Angeklagt: der Feminismus
Der Flug nach Berlin dauert eine Stunde. Zeit genug, es bis ins Innerste des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung zu schaffen und sogar den Vierspalter auf der zweiten Seite bis zum Ende zu lesen. Es handelt sich um die xte Folge der Serie „Frauen und Männer: Neueste Erkundungen im Krisengebiet.“ Diesmal forscht Jeanne Rubner in demselben nach „Karrierehindernissen weiblicher Führungskräfte“. Ihre These: Das größte Hindernis seien „die Frauen selbst“. Die hinlänglich bekannten Fakten werden referiert: Top ausgebildete Frauen stoßen dennoch an die berüchtigte Glasdecke – über ihnen der Boysclub. Warum?
Das Problem ist in der ganzen westlichen Hemisphäre verbreitet, von den übrigen Teilen dieser Welt gar nicht zu reden. Weder frau noch man schafft eben fünftausend Jahre Patriarchat in ein paar Jahrzehnten ab. Doch warum, fragt sich die Autorin und Wissenschaftsjournalistin, liegt es gerade in Deutschland so besonders im Argen? Und sie gibt die Antwort: Weil der „Mutterkult“ hierzulande so tief in den Köpfen verankert sei und der dreijährige Erziehungsurlaub eine Einladung zum Abschied vom Beruf für die Mütter; und weil die Auffassung, Frauen müssten alles anders oder gar besser machen, so absurd sei wie die Alternative zwischen hie „fröhliche Mutter in der lila Latzhose, die wegen der Kinder ihr Studium abgebrochen hat“ und da „verhärmte, kinderlose Einser-Juristin im Business-Kostüm“.
Bravo! Endlich redet mal eine Tacheles in dem Blatt. Genauso ist es, murmele ich zustimmend vor mich hin. Sage ich ja schon seit Jahrzehnten. Nur: Wieso tragen die fröhlichen Mütter lila Latzhosen? Wer trägt hier überhaupt Latzhosen? Ach so, der für diese fatale Gesinnung Verantwortliche: der in Deutschland laut Rubner so „besonders moralinsaure Feminismus“.
Endlich wissen wir, wer schuld ist! Doch bevor wir uns gemeinsam über den Angeklagten beugen, sei mir eine kleine Anmerkung gestattet: Ist es der geneigten Leserin, dem geneigten Leser schon mal aufgefallen, dass der Begriff „Feminismus“ bzw. „Feministin“ besonders in deutschen Gazetten quasi zwingend begleitet ist von Adjektiven wie „verbissen“, „dogmatisch“, „gestrig“ oder eben „moralinsauer“?
Da scheint es in den Redaktionsstuben ein Schreibprogramm zu geben, das dem so schauerlichen F-Wort diese Adjektive zwingend zuordnet. Aber wollen wir uns nicht dennoch oder gerade darum den angeklagten Feminismus einmal genauer ansehen und ihn fragen, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hat?
Es spricht: Der Feminismus.
Als erstes führt der Feminismus an, er sei nicht einer, sondern viele. Aber zugegeben, es gäbe vor allem zwei Sorten seiner Spezies und die seien, um der Wahrheit die Ehre zu geben, zwei sehr unterschiedliche Schwestern. Die eine, sagt der Feminismus, ist die Antibiologistin, auch Gleichheitsfeministin genannt. Sie müsste, glaubt er, Jeanne Rubner eigentlich sympathisch sein. Denn sie meint, dass der große Unterschied zwischen den Geschlechtern eigentlich ein ganz kleiner sein könnte. Sie hat immer schon gesagt, dass Frauen, statt auf ihrer „Weiblichkeit“ und „Mütterlichkeit“ zu beharren, lieber von den Männern lernen sollten – und Männer, statt wiederum mit ihrer „Männlichkeit“ zu prahlen, lieber Mitverantwortung für Kinder übernehmen. Und sie hat, wie EMMA, schon vor über zwanzig Jahren gewarnt – und tut es seither immer wieder – dass der lange Mütterurlaub, inzwischen Erziehungszeit genannt, die schlimmste Frauenfalle ist!
Allerdings gäbe es da auch die andere Spezies, gesteht der Feminismus. Das ist die Feministin, für die Frauen und Männer fundamental unterschiedlich sind, sozusagen zwei Hälften eines Ganzen, und die glaubt, Männer seien (quasi) von Natur aus rational und kriegerisch und Frauen von Natur aus emotional und friedlich. Das sind die sogenannten Differenzialistinnen.
Aber wie, Angeklagter, kann es denn passieren, dass jemand wie die kluge Kollegin Rubner nur diese Variante des Feminismus zu kennen scheint? Der Angeklagte räuspert sich. Er denkt ungern an die Zeit zurück. Also: Bereits wenige Jahre nach Aufbruch der Neuen Frauenbewegung, nämlich schon Mitte der 70er Jahre, gerieten die beiden feministischen Schwestern in eine scharfe politische Kontroverse. Die Gleichheitsfeministin sprach mit der Stimme von EMMA, die Differenzialistinnen mit der Stimme von Courage, zum Beispiel. Die Medien aber standen fast ausschließlich auf der Seite der letzten und featureten kräftig die von ihr deklarierte „neue Mütterlichkeit“ und „neue Weiblichkeit“ – von EMMA die „neue Weinerlichkeit“ genannt. Im Chor mit Brigitte und Stern propagierte Courage das „Stillen als Waffe“, forderte die „Bezahlung der Hausarbeit“, ja sogar Lohn für eheliche „sexuelle Dienstleistungen“ (was Jahre später in diesen Kreisen konsequenterweise in dem Slogan mündete: Prostitution ist ein Beruf wie jeder andere). Und keiner schüttelte den Kopf über soviel Unsinn.
Auch die Politik begrüßte mit offenen Armen die neuweibliche Feministin und giftete über das vermännlichte „Flintenweib“ Schwarzer. Die Konservativen nahmen den Ruf nach der „neuen Mütterlichkeit“ sehr flugs auf und redeten Anfang der 80er Jahre von der „sanften Macht der Familie“ (CDU). Und die Helmut-Schmidt-SPD übernahm dafür von der CDU deren Slogan von der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Für Frauen, versteht sich. Von den Männern redete niemand.
In diesen bewegten Jahren blieb es EMMA und ein paar anderen wackeren Gleichheitsfeministinnen in der Tradition von Olympe de Gouge oder Simone de Beauvoir vorbehalten, nicht den Verstand zu verlieren und die Fahne gleicher Rechte und Pflichten hochzuhalten – auch wenn ihnen das Wasser oft bis zum Hals stand in den Wellen der Irrationalität, Esoterik und des Differenzialismus, der nun vor allem die akademische Welt überrollte.
Aber, Angeklagter, noch immer haben Sie nicht die Frage beantwortet: Warum wütet dieser ganze Unsinn so besonders schlimm in Deutschland? Warum wollen gerade deutsche Frauen auf keinen Fall werden „wie die Männer“ und scheuen vor allem eines: Macht?
Nun holt der Feminismus sehr tief Luft. Er sagt: Dafür ist wohl ein anderes böses F-Wort verantwortlich – der Faschismus. Denn es stimmt ja: Nirgendwo wurde so viel gestrickt wie in den deutschen Frauenzentren. Nirgendwo stand rationales Argumentieren so unter Mackerverdacht wie in den Kreuzberger Frauengruppen. Und nirgendwo hat das postkoloniale und postfaschistische Differenzdenken so grassiert wie in der alternativen Szene. Aber wen wundert das? Schließlich waren und sind die aufmüpfigen Gretchen die Töchter der taffen BDM-Mädchen – und Anfang der 70er die glorreichen Zeiten der Mutterkreuze für die deutsche Frau und des Eisernen Kreuzes für das deutsche Mannsbild mal gerade einen Generationssprung vorbei.
Übrigens: Die frohe Kunde von der „neuen Weiblichkeit“ und dem „Differenzialismus“ kam vor allem von Feministinnen linker Provenienz wie Pflasterstrand, Courage oder taz. Also aus exakt der deutschen Linken, die nach 1945 alles „neu“ machen wollte – und nur allzu oft zum Spiegelbild ihrer so verdammten Nazi-Eltern wurden. Ein Erbe, das nicht nur den 68ern, sondern auch der Frauenbewegung zu schaffen machte, die in Deutschland besonders stark aus der Linken kam und ihr verhaftet blieb.
„An den guten Willen der Männer zu appellieren, mehr Frauen in den Chefetagen mitregieren zu lassen, ist aussichtslos“, belehrt die SZ-Autorin im Jahre 2005. Denn: „Wer in der immer noch männerdominierten Arbeitswelt mitreden will, muss eben erst einmal nach den geltenden Spielregeln mitspielen. Und die kann nur ändern, wer gewinnt.“ So ist es, alles eine Machtfrage.
Aber weiß die geschätzte Kollegin Rubner wirklich nicht, dass die Frauenbewegung vor 35 Jahren mit exakt dieser Prämisse angetreten ist? Dass sie die erste, einzige war, die gefordert hat: Nicht länger um Einsicht oder Gnade bitten – sondern die Machtfrage stellen! Nicht länger in der Frauenecke hocken bleiben – sondern die Hälfte der Welt erobern, und den Männern die Hälfte des Hauses abgeben! Nicht länger jammern – sondern bereit sein, bei gleichen Rechten auch gleiche Pflichten zu übernehmen!
Dass diese Prämissen immer wieder verwässert und verfälscht wurden, liegt nicht am Angeklagten, sondern daran, dass der Fortschritt immer auch den Rückschritt nach sich zieht – und der im deutschen Krisengebiet der Geschlechter im Gewande der „neuen Weiblichkeit“ auftrat. Aber: Müssen wir denn immer wieder bei Null anfangen, Frau Kollegin? Kann nicht auch eine SZ-Redakteurin mal EMMA – oder eines der vielen klugen Bücher – lesen? Könnten wir nicht endlich gemeinsam weiterdenken und -handeln – statt uns immerzu voneinander zu distanzieren?
Die lächelnde Bitte der Stewardess, mich wieder anzuschnallen, reißt mich aus meinen utopischen Träumen. Aus dem Lautsprecher dringt die sonore Stimme des Piloten: Wir sind auf dem Anflug auf Berlin.