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8. Mai 1945: Frauen auf der Flucht

Rund 14 Millionen müssen den Zug nach Westen antreten, in der Mehrheit Frauen und Kinder. Foto: ZDF/dpa
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Am 8. Mai 2021 hält Esther Bejarano in Berlin bei einer Demo des Auschwitz-Komitees eine Rede. „Heute vor 76 Jahren bin ich in dem kleinen mecklenburgischen Städtchen Lübz befreit worden, befreit von amerikanischen und sowjetischen Truppen. Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt, alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen – und ich habe dazu Akkordeon gespielt.“ Die 96-jährige Holocaust-Über­lebende, die im „Mädchenorchester von Auschwitz“ um ihr Überleben spielte, sitzt im Rollstuhl, während sie spricht, aber ihre Forderung trägt sie mit fester Stimme vor: „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden!“ 

Am 8. Mai 1945 hat Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel im Berliner Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Eine Woche zuvor hatte Hitler im Führerbunker Selbstmord begangen. Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die Naziherrschaft ebenfalls.

In anderen Ländern wird dieser Tag gefeiert: In den von Deutschland überfallenen und besetzten Niederlanden wird der „Bevrijdingsdag“ schon am 5. Mai begangen. In Frankreich und Tschechien ist der „Victory-in-Europe-Day“, der VE-Day, ebenfalls offizieller Feiertag. Russland feiert den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“, der 24 Millionen Russinnen und Russen das Leben kostete, am 9. Mai, weil die Kapitulation nach Moskauer Zeitrechnung erst am nächsten Tag in Kraft trat.

Und Deutschland? Deutschland tut sich schwer mit dem Feiern. Zwar feierte die DDR den 8. Mai als „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“, ein gesetzlicher Feiertag war er aber auch dort nur von 1950 bis 1966 und dann noch einmal 1985, als sich der Tag zum 40. Mal jährte.

Im selben Jahr brach in der BRD Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner berühmten Rede zum 8. Mai das bis dato herrschende Tabu und sprach zum ersten Mal von einem „Tag der Befreiung“ auch für Deutschland. Erst zum 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2020 rang sich dann Berlin dazu durch, den „Tag der Befreiung“ als offiziellen Feiertag auszurufen, aber auch das nur einmal und ausschließlich in der Hauptstadt.

Deshalb lanciert Esther Bejarano ein Jahr später, zwei Monate vor ihrem Tod, eine Petition, die rasch Zehntausende unterzeichnen: „Der 8. Mai ist ein Tag der Hoffnung, ein Tag des Nachdenkens!“ Für Millionen Deutsche war der 8. Mai gleichzeitig der Tag, an dem für sie Flucht und Vertreibung begannen. Rund 14 Millionen Menschen müssen den Zug nach Westen antreten, zweieinhalb Millionen von ihnen kamen ums Leben. Die Mehrheit der Flüchtenden waren Frauen und Kinder. Und vielen von ihnen geschieht, abgesehen von Hunger und Kälte, Schreckliches.

„Über zwei Millionen Frauen werden während der systematischen Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudentenland Opfer von Vergewaltigungen. Die meisten Frauen dieser Kriegsgeneration haben das Geheimnis ihres persönlichen Schicksals mit ins Grab genommen“, weiß der Historiker Christian Hardinghaus und beklagt: „Über die grau­samen Erfahrungen deutscher Frauen während Flucht und Vertreibung einerseits und in den Bombennächten andererseits lernen wir größtenteils aus Frauenbiografien.“ Die Historiker aber haben sich des Themas kaum angenommen.

Hardinghaus ist eine Ausnahme. Der Historiker hat versucht, einen Beitrag zur Schließung der „Forschungslücke“ zu leisten. Er suchte nach noch lebenden Zeitzeuginnen, ließ sich von ihnen ihre Geschichten erzählen und veröffentlichte zwölf davon 2020 in seinem Buch „Die verratene Generation“. Es sind Geschichten vom Verlust des Heims und der Heimat, Geschichten von Gewalt und Vergewaltigung und Geschichten darüber, wie die Frauen in der neuen Heimat alles andere als wohlwollend aufgenommen wurden. Viele kamen dort jahrelang nicht an, manche womöglich nie.

„Auch nach ihrer Ankunft in Westdeutschland bleibt die Not der Vertriebenen groß“, schreibt ­Hardinghaus. „Provisorische Notunterkünfte wie Schulen, Turnhallen oder Barackenlager sind ihre Realität. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, Krankheiten breiten sich rasend schnell aus. Viele Frauen verbringen Monate oder sogar Jahre unter diesen entwürdigenden Umständen – ein Zustand, der nicht nur an ihrer Gesundheit, sondern auch an ihrer Würde zehrt und die psychischen Belastungen zusätzlich verstärkt.“ 

Die Flüchtlinge sind im kriegszerstörten Deutschland eine unliebsame Konkurrenz um ohnehin knappe Lebensmittel und Wohnraum. Hinzu kommt: Die Nazi-Propaganda von den „minderwertigen Ostvölkern“ trifft nun die Deutschen selbst, die ausgezehrt und verwahrlost im Westen ankommen. „Die zwölf Jahre andauernde NS-Propaganda prägt ein abwertendes Bild von Menschen aus Osteuropa, das auch nach dem Ende des ­Zweiten Weltkriegs in der Gesellschaft fortbesteht“, schreibt Christian Hardinghaus. Folge: „Flüchtlinge werden mit Vorurteilen überzogen, die vorher Juden und Slawen zugeschrieben worden sind.“ 

Die Erinnerung an das Leid so vieler Frauen durch Vertreibung und Vergewaltigung blieb lange verschüttet. Die Frauen schwiegen – aus Scham und weil sie dem „Tätervolk“ angehörten. Die oftmals revisionistische Politik der Funktionäre der Vertriebenenverbände, die sich weigerten, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, taten das ihrige dazu.

Die Frauen selbst redeten nicht – und deren Kinder fragten nicht. „Auf beiden Seiten stand die Angst. Die einen fragten nicht, weil sie sich Sorgen machten, ihre Mütter könnten zu viel gewusst und nichts dagegen getan oder sogar begeistert mitgemacht haben. Die anderen erzählten nichts aus Sorge, man würde ihnen nicht glauben oder ihr persönliches Leid als unangebracht empfinden angesichts der furchtbaren Gräuel, die die Nazis begangen hatten.“ Christian Hardinghaus beschäftigt ihre Geschichte. Er hat mehrere Sachbücher und Romane zum Thema veröffentlicht und plädiert dafür, beides zu sehen: die Schuld und das Leid. Denn: „Schweigen wir weiter über die unangenehmen Themen, überlassen wir Extremisten die Erzählung, die ihrerseits kein Interesse daran haben, die Erinnerung an den Holocaust korrekt wiederzugeben.“ 

Vielleicht kann ja irgendwann tatsächlich beides gelingen: Das Ende des mörderischsten Krieges der Weltgeschichte und die Befreiung von der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zu feiern – und um das Leid der Vertriebenen und der vergewaltigten Frauen zu trauern. 

Weiterlesen:
Christian Hardinghaus: Die verratene Generation. Gespräche mit den letzten Zeitzeuginnen des Zweiten Weltkriegs (Europa, 20 €)

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