Frauen, wann erschallt euer Ruf!
In des Sommers Herrlichkeit schlug der Blitz des grausigsten aller Kriege und setzte ganz Europa in Flammen. Frauen aller kriegführenden Staaten gaben gehobenen Hauptes und mutigen Herzens ihre Gatten zum Schutze des Vaterlandes her. Mütter ließen Söhne, Mädchen die Verlobten ohne Wimperzucken hinaus in den Tod und Verderben ziehen. Rast- und ruhelos schufen und schaffen die Frauen daheim, um der seelischen, körperlichen und wirtschaftlichen Not zu steuern, die diese Zeit heraufbeschworen.
Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden?
Der Sommer ist dahin, der Herbst kam und ging, wir stehen im Winter. Millionen Männer blieben auf dem Felde, sie sehen die Heimat niemals wieder. Andere kehrten heim, zerschlagen und krank an Leib und Seele, Städte höchster Kultur, Stätten trauten Menschenglückes sind vernichtet, Europas Boden raucht von Menschenblut, – Menschenblut, Menschenfleisch wird zum Nährboden für die wogenden Kornfelder der Zukunft auf deutscher, französischer, belgischer und russischer Erde.
Millionen Frauenherzen flammen auf in wildem Weh. Keine Sprache der Erde ist reich genug, um so viel Leid in seiner ganzen Tiefe zu schildern. Und weiter tobt der völkerverhehrende Krieg!
Frauen Europas, wo bleibt Eure Stimme? Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden?
Kann die vom Menschenblut rauchende Erde, können die Millionen von zerschundenen Leibern und Seelen Eurer Gatten, Verlobten und Söhne, können die Greuel, die Eurem eigenen Geschlecht widerfahren, Euch nicht zu flammendem Protest erheben?
Schon traten im Süden Europas Männer zusammen, um Friedensworte zu tauschen. Schon tagten im Norden Europas Männer, um Frieden zu wirken. Frauen Europas, wo bleibt Eure Stimme, um Frieden zu säen? Lasst Euch nicht abhalten durch jene, die Euch, weil Ihr den Frieden wollt, der Schwäche zeihen, die da sagen, Ihr werdet durch Euren Protest den blutigen Gang der Geschichte nicht aufhalten.
Versucht zum mindesten dem Rad der Zeit, menschlich, mutig und stark, würdig Eures Geschlechtes in die bluttriefenden Speichen zu greifen. Protestiert kraftvoll gegen den völkermordenden Krieg und bereitet den Frieden vor, kehret heim, jede in ihr Vaterland und wiederholt den Ruf. Erfüllet Eure Pflicht als Frauen und Mütter, als Hüterinnen wahrer Kultur und Menschlichkeit.
Lida Gustava Heymann, 1915