Ihre Leichen im Keller
Kaum eine ist von Kunst und Politik so vereinnahmend interpretiert und psychologisiert worden wie das „nette Mädchen“ aus der New Yorker Mercer Street. Die seit Anfang der 80er Jahre mit steigendem Ruhm bedachte Cindy Sherman hat den postmodernen Wortschwall schweigend an sich abprallen lassen und weitergearbeitet. Einer ihrer raren lakonischen Kommentare lautet, dass sie sich eben „mit Bildern viel besser ausdrücken kann als mit Worten“. Für manches gibt es ja auch (noch) keine Worte. Doch jetzt hat Sherman ihren Bildern Worte beigegeben, wenn auch nur wenige. Auch in ihrem ersten Film „Office Killer“ sprechen vor allem die Bilder. Da sehen wir die hippe und zynische, die menschen- und vor allem frauenverachtende Welt einer New Yorker Zeitungsredaktion, in der unter dem Druck von Massenentlassungen die Spannung zur Hysterie eskaliert. Nur die Redaktionssekretärin, die graumäusige, piepsstimmige Dorine scheint gelassen zu bleiben. Scheint. Denn sie fängt in aller Heimlichkeit an, ihre KollegInnen zu killen. Der erste ist der Schmierling vom Dienst, und zwar aus Versehen aber nicht zufällig; die folgenden aus Spaß an der Sache. Dorine schleppt die Leichen in den Keller ihres Elternhauses, in dem sie noch immer mit ihrer tyrannischen Mutter lebt. Und der Vater? Was mit dem ist, erfahren wir in drei knappen Rückblenden: Der saß einst mit der Tochter auf demselben Sofa, auf dem die heute ihre Leichen drapiert – und was auf diesem Sofa geschah, das wollte die Mutter weder hören noch sehen. Darum blieb Dorine schon damals nichts übrig, als wortlos zu handeln... In diesem so stinknormalen Familienkeller liegen also schon länger einige Leichen begraben, darunter eigentlich auch die von Dorine selbst. Übrigens: Der Film fiel durch bei der amerikanischen Kritik. Ist das nette Mädchen zu deutlich geworden? A.S.
Viele Leute sind erstaunt, dass eine so „nette Person“ wie Cindy Sherman eine berühmte Künstlerin sein kann. Denn seit den frühen 80ern, in denen sie erstmals mit ihren 'Untitled Film Stills' die Aufmerksamkeit der Kunstwelt erregte, konfrontieren uns die Arbeiten Shermans nicht nur mit Everybody’s Darling, sondern auch mit menschlichen Monstern oder verstümmelten Puppen. Dennoch: Zum Jahrtausendwechsel findet sich ihr Name in fast allen Listen großer KünstlerInnen des Jahrhunderts. ARTnews platzierte Sherman mit Jasper Johns und Bruce Naumann in die Top Ten der zeitgenössischen Künstler, und einer der 'Untitled Film Stills', die einst für 50 Dollar das Stück verkauft wurden, brachte letztes Frühjahr bei Christie’s 200.500 Dollar ein.
Das alles scheint Sherman nicht zu beeindrucken. Sie bleibt das nette Mädchen von nebenan. Ja, ja, sie ist 46 und schon lange kein Mädchen mehr. Aber in der Tat neigen sowohl Männer als auch Frauen dazu, sie als ein solches wahrzunehmen, allerdings nicht immer als ein braves Mädchen. Der TV-Journalist Paul Hasegawa-Overacker sagt: „Ich kenne niemanden, der so mit der Faust auf den Tisch haut wie Cindy in ihren Arbeiten.“
Auf die Frage nach den brutalen Bildern in Shermans aktueller New Yorker Ausstellung – den narbenübersäten, verstümmelten Puppen – erklärt Cindy, sie habe „wie jeder weiß“, eine schmerzliche Scheidung hinter sich. Die Puppen kriegen das zu spüren – sonst niemand.
Wer also ist Cindy Sherman? Cindy wurde in Glen Ridge/New Jersey geboren. Als sie drei war, zog ihre Familie nach Huntington Beach auf Long Island, wo ihr Vater als Flugzeugingenieur arbeitete und ihre Mutter als Lehrerin. Sie hatte eine, wie sie sagt, „normale, glückliche“ Kindheit: „Die Sommer waren großartig. Wir haben uns einfach ein Handtuch geschnappt und waren in zehn Minuten am Strand.“ Ihren Vater jedoch beschrieb sie einmal als „Widerling“, als „unsensiblen und um sich selbst kreisenden Mann“, der die anderen hasserfüllt kritisierte. Ihre Mutter, fügte sie hinzu, „schirmte ihn von der Welt ab – und uns von ihm.“
Cindy – getauft wurde sie Cynthia, aber niemand hat sie je so genannt – war das jüngste von fünf Kindern; zwei davon waren bereits erwachsen und zogen aus, als sie auf die Welt kam. Ihre Geschwister erinnern sich, dass Cindy immer viel Zeit allein in ihrem Zimmer verbrachte und sich furchtbar gern verkleidete. Sie hatte einen ganzen Koffer voller alter Kleider, zum Teil von der Großmutter geerbt, mit denen sie sich in eine alte Frau oder eine Hexe oder ein Monster verwandelte – Ballerina oder Glamourgirl wollte Cindy nie sein.
Cindys Geschwister gründeten Familien und führen ein angesehenes Leben – alle außer Frank, der im Alter von 27 Selbstmord beging. Frank war ein Jahr vor seinem Tod zurück ins elterliche Haus gezogen. Das Schulmädchen Cindy stand diesem Bruder in seinem letzten Lebensjahr sehr nah.
Cindy malte und zeichnete von Anfang an immer und überall, erzählen die Geschwister. Ihre besten Noten bekam sie in Kunst, was sie später auch studierte. Am College in Buffalo lernte sie Robert Longo kennen, einen charismatischen älteren Studenten, der sehr viel über moderne und zeitgenössische Kunst wusste. Im Frühjahr ihres zweiten Studienjahres lebte Sherman bereits mit Longo zusammen und machte sich verrückt wegen eines anstehenden Ausflugs mit dem Fotokurs.
Sie erzählt: „Meine Dozentin Barbara Jo fuhr jedes Jahr mit ihrem Kurs zu einem Wasserfall in der Gegend – nicht Niagara, einfach an irgendeinen idyllischen Ort. Dort zogen sich alle aus und machten Fotos. So prüde wie ich war – und immer noch bin – habe ich mich sehr davor gefürchtet! Also beschloss ich, mich mit der Sache auseinanderzusetzen. Ich machte ein Foto von mir, wie ich splitternackt in einem Zimmer der Wohnung stand, die ich mit Robert teilte. Ich sah so verschreckt aus wie ein Tier im Scheinwerferlicht. Danach machte ich mehr Bilder von meinem Körper und verzerrte ihn mittels merkwürdiger Perspektiven. Ich vermute, das war der Beginn der Arbeit mit meinem eigenen Körper.“ Sherman wechselte das Hauptfach, von Malerei zur Fotografie.
Robert Longo eröffnete 1974 mit seinem Freund Charles Clough die 'Hallwalls', einen nicht kommerziellen Ausstellungsraum in einer ehemaligen Eisfirma, und lud Künstler zu Vorträgen und Workshops ein. Sherman machte als Longos Freundin in der Zeit auf die anderen einen stillen Eindruck – aber Eindruck machte sie allemal. Von Zeit zu Zeit tauchte sie nämlich verkleidet zu Ausstellungseröffnungen oder Partys auf: als Lucille Ball oder als schwangere Hausfrau, ausstaffiert mit Klamotten, die sie gern in Billigläden aufstöberte. Sie spielte nie wirklich die Figur, in die sie sich verwandelt hatte, und versuchte auch nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie blieb einfach dieselbe stille Cindy, nur in Verkleidung.
Schließlich ermunterte Longo seine Lebensgefährtin, die Figuren zu fotografieren, in die sie sich verwandelte. 1975 wurden erste Sherman-Fotos veröffentlicht, eine Porträtreihe, in der sie sich mit Hilfe von Make-up verwandelte. „Je mehr sich Cindy von ihrer Kunst packen ließ, desto mehr schaffte sie“, erinnert sich Longo. „Cindy kam mit ihrer Arbeit viel schneller voran als ich.“
Im Sommer 1975 zogen die beiden nach New York, in ein Loft in der Fulton Street, und lebten von ihrem ersten Stipendium. „Cindy ging es in den ersten Monaten sehr schlecht“, erzählt Longo. „Sie zog sich an und schminkte sich und schaffte es dann nicht, aus dem Haus zu gehen.“ Sie bekam bei Macy’s einen Einstiegsjob als Einkäuferin, schmiss ihn aber nach einem Tag wieder hin. Dann wurde sie Empfangsdame des Artists Space. „Der Artists Space sollte ein Ort sein, an dem sich Künstler wohl fühlen, und von Anfang war Cindy sehr beliebt.“
Sherman arbeitete von 1977 bis 1981 in der Galerie. Und auch hier erschien sie manchmal verkleidet – als Krankenschwester in weißer Tracht oder als Sekretärin im 50er-Jahre-Look. Die anderen fanden das abgefahren und witzig. Aber irgendwann hörte sie damit auf, aus Angst, ihre street identity zu verlieren, „die man in New York wirklich braucht“, wie sie sagt.
Eines Tages, es war im Jahr 1978, brachte Cindy ein paar A-4-große Schwarzweiß-Fotos mit. Ihre Kollegen fanden sie sehr originell. Shermans 'Untitled Film Stills' zählen mittlerweile zu den Meilensteinen der modernen Kunst. Zehn Drucke wurden von jedem Bild gemacht. Das Museum of Modern Art ist im Besitz der einzigen vollständigen Reihe – erworben 1996 für vermutlich mehr als eine Million Dollar.
Diese 'Untitled Film Stills' von 1978 umfassen insgesamt 69 Einzelbild-Dramen, in denen Sherman alle Rollen spielt: Die korrekte Büroangestellte, die verschmähte Geliebte, die Tussi, die Heroine des Schwarzweiß-Films, die Vorstadt-Schülerin, die grim- mige Hausfrau. Mit Hilfe von Schminke, Perücken, Kostümen und nur wenigen Requisiten zeigt sie Frauen, die verwundbar sind, sexy, unbeholfen, aufgeweckt, schlampig, pummelig, schlank, tough, kindlich, verbraucht – die ganze Palette, nur Cindy Sherman sieht man nicht. Auch wenn man die Bilder stundenlang studiert, erkennt man sie im Original nicht wieder.
Die Bilder sind so bezwingend, weil Sherman die Figuren nicht spielt, sondern ist: geschaffen aus dem subtilen Zusammenspiel von Gesichtsausdruck, Kleidern, Hintergrund, Licht und der Atmosphäre, die jedem Bild eigen ist. Die meisten Fotos hatte sie selbst gemacht, mit Hilfe eines Draht-Selbstauslösers. Bei anderen wiederum baute sie zwar alles auf, ließ aber Longo oder jemand anderen auf den Auslöser drücken. Ihr Vater, inzwischen Rentner in Arizona, schoss das berühmteste: Das, das sie als Blondine in kariertem Rock und weißen Strümpfen zeigt, die mit ihrem billigen Koffer in der Dämmerung an einer Landstraße steht und wartet. Worauf wohl? Von anderen wurde das Foto 'Die Anhalterin' getauft – Ausgang ungewiss.
In ihrer ersten Einzelausstellung im 'Metro Pictures' zeigte Sherman 1980 eine neue Reihe weiblicher Figuren, die vor Hintergründen posieren, die sie draußen fotografiert und dann in ihrem Studio auf Leinwand projiziert hat. Ein Jahr zuvor hatten Sherman und Longo sich „freundschaftlich getrennt“. Sherman genoss die neue Unabhängigkeit. Sie wollte allein in einem Studio arbeiten, nicht länger von anderen abhängen, die den Auslöser drücken.
Ihre nächste Serie nach den Hintergrundprojektionen war eine Auftragsarbeit für das Artforum. Sherman lieferte mehrere großformatige, fast lebensgroße Bilder von bekleideten Frauen in halbaufgerichteter Pose oder auf dem Rücken liegend. Sie waren kein Erfolg. Politisch engagierte KunstexpertInnen warfen Sherman vor, mit der Darstellung von Frauen in „verletzlichen Posen“ dem feministischen Anliegen zu schaden.
„Mit diesen Bildern wollte ich in der Tat provozieren“, erklärt mir Sherman, als wir einen Katalog mit ihren Arbeiten durchblättern. „Ich dachte allerdings eher daran, Männer dazu zu bringen, ihre Einstellung in Bezug auf Bilder von Frauen zu überdenken. Ich war der Meinung, die Verwundbarkeit trage dazu bei, dass sich der männliche Betrachter unwohl fühlt – wie, wenn er seine Tochter in einer wehrlosen Situation sieht.“ Sie hält bei dem Bild eines im Bett liegenden Mädchens an. Es hat die schwarze Decke bis zum Kinn hochgezogen, die verwischten Züge und das zerzauste Haar werden überflutet von hartem Tageslicht. „Besonders bei diesem hier. – Später verstand ich, dass ich die große Spannbreite von Interpretationsmöglichkeiten bedenken muss.“
Warum gibt Sherman ihren Fotografien Nummern statt Titel? Vermutlich, um nicht zu zu eindeutigen Interpretationen beizutra- gen. Dennoch wurden die 'Untitled Film Stills' immer wieder zur Illustration von Texten verwandt, die sich mit Gender, Identi- tät und dem männlichen Blick befassen. Sherman hatte nichts dagegen, obwohl sie behauptete, noch nie von einem männlichen Blick gehört zu haben. Sie teilt zwar die feministischen Ziele, aber kämpferisches Engagement scheint nicht ihre Sache. Auch Gesprä- che über Kunst langweilen sie, sie geht lieber mit Freunden tanzen.
1982 kam der Durchbruch für die Künstlerin. Die „Centerfolds“-Ausstellung im Metro Pictures brachte ihr Einladungen ins Amsterdamer Stedelijk Museum und zu der Kasseler 'Documenta 7' ein. Im Frühling 1983 folgte die 'Whitney Biennal' und im September der Titel der ARTnews.
Der Erfolg jedoch war Cindy Sherman unangenehm. „Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als Künstlerin akzeptiert zu sein, besonders weil einige Freunde nicht dieselbe Aufmerksamkeit erfuhren.“ Einer dieser Freunde war der Künstler Richard Prince, mit dem sie ein Jahr lang zusammenlebte. Sie trennten sich 1982.
Ihre Reaktion auf den Erfolg: noch härtere und noch provokantere Arbeiten. Zwei Anfragen von Modedesignern nach Shermans Fotos lösten eine wahre Bilderflut aus: komische Verulkungen von Kleidungsstücken und häßliche Frauen mit geschminkten Narben und wütendem oder bedrohlichem Gesichtsausdruck. 'Fairy tales' (Märchen), die nächste Arbeit, zeigt noch alptraumhaftere Szenen: eine Frau mit Schweineschnauze, die im Dreck liegt; ein ertrunkenes Mädchen; eine kniende orientalische Schönheit mit Turban und großen falschen Brüsten und einem schrecklichen Grinsen mit falschen Zähnen.
Sherman arbeitete mit großer Ausdauer und verbrachte lange Tage im Studio. Dann machte sie mehrere Monate, manchmal sogar länger, gar keine neuen Bilder. „Ich weiß, sie muss ehrgeizig sein, denn anders ist so ein Werk nicht möglich“, sagt ihre Galeristin Helene Winer. „Aber sie wusste nie, wer die wichtigen Kritiker oder Sammler waren, und es war ihr auch egal. Ich kenne keinen anderen Künstler, der vergleichbar unkundig oder desinteressiert ist.“
Tatsächlich stand Sherman der überhitzten Kunstwelt der 80er eher misstrauisch gegenüber. Einer Welt voller Opportunisten und – wie sie sie nannte – 'Sammler von Monatsangebots-Kunst', die kauften, was immer ihre Kunstberater rieten. Eine Welt voller männlicher Kunststars wie Julian Schnabel, deren Macho-Schinken bei Auktionen in den frühen 80ern 90.000 Dollar einbrachten, während Shermans Fotografien, die in Ausgaben von jeweils zehn herauskamen, zu 1.000 Dollar das Stück gehandelt wurden. „Irgendwann in den 80ern ist sie, glaube ich, ziemlich wütend auf Schnabel und Salle und mich geworden und hat ein paar wirklich böse Arbeiten produziert, großartige Arbeiten!“, sagt Robert Longo. „Sie schien sagen zu wollen: Leckt mich doch am Arsch!“
Mit dieser 'Disaster'-Serie, wie dieses Werk genannt wird, war Sherman von 1987 bis 1989 beschäftigt. Sie besteht aus erstaunlich abstoßenden Bildern von unechten Körperteilen, vergammelnden Lebensmitteln und auseinandergenommenen Puppen. Auf einigen dieser Bilder, wie in der großformatigen Nahaufnahme von Essen und Erbrochenem, auf der sich ihre entsetzten Gesichtszüge in einer Sonnenbrille spiegeln, ist die Künstlerin erstmalig gar nicht oder nur minimal präsent. Aus der Entfernung betrachtet sind manche dieser Bilder schön, die Details sind im Meer der leuchtenden Farben und im subtilen Spiel mit Licht und Schatten nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Das ist beabsichtigt.
„Es sollte anziehend und abstoßend zugleich sein, wie in der Realität“, sagt Sherman. „Die meisten Modells in den Modemagazinen stoßen mich ab. Als ich mir sie einmal live und aus der Nähe ansah, schienen sie mir so anormal wie jemand mit einem dritten Auge auf der Stirn. Der kleine Kopf und der lange, dünne Körper und die perfekt symmetrischen Züge wirkten einfach bizarr.“
Der kommerzielle Erfolg kam mit Shermans Ausstellung der 'History Portraits' 1989 im Metro Pictures. Sie arbeitete in dieser Reihe wieder mit sich selbst, verwandelt in Renaissance-Kurtisanen und Madonnen, biblische Heldinnen und hochmütige Aristokratinnen aus der Alten Welt, männlich wie weiblich, kostümiert mit Materialien, die aussehen wie Seide und Pelz und Samt und kunstvolle Perücken.
Die Kostüme fertigte Sherman aus Resten von Billigläden, und die Honoratioren wirken alle irgendwie daneben mit ihren falschen Nasen oder Hängebrüsten – aber sie sind auch seltsam überzeugend. Als sie an dieser Serie arbeitete, verbrachte Sherman drei Monate in Rom mit Michel Auder, den sie 1984 heiratete. Sherman hatte prunkvolle, den alten Meistern würdige Rahmen ausgewählt, um ihre Meisterlichkeit und die üppigen Farben hervorzuheben. Die Bilder brachten Preise von 15.000 bis 25.000 Dollar.
Jeder, der sie kennt, hätte vorhersehen können, dass nach diesem Erfolg noch härtere Bilder anstanden. „Cindy, um Himmels Willen!“ Meine Frau und ich sitzen mit Cindy an einem langen Holztisch in ihrem SoHo-Wohnzimmer und sehen uns den Katalog ihrer 'Sex Pictures' von 1992 an. Das aufgeschlagene Bild zeigt eine liegende Figur, deren voneinander gelöste Elemente eine Oma-Gruselmaske mit Perücke, künstliche, am Ellbogen geknickte Arme, ein (nackter) Gummi-Torso und ein abgetrennter Unterleib sind, dessen überdimensionale rote Gummischwamm-Vagina ein Paar Bratwürste beherbergt.
Sherman gibt sich wie immer cool und gelassen. Sie streichelt ihren Dauerbegleiter, den grünen Papagei Frieda, der auf ihrer Schulter hockt und uns dann und wann mit schrillen Schreien unterbricht. Seit dem College, als sie eine Taube geschenkt bekam, hat sie immer einen Vogel. Einmal war es eine erblindete Taube, die ihr beim Frühstück die Eikrümel von den Lippen zu picken pflegte.
Doch zurück zu den 'Sex Pictures': „Ich wollte Bilder mit einer eindeutig sexuellen Aussage machen, mit echter Nacktheit, aber ich wollte nicht selbst nackt sein“, erklärt Sherman in ihrer sachlichen Art. „Da stieß ich auf einen Katalog für medizinisches Zubehör, mit dem Studenten die verschiedenen Körperteile kennenlernen sollen.“ Sherman bestellte sich einen Schwung Gummipuppen aus diesem Katalog, veränderte und zergliederte sie und versah sie mit Requisiten aus ihrem reichhaltigen Fundus. Die 'Sex Pictures' waren in gewisser Weise ihr Beitrag zu der politischen Debatte über Pornographie in der Kunst, aber auch eine Antwort auf Jeff Koons Kopulationsbilder, die Sherman „verabscheut“. Die Reihe erfreute sich – zu Shermans große Erleichterung – nicht annähernd so großer Beliebtheit wie die 'History portraits'.
Nichtdestotrotz regnete es weiter Ruhm und Ehre: 1987 eine Retrospektive im Whitney Museum, 1998 eine zweite große Retrospektive im Museum of Contemporary Art in Los Angeles, ständig steigende Preise, ein Guggenheim-Stipendium und eins von der MacArthur Foundation für geniale Talente. Jede neue Ausstellung ist offenbar eine Herausforderung für Sherman.
Sie fährt fort, die Kritiker zu überraschen, von denen viele mit hilfloser Bewunderung auf ihr Werk reagieren: In ihren Augen hat Sherman die Fotografie erstmalig in der Geschichte auf eine Ebene mit der Malerei und Bildhauerei gehoben.
Doch je berühmter Sherman wird, desto mehr zieht sie sich aus der Kunstwelt zurück. Sie vermeidet Interviews, lehnt TV-Einladungen ab, geht nicht mehr zu Parties und Vernissagen.
Sherman verbrachte viel Zeit in dem Haus, das sie mit ihrem neuen Ehemann Michel Auder bei New York in den Bergen gekauft hatte. Sie kochte, sehr gut natürlich, ging shoppen und bastelte phantasievolle Weihnachtsgeschenke für Freunde. Weil Auder gern Ski fuhr, tat sie es ihm nach. Wie ihre Freundin Janelle Reiring sagt, „war sie wirklich glücklich mit Michel, und er ist lange Zeit großartig mit ihrem Erfolg umgegangen“. Letzten Endes aber war ihr Erfolg wohl doch zu groß. Die Ehe scheiterte. Shermans Arbeitszimmer ist ein langer, an ihr Wohnzimmer angrenzender Raum, in dem ein euphorisches Durcheinander herrscht. Eingebaute Zedernholzschränke und Schubfächer zu beiden Seiten sind vollgestopft mit Requisiten: Kostüme und Stoffe, Perücken, künstliche Körperteile (eine Schublade für Köpfe, eine für Hände), falscher Schmuck, Schminke, Spielzeug und Krimskrams, Masken, Ameisen und Käfer aus Gummi – 20 Jahre unstillbare Sammelleidenschaft.
Am anderen Ende steht vor einem herunterziebaren Papierprospekt ein Holzstuhl flankiert von professionellen Wolframlampen. Davor eine Nikon auf dem Stativ und gleich rechts daneben ein verstellbarer Spiegel in Körpergröße. Für die Porträts sitzt Sherman auf dem Stuhl und entwickelt jede Figur durch tausend kleine Veränderungen von Kostüm, Make-up, Beleuchtung und Mimik. „Ich sitze einfach nur da, probiere alles Mögliche aus und überprüfe im Spiegel, was davon funktioniert.“
Sherman hat keine vorgefasste Vorstellung von dem, was sie will. Die Figuren entstehen innerhalb eines Prozesses, den sie als „trance- ähnlich“ beschreibt. „Wenn es klappt, ist es sehr aufregend“, erklärt sie. „Es ist wie ein Blitz, wenn man plötzlich jemand anderen im Spiegel sieht.“ Die Figur erwacht zum Leben – aber auch dann weiß die Künstlerin noch nicht genau, wie das Ganze als Foto aussehen wird. „Bei meiner Art zu arbeiten weiß ich nie, was ich überhaupt sagen will, bevor es fast fertig ist.“ Das alles weiß man freilich nur vom Hörensagen, denn allein Shermans Ex-Mann und ihre Putzfrau haben sie hier arbeiten sehen. Sie macht alles selbst – Kostüme, Make-up, Licht, Kamera, Action.
Eines Tages verabredete ich mich mit Sherman im Kino für den Horrorfilm 'Scream 3'. Sie rutschte wie ein Teenager in ihren Sitz, stemmte die Knie gegen den Vordersitz und kicherte über blutrünstige Szenen. Sie findet, dass diese Filme einen für die schrecklichen Ereignisse stärken, die jederzeit über einen kommen können. Und es war nur konsequent, dass sie selber einen machte. Schon 1994 hatte die unabhängige Produzentin Christine Vachon Sherman auf einer Weihnachtsparty vorgeschlagen, einen Low-Budget-Horrorfilm als Regisseurin zu machen. Sherman war sofort interessiert. Das Resultat lag drei Jahre später mit 'Office Killer' vor.
Als Regisseurin war Sherman offen für Vorschläge von allen Beteiligten am Set. „Noch nie habe ich bei Dreharbeiten so wie hier gespürt, dass der Regisseur und ich die Figur gemeinsam erschaffen. Sherman ist ein ebenso großer Bestandteil der Figur wie ich“, sagt Hauptdarstellerin Carol Kane. „Sie hat sogar jeden Tag meine Augenbrauen korrigiert. Sie hatte ganz klar die Kontrolle über das Ganze, hat aber ihre Macht nie raushängen lassen. Wir haben auch viel gelacht. Je blutiger die Dinge wurden, desto zufriedener war sie.“
Der Film bekam schlechte Kritiken und muss als Shermans bisher einziger kommerzieller Misserfolg gewertet werden. Aber es gibt auch Leute, die ihn lieben. „Ich habe mich totgelacht“, ist der Kommentar von Ingrid Sischy, Herausgeberin des Artforum. „Für mich der beste Film des Jahres. Er hätte einen Oscar verdient!“ Cindy würde gern noch einmal Regie führen; allerdings nur, wenn sie auch allein das Drehbuch schreiben kann.
Zur Zeit ergänzt Sherman die Porträtserie, die in Los Angeles gezeigt wurde. Auch diese Bilder werden alle aus Shermans grenzenloser Fähigkeit entstehen, sich in immer neue Personen zu verwandeln. „Wenn ich heute Lust habe, mit meinem Körper zu arbeiten, dann tue ich es, und wenn ich keine Lust dazu habe, dann eben nicht“, sagt sie. Und ein wenig nachdenklich fügt sie hinzu: „Die Zeit bleibt nicht stehen, und ich werde älter. Ich bin gespannt, wie ich diese Tatsache in meine Arbeit integriere.“
Der Text ist ein gekürzter Nachdruck aus dem New Yorker. Übersetzung: Antje Görnig. – Die hier veröffentlichten Fotos wurden mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin den bei Schirmer & Mosel erschienenen Fotobänden entnommen: 'Cindy Sherman. Arbeiten von 1975 - 93' und 'Cindy Sherman. Untitled Film Stills'. © Cindy Sherman + Metro Pictures.