eingestehen, dass seine Macht nicht unbegrenzt ist.
Der Mensch möchte sich seine begrenzte Macht nicht eingestehen
Auch in Frankreich bekam ich zu hören: „Unsere Atomkraftwerke sind absolut sicher.“ Ebenso in Amerika. Und in der Schweiz. Und der russische Physiker Alexandrow, der Vater der sowjetischen Atomenergie, schrieb, die sowjetischen Reaktoren seien so ungefährlich wie ein Samowar. Man könne sie sogar auf den Roten Platz stellen. Neben den Kreml.
Ich erinnere mich an meine ersten Fahrten in die Tschernobyl-Zone: Am Himmel kreisten Dutzende Hubschrauber, über die Straßen donnerten Militärfahrzeuge, sogar Panzer. Soldaten mit Maschinenpistolen waren unterwegs. Auf wen sollten sie schießen? Auf die Physik? In der Nähe des brodelnden Reaktors liefen die Wissenschaftler lange Zeit in ihrer normalen Kleidung herum. Ohne Schutzmasken. In Tschernobyl dachten die Menschen noch nicht in den Dimensionen von Tschernobyl. Sie verhielten sich wie im Krieg.
Vor meinen Augen wurde der Vor-Tschernobyl-Mensch zum Tschernobyl-Menschen. Um ihn herum gab es eine neue Welt. Und einen neuen Feind. Der Tod hatte auf einmal viele unbekannte Gesichter. Man konnte ihn nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen. Es gab nicht einmal Worte, die hätten ausdrücken können, wie sich die Menschen plötzlich vor dem Wasser, dem Boden, den Blumen und Bäumen fürchteten. Weil das dem Menschen noch nie widerfahren war. Alles schien wie gewohnt – die Farben, die Formen, die Gerüche – und alles konnte töten. Eine unbekannte vertraute Welt. Kilometerweise wurde die verstrahlte oberste Bodenschicht abgehoben und in Betoncontainern begraben. Erde wurde in der Erde begraben. Begraben wurden auch Häuser, Autos … Straßen wurden gewaschen, Brennholz …
Die Liquidatoren erörterten auf den morgendlichen Sitzungen ganz sachlich: „Das wird zehntausend Menschenleben kosten …“ – „Das zwanzigtausend …“ Und trotzdem kamen sie dort zusammen. Freiwillige. Wer kann danach noch behaupten, Atomenergie sei am billigsten?
440 AKWs sind weltweit in Betrieb. Genug für den Welt-
untergang.
Bis heute sind auf der Welt 440 Atomreaktoren in Betrieb, in fast 30 Ländern. In den USA 103, in Frankreich 59, in Japan 55, in Russland 31. (In Deutschland 17, Anm. der Red.) Genug für den Weltuntergang. Zwanzig Prozent der Atomkraftwerke stehen in erdbebengefährdeten Gebieten. In Weißrussland, das am stärksten unter der atomaren Katastrophe gelitten hat, wurde mit dem Bau eines neuen Atomkraftwerks begonnen, und zwar an einem Ort, wo es vor 100 Jahren ein Erdbeben der Stärke 7 gegeben hat. Davon zeugen noch heute metertiefe Gräben. Der Bau des weißrussischen Atomkraftwerks ist eine enorme Belastung für die Bevölkerung, die niemand um ihr Einverständnis gebeten hat. Gebaut wird das AKW von Russland. Bei der Vertragsunterzeichnung erklärte Putin, dieses Atomkraftwerk würde sicherer sein als die japanischen AKWs. Russland versinkt in Öldollars und plant den Bau Dutzender „kleiner Tschernobyls“ im Ozean – schwimmender Atomkraftwerke. Sie sollen an Indonesien und Vietnam verkauft werden.
Da kommt mir unwillkürlich der russische Dichter Chlebnikow in den Sinn, der von einer Weltregierung träumte.
Es liegt etwas Mystisches darin, dass am Tag der japanischen Katastrophe das wichtigste Ereignis auf dem amerikanischen Markt der Verkaufsstart der neuen Version des iPads sein sollte, der unter den Apple-Anhängern geradezu eine Hysterie auslöste. Von Spitzentechnologien erwartet der Mensch heute immer mehr Komfort. Und der Markt investiert nur in Dinge, die sofort Gewinn abwerfen. Unser Konsum wächst beständig, und eben das nennen wir Fortschritt. Auch die Perfektion von Tötungswerkzeugen ist Fortschritt.
Ich habe über die Vergangenheit geschrieben, sie hat sich als Zukunft erwiesen
Fragen Sie die Tschernobyler, die an den Folgen der Radioaktivität sterben, fragen Sie die Japaner, die wie durch ein Wunder die jetzige Katastrophe überlebt haben, fragen Sie die Angehörigen der Getöteten nach ihren Bedürfnissen, danach, wie sie sich Fortschritt vorstellen. Was würden sie wählen – einen neuen mobilen Computer, ein Auto oder das Leben?
Man sollte meinen, nach Hiroshima und Nagasaki, nach Tschernobyl würde die Zivilisation einen anderen Weg gehen – ohne Kernkraft. Wir müssen aus dem Atomzeitalter aussteigen. Andere Wege suchen. Noch aber leben wir mit der Tschernobyl-Angst: Land und Häuser ohne Menschen, Felder werden wieder zu Wäldern, in menschlichen Behausungen leben Tiere. Hunderte toter elektrischer Leitungen und Hunderte Kilometer Straßen ins Nichts.
Ich habe über die Vergangenheit geschrieben, aber sie hat sich als Zukunft erwiesen.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Der Text ist das aktuelle Vorwort zu dem 1997 erschienenen, großartigen Buch: "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft" (Bloomsbury, 9.99 €)