Wollen wir die totale Mutter?

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Lapidar stellt Elisabeth Badinter in ihrem Buch „Der Konflikt – Die Frau und die Mutter“ fest, dass es keinem Staat egal sein kann, wenn die Geburtenrate drastisch fällt: Letzten Endes geht es dabei nicht nur um die Sicherung der sozialen Systeme, sondern schlicht ums Überleben. In Japan, Italien und Deutschland ist die Geburtenrate besonders drastisch eingebrochen. Sie liegt in diesen drei Ländern, den weltweiten Schlusslichtern, bei 1,3 Prozent Kind pro erwachsener Frau. Schweden oder Norwegen kommen immerhin auf Geburtenraten von 1,9 Prozent. Frankreich liegt bei dem von jedem Staat erträumten 2 Prozent – und das liegt nicht an den Migrantinnen. Übrigens, nicht unwichtig in diesem Zusammenhang: Die Gehälter von Männern und Frauen klaffen in Frankreich längst nicht so weit auseinander wie in Deutschland!

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Warum?

Seit den 1970er Jahren hat die Antibabypille dazu geführt, dass etwas bis dahin Unausdenkbares geschah: die Sexualität und das Kinderkriegen wurden entkoppelt. Von diesem Moment an bekam eine Frau nicht mehr einfach ein Kind, sie musste es wollen und sich dafür entscheiden. Gleichzeitig wurde der individualistische Hedonismus die Norm, an der die Leute ihr Leben ausrichteten: Wohlbefinden, Freiheit, Vergnügen, Liebesglück, finanzieller Erfolg, kurz, der Genuss des Lebens wurde zur Grundlage gesellschaftlichen Handelns.

Badinter geht der Frage nach, wie sich das Kinderkriegen in der Selbstwahrnehmung mit dieser in den westlichen Gesellschaften ebenso unumschränkt wie alternativenlos herrschenden gesellschaftlichen Norm verträgt. Offensichtlich ist das Mutterwerden in manchen Gesellschaften mit diesem hedonistischen Begehren leichter zu vereinbaren als in anderen. Das liegt daran, dass Muttersein in verschiedenen Ländern verschiedenes bedeutet.

Überall in Europa, aber auch in Japan oder den USA, ist ein Phänomen zu beobachten, das Badinter als „Geburtenstreik“ charakterisiert. Dieser Streik hat keine politische Intention; er entscheidet sich nicht im öffentlichen Raum, sondern in der Privatheit des Zwiegesprächs der Frauen mit sich selbst oder mit ihrem Partner. Er lässt sich daran erkennen, dass Frauen überall später und weniger Kinder bekommen. Vor allem aber bekommen immer mehr Frauen keine Kinder.

Weltweit sind die Frauen, die keine Kinder bekommen, die am besten ausgebildeten. Besonders hoch ist die Zahl der gut ausgebildeten, kinderlosen Frauen in Deutschland: fast 40 Prozent der nach´1960 geborenen Frauen mit Hochschulabschluss haben (noch) keine Kinder. In Frankreich sind kinderlose Frauen ein statistisch insignifikantes randständiges Phänomen geblieben; in Deutschland ist das Leben ohne Kinder in gut ausgebildeten Kreisen zu einer bestimmenden Lebensform geworden. Von fünf Professorinnen hat in Deutschland eine Kinder, in Frankreich sind vier Mutter.

Die Wandlungen des Mutterbildes, die nach Badinter für die ideologischen Entwicklungen seit den 1970er Jahren verantwortlich sind, führen zu einem Fazit, das nicht gerade von Optimismus geprägt ist. Der Feminismus der 1960er und 1970er Jahre stellte den Kampf für die Gleichheit der Geschlechter in den Vordergrund. Das zuverlässigste Indiz für den Fortschritt dieser Gleichheit ist – was Badinter immer wieder hervorhebt – das Schrumpfen des Verdienstunterschiedes zwischen Männern und Frauen.

Auf den „Gleichheitsfeminismus“ (alle Menschen sind gleich) folgte der „Differenzfeminismus“, der die Unterschiede zwischen den Geschlechtern als essentiell definierte. Das Frausein sollte nun wesentlich durch das Muttersein als Caring for others, durch ein substantielles „für andere da sein“, bewiesen werden. Im Wesentlichen hatte man es mit einer Wiederauflage des Kampfes zwischen dem so genannten „radikalen Feminismus“ und dem gemäßigten „Mütterfeminismus“ zu tun, der schon vor dem ersten Weltkrieg die ideologischen Auseinandersetzungen in Europa bestimmte.

Dem Differenzfeminismus kam zu gute, dass das kulturalistische Paradigma von dem abgelöst wurde, was Badinter richtig als Naturalismus bezeichnet: der Wiederkehr von Mutter Natur. Diesem Naturalismus zufolge sind nicht soziale Rollenerwartungen und historisch gewachsene, gesellschaftliche Konstrukte ausschlaggebend für menschliches Verhalten, sondern wir werden wesentlich gesteuert von Genen und Hormonen. Diese Neuauflage eines sozialdarwinistischen Naturalismus führte zu einer Rückkehr auch dessen, was altmodisch „Instinkt“ hieß.

Badinters Buch „L’amour en plus“ („Die Mutterliebe“) von 1980, das sie zu einer der einflussreichsten Intellektuellen des kulturalistischen Paradigmas gemacht hat, hat mit einem dieser angeblich mächtigsten und offensichtlichsten, immer wieder ins Feld geführten Instinkte durch ihre historischen Untersuchungen aufgeräumt: Einen Mutterinstinkt gibt es nicht.

Doch Mutter Natur sieht Badinter mit Schrecken weltweit auf dem Vormarsch, denn Frauen hatten von ihr bekanntlich noch nie etwas Gutes zu erwarten. Der calvinistische Aufklärer Jean Jacques Rousseau hing an den Lippen von Mutter Natur und war eines ihrer erfolgreichsten Sprachrohre. Die Stimme von Mutter Natur höchstpersönlich dekretierte, dass die Mutter wie eine Nonne in ihrem Haus eingeschlossen bleibt und Kinder zu stillen habe, deren Freiheit ihrer Mutter Sklaverei ist. So bleibt die öffentliche Sphäre eine frauenfreie Zone und die Männer können die Macht dort ungestört unter sich aufteilen.

Die heutigen Sprachrohre der Natur sind professionelle Pädagogen, Psychologen, Ernährungswissenschaftler – und viele der Mütter selbst, denen an ihrem von der Natur beglaubigten „Bessersein“ mehr liegt als an ihrer Freiheit. Dass seit der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Entwicklung zu mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern stag - niert, liegt weniger an den Machos, sondern vor allem an diesen Frauen selbst. Die Kindererziehung haben sie zu einem Vollzeitjob gemacht. Die Reduktion der Frauen auf ihre Verantwortung als Mutter fängt mit dem ersten Tag der Schwangerschaft an: kein Tropfen Alkohol, keine einzige Zigarette, eine rauchfreie Umgebung. Sonst drohen unabsehbare Folgen für die Gesundheit des Kindes.

In New York wollte ein Restaurantbesitzer die Polizei holen, als meine schwangere Freundin ein Glas Champagner bestellte. Einer Mutter im höheren Auftrag der Natur gehört ihr Bauch nicht mehr allein. Nach der Geburt (am besten natürlich im vollen Bewusstsein der Schmerzen und ohne verunklärende Peridurale) hängt das Schicksal von Mutter und Kind am ersten Blick und am Hautkontakt, der unbedingt unmittelbar nach der Geburt einzusetzen hat.

Danach – und hier hat Badinter ihren wahren Hauptfeind ausgemacht, die Leche league – wird das Baby idealerweise nach Bedarf und so lange es will gestillt, also mindestens bis zum zweiten Jahr. Vom Teufel ist es, das Fläschchen zu geben: Das führt garantiert zu Allergien und überhaupt einer langen Liste von Störungen des Kindes, und in jedem Fall ist es günstiger, wenn das Baby im Bett der Mutter schläft. Auch das, bis es mindestens ein Jahr ist.

Fazit: Eine Frau, die Mutter im vollen Sinne des Wortes wird, kann keine Frau mehr sein. Ihren Beruf und jegliches soziale Leben kann sie an den Nagel hängen. Schließlich ist sie durch das Stillen mit dem Kind zu einer Art siamesischem Zwilling geworden; sie hat keinerlei Bewegungsfreiheit mehr. Auch den Sex (mit ihrem Mann oder wem auch immer) kann sie vergessen. Stillen ist dem Sex, wie sich jede Frau, die einmal gestillt hat, gut erinnert, nicht zuträglich und das Baby im Bett wird die Sache nicht prickelnder machen.

Kein Wunder, dass viele Frauen sich dem Appell zur totalen Mutter entziehen – zumal dann, wenn sie diese Normen verinnerlicht haben und glauben, sich zu diesem totalen Anspruch mit dem Kind mitentscheiden zu müssen. Ebenso klar ist also, dass der Normenkonflikt vorprogrammiert ist und die Forderung nach solcher Selbstaufgabe mit einem individualistischen Hedonismus nicht wirklich vereinbar ist.

Man mag Badinters Fixierung auf das Lobbying der Leche league leicht paranoid finden, zumal sich hier rudimentäre Elemente ihrer Lieblingsverschwörer finden: für dieses Mal zwar keine Jesuiten, aber Katholiken und deren abergläubischer Kult der Heiligenbilder. „Leche league“ heißt diese Lobby, die weltweit unermüdlich für das Dauerstillen kämpft und von fünf Katholikinnen in Chicago gegründet wurde, zu Ehren einer spanischen Madonna in St. Augustin, Florida, die Schutzheilige des üppigen Fließens der Muttermilch. Und man könnte Badinter als Historikerin daran erinnern, dass das Bollwerk gegen das Konstrukt der Frau als totale Mutter in Europa bis ins 19. Jahrhundert nicht nur die französische Aristokratie war, sondern viel effektiver die katholische Kirche selbst. Denn deren Frauenideal, die Heilige, hatte als herrenlose Braut Christi Wichtigeres vor, als Mutter zu werden.

Die „gute Mutter“, die weder eine „hysterische Heilige“, noch verruchtes „Weltweib“ ist, ist denn auch bis heute ein Produkt der Länder, die evangelisch geprägt waren. In Frankreich wurde die gute Mutter erst im 19. Jahrhundert gepredigt – und weniger von den reaktionären St. Sulpisten, als eher von den revolutionären Republikanern wie Jules Michelet und Emile Zola.

Wunderbar aber, das muss gesagt werden, ist an diesem neuen Buch von Badinter die polemische Verve, mit der die Autorin – selber Mutter von drei Kindern! – die absurden Zumutungen dieses Mutterbildes, das sie mit Erschrecken auf dem Vormarsch sieht, herausstreicht. Eines Bildes, das vermutlich den meisten deutschen LeserInnen als das natürlichste der Welt erscheint.

Badinters Fazit muss jeder modernen Familienpolitik zu denken geben: Je stärker der Ruf nach der totalen Mutter erklingt, desto weniger Frauen werden tatsächlich Mutter.

Die Französinnen haben sich dem Aufruf zur totalen Mutter gegenüber bisher ziemlich taub gezeigt. Und das können sie nur, weil die französische Gesellschaft sie mit der Kindererziehung nicht alleine lässt. Weil sie Frauen bleiben dürfen, werden sie öfter Mütter als die Deutschen. Und sie verdienen mehr Geld als ihre deutschen Schwestern.

Die Autorin ist Professorin für Literaturwissenschaft in München und veröffentlichte u.a. „Die deutsche Mutter – Der lange Schatten eines Mythos“ (Fischer). Sie ist Mutter eines Sohnes.

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Elisabeth Badinter: "Der Konflikt - die Frau und die Mutter" (C. H. Beck)
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