Flucht: "Ich kann nicht vergessen"
Die Tschechen kennzeichneten uns mit einem weißen etwa 15 Zentimeter großen Wimpel auf der Kleidung, worauf ein N für Nemecek (Deutscher) angebracht war. Die Deutschen wurden geschlagen, gejagt, angespuckt und gedemütigt. Wir durften nicht mehr auf den Gehwegen laufen, sondern nur noch auf der Straße, nicht mehr mit Bus oder Bahn fahren, nicht in den tschechischen Läden einkaufen. (…)
Wir wurden alle in Viehwaggons gepfercht. Es war unglaublich heiß da drinnen, wir hatten entsetzlichen Durst von dem Marsch, bekamen aber nichts zu trinken. Da drinnen sind wir drei Tage gefahren, ohne Verpflegung, ohne Wasser. Außen an den Waggons saßen in kleinen Bremserhäuschen die Stráz mit Gewehren und bewachten uns. In meinem Wagen kauerte eine Mutter mit einem Säugling auf dem Arm. Sie machte sich Sorgen, weil er offensichtlich zu schlapp war, nicht trank oder bereits tot war. Sie schrie vor Verzweiflung, ich sah, wie andere Frauen aufstanden und versuchten zu helfen. Da kam der Stráz aus seinem Bewacherhäuschen und riss der armen Frau ihr Kind aus den Händen. Er nahm es, schleuderte es herum und warf es dann aus dem fahrenden Zug. Dieses Bild und die danach bis zum Ende der Fahrt weinende Mutter vergesse ich nicht. (…)
Die Stráz trieben uns in den Wald. Da mussten wir Frauen uns immer wieder aufstellen. Sie suchten nach Schmuck, sagten sie. Dabei haben sie uns mit ihren dreckigen Händen in alle Löcher, Nase, Mund, Ohren, Unterleib gegriffen. Ich denke, sie wussten, dass wir nichts versteckt hatten. Es war eine gewollte Erniedrigung, vielleicht eine Vergewaltigung. Wir wurden bis Tatschen-Bodenbach (Decín-Podmokly) angetrieben, von da aus sollten wir zu Fuß bis zur Grenze nach Sachsen laufen.(…)
In keinem Haus war mehr Platz für uns,
also schliefen wir unter den Elbbrücken.
Wir sind über die Elbe gegangen in Richtung Pirna. Die zerstörte Stadt war voll mit Flüchtlingen. In keinem Haus war mehr Platz für uns, also schliefen wir unter den Elbbrücken. Wir wussten nicht wohin, hatten unglaublichen Hunger. Viele bettelten. Einmal nahm mich ein Gastwirt mit, weil ich ihm so leidtat. Und der hat mir etwas zu essen gegeben. Wir haben irgendwo einen Topf gefunden, in dem wir alles, was wir finden konnten und das halbwegs essbar war, auf dem Feuer gekocht haben. Unser Schlafplatz lag nur zwei Meter vom Ufer entfernt. Ich habe oft ins Wasser geguckt, aber das war kein schöner Anblick. An einem Tag floss nur Blut, und tagelang trieben Leichen durch den Fluss. (…)
Wir konnten es unter der Brücke nicht mehr aushalten. Als eine Flüchtlingsfamilie aus einer Schule auszog, fanden wir für einige Zeit Platz auf dem Dachboden des Gebäudes, der mal als Bühnenraum gedient hatte. Ausgerechnet ab dann hat es so viel geregnet, dass das Wasser in Strömen durch das Dach lief. Wir schliefen zu viert mit den Köpfen unter einem aufgespannten Regenschirm. Wir bemerkten in den nächsten Tagen, dass viele Vertriebene in eine bestimmte Richtung weiterzogen, und erkundigten uns, wohin sie wollten. In der Nähe sollte es ein Lager geben, das Flüchtlinge aufnahm. Wir schlossen uns an und gelangten so in das Lager Sonnenstein. (…)
Das war eine riesige Sammelunterkunft. Wir schliefen auf Stroh, erhielten über Tage gar nichts zu essen. Ich entdeckte damals zum Glück ein Plakat, auf dem Arbeitskräfte für sogenannte russische Repatriierungsaufgaben gesucht wurden. Da wir uns denken konnten, dass die Arbeiter Verpflegung erhielten, meldeten wir uns da. Wir liefen dann morgens mit vielen anderen in Kolonne von Sonnenstein zu den Küttner-Werken – eine ehemalige Strumpffabrik –, wo die Maschinen zum Abtransport nach Russland demontiert wurden. Wir Frauen nahmen die einzelnen auseinandergeschraubten Teile, putzten sie in Ölpapier und verpackten sie in Kartons.
Wir wurden immer schlapper und schwächer und konnten nicht mehr arbeiten
Zwölf Stunden dauerte unsere Schicht, plus je eine Stunde Hin- und Rückweg zu Fuß zum Lager. Dafür bekamen wir einen halben Liter Graupensuppe und 200 Gramm Brot täglich. Das reichte nicht, davon konnte man nicht überleben. Ich putzte nach der Arbeit deswegen noch die Stube eines russischen Offiziers und erledigte das mit Fleiß. Ich kriegte dafür jedes Mal einen Laib Brot, den ich mir mit Mutter teilte. Ich hatte Angst, dass er mich vergewaltigen würde. Aber er war ein guter Mann, er fasste mich nicht an. (…)
Uns ging es immer schlechter, wir konnten nicht mehr arbeiten und wurden schlapper und schwächer. Der Tod zog in das Lager ein. Im Herbst bekam ich Hungertyphus, wenige Tage später erwischte es auch meine Mutter. Das Rote Kreuz evakuierte uns nach Thüringen. Wir wurden zunächst in einen Saal eines Gasthofes in Hassleben verlegt, später kamen wir in Privatquartieren bei Bauersfamilien unter. Von der Gemeinde erhielten wir vierzig Reichsmark Fürsorge, davon ging die Miete ab.
Im Winter fand ich eine Beschäftigung bei einer Handweberin aus Ostpreußen und lernte für zwanzig Reichsmark weben und spinnen. Von unserem Vater hörten wir bis Sommer 1946 nichts. Dann aber kam eine Nachricht. (…) Er schrieb, dass er vertrieben worden war und es bis in die amerikanische Zone in ein Flüchtlingslager in Höllrich im Kreis Gemünden am Main geschafft hatte. Er schickte per Post eine Zuzugsgenehmigung für die amerikanische Zone mit. Mama und ich waren überglücklich. (…) Wir zogen zu Vater ins Flüchtlingslager Höllrich, wo wir dreieinhalb Jahre lang lebten.“
Zur Schule geht Herta nicht mehr. Ende 1952 nimmt ihr Arbeitgeber, ein Pelzhändler, sie mit nach Tübingen, wo er eine Filiale eröffnet. Die Eltern und Großeltern ziehen wenig später nach. Bis 1957 arbeitet Herta beim Landratsamt Tübingen, erst als Schreibkraft, dann als Sachbearbeiterin. Mitte der 1960er Jahre verliebt sie sich in einen Flüchtling aus der DDR. 1968 heiratet sie. Mit ihrem Mann besucht sie noch einmal ihre alte Heimat Neuitschein, aber sie erkennt es nicht wieder.
Der Bericht ist ein gekürzter Auszug aus „Die verratene Generation“ von Christian Hardinghaus (Europa, 20 €).
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