Kanada: Suche nach dem Glück!
Ich betrete das Zukunfts-Labor an einem Sommertag. Das Labor heißt Kanada und es ist fast 10 Millionen Quadratkilometer groß. Das Experiment gilt in vielen Teilen der Welt als unerhört, wenn nicht lebensgefährlich: Es heißt Feminismus.
Das Land wird seit über zwei Jahren von einem Mann regiert, der etwas ausprobiert, was vor ihm noch kein Staatschef getan hat. Er hat die Frauenrechte zum Leitmotiv erklärt. Die Rede ist von Justin Trudeau, der gerne immer wieder laut verkündet: „I am a Feminist!“ Kanada gilt als eines der glücklichsten Länder der Welt – aber gilt das für die kanadischen Frauen genauso wie für die kanadischen Männer? Ich habe zwei Monate Zeit, das herauszufinden. Meine Forschung beginnt in Toronto, Kanadas Metropole am Ontariosee.
Toronto ist so, wie man sich Kanada vorstellt: weltgewandt, offen, sympathisch, hip und auch ein bisschen schrullig. Hier kann man in die Häuserschluchten von Downtown genauso eintauchen wie in Viertel mit Namen wie Little Italy, Little Portugal, China Town oder Kensington Market. „Wir sind schließlich alle Einwanderer“, diesen Satz hört man häufig, die KanadierInnen sind berühmt für ihre „Openness“. Es ist gar nicht einfach, hier eine Frau zu finden, die nicht mit dem Feminismus sympathisiert. „Sag mal, stimmt es, dass es bei euch in Deutschland ein extra Wort für schlechte Mütter gibt?“, fragt mich eine Wirtschaftsjournalistin. Ja, gibt es. Die Rabenmutter.
Aber in Toronto explodieren auch die Mietpreise und wer hier eines der hübschen viktorianischen Häuschen kaufen will, zahlt Millionen. Alle, die sich das nicht leisten können, werden aus der Stadt herausgedrängt. Frauen kann das ganz besonders treffen, welche alleinerziehende Mutter soll das bezahlen? Die Zahl der Obdachlosen ist auffällig hoch, und es sind häufig Schwarze oder Indigene, die auf der Straße hocken und betteln.
Die Metropole Toronto ist mit einer Fläche von 630 Quadratkilometern kleiner als Hamburg. Bleiben weit über neun Millionen Quadratkilometer Kanada übrig. Trudeau muss für alle Politik machen: für moderne StädterInnen im frankophonen Montreal im Osten genauso wie für die im anglophonen Vancouver im Westen; für die ArbeiterInnen in den Ölstädten in Alberta wie für die LandwirtInnen, die in den Weiten Manitobas die Maisfelder bestellen. Und nicht zu vergessen für die indigenen Communities, sprich: für die First Nations, für die Métis als Nachkommen von europäischen Siedlern und indigenen Frauen und für die Inuit ganz nördlich im arktischen Nunavut.
In Kanada leben rund 18 Millionen Frauen. In der Cafeteria der Rotman School of Management in Torontos Universitäts-Viertel treffe ich eine Frau, die sich mit dem Leben der Kanadierinnen auskennt: die Wirtschaftsprofessorin Beatrix Dart. Sie hat die Initiative for Women in Business initiiert.
In Kanada läuft es nicht viel anders als in Deutschland: „Hier sind zwar 80 Prozent der Frauen berufstätig, aber eine große Zahl arbeitet nur in Teilzeit, weil die Frauen gleichzeitig noch den Haushalt schmeißen und die Kinder groß ziehen“, erzählt Dart. Die Folgen sind bekannt. 26 Prozent beträgt laut Statistics Canada der unbereinigte Gender Pay Gap (Deutschland: 22 Prozent). Die Ursachen für die Einkommensschere liegen auch in Kanada in der Erwerbsbiografie. Zwar machen inzwischen mehr Kanadierinnen einen Hochschulabschluss als Kanadier (41 zu 29 Prozent) – aber sie arbeiten in schlechter bezahlten Dienstleistungsberufen, in der Pflege oder Bildung. Die in Kanada wirtschaftlich relevante Großindustrie – sprich die Rohstoffförderung von Öl und Gas, die Fischerei oder das Baugewerbe – sind zu 80 bis 90 Prozent männlich besetzt. Überall auf der Welt das gleiche.
Und so manche Kanadierin hängt auch immer noch an der „romantischen wie konservativen Vorstellung, dass der Mann sie bis an ihr Lebensende versorgen sollte“, sagt Dart. Trudeau platzt mit seiner progressiven Geschlechter-Politik also mitten in eine Gesellschaft hinein, die eine moderne Schale hat, aber einen konservativen Kern, geprägt von der Ära Stephen Harper. Unter dessen konservativen Partei stand in den Jahren 2006 bis 2015 das Recht auf Abtreibung genauso unter Beschuss wie die gerade erst legalisierte Homo-Ehe, Harper galt als unnahbar und kühl.
Justin Trudeau ist das Gegenteil, das erlebe ich auf dem ersten kanadischen Women in the World Summit in der Art Gallery of Ontario. Die US-Journalistin Tina Brown hat ihren Frauengipfel aus dem Trump-Land nach Kanada exportiert. Und der Premierminister ließ es sich nicht nehmen, auf dem Gipfel aufzutreten. „Ein paritätisches Kabinett trifft einfach bessere Entscheidungen“, sagt Trudeau mit warmer und ruhiger Stimme. Er verspricht für das Freihandelsabkommen NAFTA zwischen Kanada, USA und Mexiko ein Gender-Kapitel, so wie es schon mit Chile ausgehandelt wurde. Und was werden die Männer dazu sagen? Ja, die werden „einen Teil ihrer Macht verlieren, wenn wir Frauen fördern wollen“, sagt der erste Mann des Landes. Eine Macht, die sie ja ohnehin „zu Unrecht haben“, fügt er hinzu.
„Woher hatte dein Vater denn seine feministische Seite?“, will Tina Brown vom Sohn des früheren kanadischen Premierministers Pierre Elliott Trudeau wissen. Sohn Justin lacht, etwas unsicher. „Ich weiß nicht, ob wir ihn unbedingt einen Feministen nennen sollten ...“, antwortet er. „Er hat mir alles über Gerechtigkeit beigebracht – aber seine Ansichten waren dennoch sehr old school.“
Justin, ältester von drei Söhnen, hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass seine Mutter Margaret Sinclair Trudeau sein „role model“ in Sachen Frauenrechte war. Sie war 22 Jahre alt, als sie den 30 Jahre älteren Trudeau Senior 1971 heiratete. Das Leben als First Lady hatte die erklärte Feministin immer als „Gefängnis“ empfunden – die Fotos von ihr auf Partys im New Yorker Studio 54 landeten in der Klatschpresse. Später erst machte Margaret öffentlich, dass sie manisch-depressiv ist. Dass Sohn Justin heute so empathisch mit Frauen umgeht, hat auch damit zu tun, dass er die Schattenseiten eines Frauenlebens gut kennt.
Justin Trudeau ist mit der Fernsehmoderatorin Sophie Grégoire verheiratet, die beiden haben zwei Söhne und eine Tochter. Den Deutschen ist vermutlich die Landung der Trudeaus beim Hamburger G-20 Gipfel im Gedächtnis geblieben: Justin und Sophie spielten mit Sohn Hadrien Engelchen flieg. Von Stufe zu Stufe: Uuuund hop!
In der Art Gallery of Ontario endet der Auftritt des jungen Staatschefs auf dem Frauengipfel mit einem Showdown. Der Premierminister verlässt die Bühne nicht nach hinten, wo die Sicherheitsleute auf ihn warten. Nein, Trudeau schreitet nach vorn, mitten in sein Publikum hinein. Er schüttelt Hände, lässt sich umarmen, macht Selfies. Er wird gefeiert wie ein Popstar. Und er lässt sich feiern.
Doch Trudeaus Brandreden für den Feminismus, die er mit einer gewissen Regelmäßigkeit hält, sorgen bei den Kanadierinnen häufig nur noch für müdes Schulterzucken. Die liberale Regierung hat Halbzeit und die Frauen werden ungeduldig. Trudeau hat ihnen viel, vielleicht zu viel versprochen. „Er kümmert sich nur um sein Image und handelt zu wenig“, lautet die einhellige Antwort auf die T-Frage. Junge wie ältere Frauen, Queere, MigrantInnen und Indigene, also genau die, die in Trudeau die größte Hoffnung gesetzt haben, scheinen enttäuscht.
Ist das Feminismus-Experiment gescheitert? Im Netz gibt es eine Seite, die „TrudeauMeter“ heißt. Sie misst, was der Premier versprochen und was er eingelöst hat. Das Maß schwankt. Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat zur Mitte des Jahres eine 29-seitige Analyse der Fortschritte in Sachen Frauenrechte unter Trudeau vorgelegt und schreibt diplomatisch: „Die liberale Regierung hat mehrere wichtige Schritte eingeleitet, aber ihre mutige feministische Rhetorik ist noch nicht ausreichend in politische Entscheidungen und in finanzielle Investitionen übersetzt worden.“
„Because it’s 2015!“ lautete Trudeaus lässiger Satz, mit der er seine Entscheidung begründete, das Kabinett paritätisch zu besetzen. Seine Regierung hat seither mit einem Analysetool namens „Gender Based Analysis Plus“ alle Politikbereiche auf Geschlechtergerechtigkeit hin durchleuchtet – und in diesem Jahr erstmals einen Haushaltsplan vorgelegt, der ein eigenes „Gender-Budget“ enthält. Und während die US-Amerikanerinnen um ihre Zukunft unter Ober-Macho Trump bangten, ernannte Trudeau im Januar 2017 eine erklärte Feministin zu seiner Außenministerin: Chrystia Freeland, zuvor Handelsministerin.
Doch das kanadische Kabinett mag zur Hälfte mit Frauen besetzt sein, das kanadische Parlament hat mit 27 Prozent einen Frauenanteil, der niedriger ist als in Deutschland (31 Prozent). Der moderne Vater Justin Trudeau hat zwar gerade erst die Elternzeit reformiert – bleibt damit aber immer noch weit hinter Ländern wie Schweden zurück. Mit Ausnahme der Provinz Quebec gibt es in Kanada bislang keine Vätermonate.
Die Liberalen haben unter Entwicklungsministerin Marie-Claude Bibeau zwar mit der „Feminist International Assistance Policy“ die Frauenrechte zum Maßstab ihrer Entwicklungszusammenarbeit erklärt; samt 650 Millionen kanadische Dollar, die über drei Jahre in die Aufklärung über Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung in Entwicklungsländern investiert werden sollen. Dennoch ernten sie scharfe Kritik für ihre Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien. Oxfam klagt: „Die Regierung kann sich nicht glaubhaft für globale Frauenrechte einsetzen, solange sie weiter Waffen an Länder verkauft, die diese dann benutzen, um gegen Oppositionelle und gegen die Rechte von Frauen vorzugehen.“
Und dann ist da noch der schwelende Konflikt mit Quebec. Der frankophone Teil Kanadas hegt seit Jahrzehnten Unabhängigkeitsbestrebungen. In Montreal treffe ich junge, moderne Quebecois, die sich eine größere Unabhängigkeit wünschen. Und eine größere Wertschätzung ihrer Kultur. Und es gibt noch einen Streitpunkt, der sich verschärft. In der Provinz Quebec ist seit diesem Herbst die Verhüllung des Gesichts in Ämtern, Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln verboten, also auch: das Tragen eines Niqabs oder einer Burka. Es ist das erste Gesetz dieser Art in Nordamerika. Und es ist kein Zufall, dass es in Quebec erlassen wird. Nachdem die Region jahrzehntelang von der katholischen Kirche unterjocht wurde, ist das Misstrauen in jede Form von religiösem Fundamentalismus hier groß. Gleichzeitig ist die Zahl der MigrantInnen aus den französischsprachigen Maghreb-Staaten hoch. In Kanada leben über eine Million Menschen mit muslimischem Hintergrund. Unter den Minderheitenreligionen ist der Islam derzeit die, die am schnellsten wächst. Was auch wächst, ist der Einfluss der Islamisten. Und was sagt der feministische Premierminister dazu? „Es ist nicht die Aufgabe einer Regierung, Frauen vorzuschreiben, was sie tragen sollen.“ Die Burka, eine Modefrage? Für seine unkritische, pseudo-tolerante Haltung gegenüber dem politisierten Islam wird Trudeau nicht nur von liberalen Musliminnen scharf kritisiert.
Und dann ist da natürlich noch diese eine Sache, an der Trudeaus politische Rolle gemessen wird, wie an kaum einer anderen: die überfällige Aufklärung der Morde an weit über tausend indigenen Mädchen und Frauen. Nachdem diese systematischen Frauenmorde in Kanada jahrzehntelang schlicht geleugnet wurden, hatte Trudeau 2015 als erster kanadischer Premier versprochen, sich gezielt um die Aufklärung zu kümmern.
Und es sind ja nicht nur die indigenen Frauen, die unter einem „kaputten System“ leiden, wie The Globe and Mail den Umgang von Kanadas Justiz mit (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen bezeichnet. Kanada habe zwar ein sehr „fortschrittliches Sexualstrafrecht“, aber es wird nicht angewendet, konstatiert die Tageszeitung. In einer 20-monatigen Recherche hatte eine Reporterin zusammen mit einem Team aus DatenjournalistInnen Datensätze von 870 Polizeistationen auf den Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt analysiert. Ergebnis: Eine von fünf Anzeigen wird fallengelassen, gilt also als „unfounded“, weil der Polizist dem Opfer nicht glaubt. Die Trudeau-Regierung hat versprochen, 100 Millionen kanadische Dollar zu investieren, um eine nationale Strategie gegen sexualisierte Gewalt zu entwickeln.
„Die Hälfte der Frauen in Kanada haben seit ihrem 16. Lebensjahr mindestens einmal eine Form von körperlicher oder sexueller Gewalt erlebt“, erklärt auch die Canadian Women’s Foundation. Entsprechend groß war der Zorn der Kanadierinnen, als der Polizist Michael Sanguinetti bei einem Vortrag in der Osgoode Hall Law School in Toronto 2011 erklärte, dass „Frauen es doch einfach vermeiden sollten, sich wie Schlampen anzuziehen, wenn sie nicht zu Opfern werden wollen.“ Das war die Geburtsstunde der Slutwalks, die bald weltweit antraten. „It’s a dress, not a yes!“ stand da auf den Plakaten, oder einfach nur: „Nein heißt Nein!“
In seiner Geburtsstadt findet der Slutwalk immer noch statt – wenn auch in deutlich kleinerem Ausmaß. Und der Ton ist auch ein anderer. „Sexwork is real work!“ brüllen die rund hundert DemonstrantInnen im Barbara Hall Park an der Church Street, mitten im Schwulen- und Lesbenviertel der Stadt.
Der Slutwalk war in Kanada – ganz wie in Deutschland – von Anfang an mit der Pro-Prostitutionslobby verbandelt. In diesem Jahr war Maggie’s Toronto das erste Mal offizieller Partner der Schlampenmärsche, eine Pro-Prostitutions-Organisation vergleichbar mit Hydra in Berlin. Berlin ist rund 6.500 Kilometer weit weg, aber an diesem regnerischen Nachmittag im August fühlt es sich für mich so an, als läge Berlin gleich nebenan.
Kanada hat sich von diesen Stimmen nicht beeindrucken lassen und vor drei Jahren unter den Konservativen die Freierbestrafung eingeführt – zur Freude von Bridget Perrier. Sie hat in Toronto die Beratungsstelle Sextrade101 mitgegründet. Die Ex-Prostituierte ist eine der Schlüsselfiguren, der die Freierbestrafung in Kanada zu verdanken ist.
Als ich nur wenige Tage vor meiner Abreise zurück nach Deutschland mit meiner Vermieterin Laura-Louise in Toronto im Park sitze, fragt sie mich, warum die Europäerinnen eigentlich so Trudeau-fixiert seien, Deutschlands Staatschefin hätte ja schließlich „sogar eine Vagina“. „Na ja, mit Merkel und den Frauen ist das manchmal auch nicht so einfach ...“ setze ich zu einer Antwort an – und in diesem Moment fällt mir eine Parallele zwischen den beiden auf. Justin Trudeau wird in Kanada von Kritikern als „Justine“ mit den „schönen Haaren“, also als zu weiblich und deshalb inkompetent verunglimpft; Angela Merkel wird zu wenig Weiblichkeit angekreidet. „Das“ Merkel tönt es hinter vorgehaltener Hand oder „wie ein Mann“ klagen manche. Beide StaatschefInnen brechen also mit der Geschlechterrolle.
Ich verlasse das Zukunfts-Labor an einem Herbsttag. Beim Einsteigen ins Flugzeug frage ich mich: Sind die Kanadierinnen denn jetzt glücklich? Läuft Trudeaus Feminismus-Experiment? Die Antwort lautet: Jein.
Alexandra Eul
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