Haben Tiere Gefühle?
Ich liege im halbwachen Zustand im Bett und träume. Ich bin im Wasser, warme Wellen schwappen um mich herum. Ein angenehmes Gefühl. Langsam wache ich auf. Ganz dicht vor mir, neben meinem Kopfkissen, sitzt meine Katze Lilli. Sie starrt mich an. Dümpelte ich nicht gerade noch in warmen Wellen? Ja, im Traum. In der Wirklichkeit liegt mein Kopf in der Kissenkuhle, und die ist gefüllt mit warmer Pipi. Katzenpipi. Lilli starrt mich weiter unverwandt an, nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Sie hatte mir auf den Kopf gepinkelt. Kopfschüttelnd stehe ich auf und sage: Musste das denn sein, Lilli? Sie folgt mir Schritt auf Schritt ins Bad und setzt sich, weiterhin unbeweglich starrend, neben meine Füße, als ich den Kopf über die Badewanne und unter die Dusche beuge.
Schon gut, Lilli. Ich habe verstanden. Du hast ein Jahr lang mit mir fast jeden Tag und meist auch die Nächte verbracht. Und jetzt war ich drei Wochen lang nicht da, war in Urlaub. Du hast zwar eine Katzenklappe, einen Garten und einen Nachbarn, der dich liebt und jeden Tag füttert. Aber ich war weg. Und das soll mich lehren.
Dieselbe Lilli wuchs zeitweise mit einem Hund auf und kam mit mir in die Redaktion. Also apportierte sie Büroklammern wie ein Hund. Sie spielte Verstecken, indem sie sich – ganz wie die Kinder bei mir zu Besuch – hinter die offenstehende Wohnzimmertüre hockte. Wenn ich dann an ihr vorbeiging, sie angeblich nicht sah und laut sagte: Ja, wo kann sie denn nur sein, die Lilli?, verlor sie immer rasch die Geduld und trampelte hinter mir her, mit „Holzpantinen“ (diesem schweren Schritt, den alle Katzen gefährtInnen kennen).
Noch eine Anekdote? Die, an die ich denken musste, als ich in Berlin an einem Museum ein riesiges Transparent sah: „Tiere lügen nicht“. Ich bin nicht in die Ausstellung gegangen, weil mir klar war, dass die Leute keine Ahnung hatten. Zumindest kannten sie Flocki nicht, den Schäferhundmischling meiner Kindheit. Flocki war bei uns geboren und teilte das kleine Häuschen am Waldrand mit zwei weiteren Hunden, fünf Katzen und drei menschlichen Tieren.
Flocki war sehr verwöhnt und schlief im Wohnzimmer. Aber er durfte nicht aufs Sofa, das wusste er. Kam man also morgens ins Wohnzimmer, hörte man, noch bevor man die Türe geöffnet hatte, einen schweren Plumps. Und sodann sah man einen harmlos dreinblickenden Hund auf dem Teppich vor dem Sofa, der gerade noch versuchte, sich so zu sortieren, als hätte er an der Stelle die Nacht verbracht.
Derselbe Flocki pflegte, wenn ihm mal versehentlich jemand auf die Pfote trat im häuslichen Gedränge, bitterlich zu jaulen und über längere Zeit unübersehbar zu humpeln – nur wenn man sich wegdrehte, er also annahm, dass ihn niemand sah, ging das wieder tadellos mit allen vier Pfoten.
Was ich hier mache, galt noch vor etwa vierzig Jahren als total verpönt unter Tier- und Verhaltensforschern und für so manche ist es das bis heute. Ich erzähle Anekdoten, die Tiere „vermenschlichen“ und die beweisen sollen, dass Tiere uns ähnlich sind und Gefühle haben. Dass sie verlogen sind und gerissen wie Flocki. Oder rachsüchtig und verspielt wie Lilli. Apropos verspielt. Ich kann mir auch diese letzte Anekdote nicht verkneifen.
Dabei geht es um Lillis Nachfolgerin, meine Katze Frizzi. Als sie klein war, war Folgendes ihr Schönstes: Wenn wir in der Diele weit ausholend ein Bettlaken zusammenlegten, sprang Frizzi mit Schwung in die Mitte des Lakens – und wir mussten sie darin schaukeln. Das hat sie allerdings nur in den ersten vier, fünf Lebensjahren getan. Heute steht sie abends im ersten Stock und lauert, dass man die Treppe raufkommt. Da streckt sie Kopf und Pfoten durch die Streben, und es muss mit ihr gespielt werden: die Hand durch die Streben stecken, nach ihren Pfoten haschen etc. Was dem Tier eben so Überflüssiges, aber Vergnügliches einfällt. Denn ja: Tiere spielen gerne. Sie halten es für selbstverständlich, dass Tiere Gefühle haben und gerne spielen? Da irren Sie gewaltig! Diese Erkenntnis ist in unserer modernen Welt ziemlich neu und bis heute durchaus umstritten.
Die Erkenntnis, dass Tiere Gefühle haben, ist bis heute umstritten.
René Descartes, der Begründer der modernen Philosophie, war es, der im 17. Jahrhundert schlankweg verkündet hatte: Tiere haben nur Instinkte, aber keine Gefühle. Die Wortführer der Aufklärung vertieften diese Auffassung (und steckten die seelenlosen Weiber gleich mit in dieselbe Schublade).
Wer keine Seele hat, kennt auch keinen Schmerz. Also wurden Tiere bis vor gar nicht langer Zeit ohne Betäubung vivisektioniert. Und sie sind bis heute in Forschung wie Schlachtbetrieb Schmerzen ausgesetzt, die man ihnen leicht ersparen könnte – wenn ihnen schon nicht das Leid erspart wird, benutzt und gegessen zu werden.
Als die heute berühmte Jane Goodall vor 50 Jahren begann, Tiere zu beobachten, gab sie diesen Tieren Namen; so war sie es von ihrem Hund Rusty gewohnt, der ihre Kindheit begleitet hatte. Doch das galt als ganz und gar „unwissenschaftlich“. Wissenschaftler pflegten den Tieren Nummern zu geben, keine Namen. Mit Nummern muss man kein Mitgefühl haben.
Dem großen Anthropologen Louis Leakey, ein in Afrika geborener Sohn britischer Missionare, gefiel das mit den Namen. Für ihn war es ein Vorteil, dass die gelernte Sekretärin Goodall nicht akademisch verbildet und eine Frau war. Er hielt Nicht-Wissenschaftler für unvoreingenommener und Frauen für einfühlsamer. Also ermutigte er die 20-jährige Jane Goodall – ganz wie später auch Diane Fossey – dazu, das Verhalten freilebender Menschenaffen zu beobachten.
Es brauchte Geduld und einige Monate, die Jane mit ihrer Mutter im Urwald-Zelt verbrachte, bis die junge Engländerin eine wahrhaft revolutionäre Entdeckung machte: Die von ihr beobachteten wilden Schimpansen stocherten mit Zweigen nach ihrer Lieblingsspeise, den Termiten. Bis zu Goodalls Entdeckung hatte die Nutzung von Werkzeugen als ausschließlich menschliche Fähigkeit gegolten. Nun fiel aus der Krone der Schöpfung ein Zacken: auch nichtmenschliche Tiere nutzen Werkzeuge. Zu dieser ersten Entdeckung sind seither zahlreiche Beobachtungen von ForscherInnen hinzugekommen, die von werkzeugbewaffneten Säugetieren, Vögeln, ja sogar Fischen zu berichten wissen.
Goodall hatte eine entscheidende Schranke eingerissen. Rückblickend sagt sie: „Es gab immer mehr zwingende Beweise dafür, dass wir nicht allein sind in unserem Universum, dass wir nicht die einzigen Kreaturen mit Verstand sind – fähig, Probleme zu lösen, Liebe und Hass ebenso zu versprühen wie Freude und Trauer, Angst und Verzweiflung. Sicher sind wir nicht die einzigen Tiere, die Schmerz und Leid empfinden. Mit anderen Worten: Es gibt keine klare Grenze zwischen dem Tier Mensch und dem Rest des tierischen Königreichs. Die Grenzen sind fließend und mit der Zeit werden sie immer fließender.“
Ein ganz Großer in der Domäne, der Naturforscher Charles Darwin (1809 – 1882), hatte diesen Gedanken schon hundert Jahre zuvor gewagt. Er schloss aus seiner Theorie der „evolutionären Kontinuität“, dass die Unterschiede zwischen den Spezies eher gradueller denn grundsätzlicher Natur seien; die zwischen den Tieren wie auch die zwischen Mensch und Tier.
Darwin: „Es gibt keinen fundamentalen Unterschied zwischen Menschen und höherentwickelten Tieren, was ihre geistigen Fähigkeiten betrifft.“ Mehr noch: Auch „die niederen Tiere fühlen wie Menschen eindeutig Freude und Schmerz, Glück und Unglück“. Als Beispiel führte Darwin seinen Hund an, der die Vorfreude beim Spazierengehen genauso körperlich ausdrückte wie seine Enttäuschung. Nämlich indem er entweder „ernsten, hohen Schrittes, mit hoch erhobenem Kopf, gemäßigt gespitzten Ohren und hoch, jedoch nicht steif erhobener Rute vor mir herlief“ – oder eben „den Kopf tief runterhängen ließ. Der gesamte Körper sank ein wenig in sich zusammen und war völlig bewegungslos; Ohren und Rute fielen plötzlich nach unten, doch die Rute wedelte kein bisschen. Sein gesamter Ausdruck war voller kläglicher, beinahe hoffnungsloser Niedergeschlagenheit.“
Über hundert Jahre später bestätigte der Tierforscher Donald Griffin, bekannt geworden mit seinen Forschungen zum Vogelzug, die Erkenntnisse von Darwin und Goodall. Mit seiner 1976 erschienenen Arbeit
„The Question of Animal Wareness“ (Die Frage tierlicher Bewusstheit) läutete er eine Wende in der Verhaltensforschung ein: Griffin behauptete und belegte, dass das Erleben von Tieren durchaus auch „wissenschaftlich“ untersucht werden könne.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Beginn eines erneuten Kampfes um Tierrechte im 20. Jahrhundert zusammenfällt mit dem wiederauflebenden Kampf um Frauenrechte. Das war schon im 19. Jahrhundert bei der Historischen Frauenbewegung so. Vor allem in England waren die feministischen Pionierinnen häufig auch Tierrechtlerinnen. Kein Wunder. Schließlich sind beide, Frauen wie Tiere, Opfer des männlichen (weißen) Primats über alle anderen Geschöpfe.
Würden Sie das Ihrem Hund antun? Nein, der hat ja einen Namen.
Der Amerikaner Marc Bekoff, einer der führenden Tierforscher, veröffentlichte 2008 ein Buch mit dem Titel „Das Gefühlsleben der Tiere“. Wie alle TierforscherInnen lebt er selbst eng mit Tieren zusammen, Haustieren wie Wildtieren. Und seine Schlüsselfrage zu unserem Umgang mit Tieren lautet: „Würden Sie das Ihrem Hund antun?“ Nein, würden wir nicht. Der hat ja einen Namen.
Bekoff listet die verschiedenen Arten von Emotionen auf, die er auch Tieren zuschreibt. Die „Primäremotionen“, die als angeboren bezeichnet werden und für Darwin „universell“ sind: Angst, Ärger, Ekel, Überraschung, Trauer und Glück. Zu den komplexeren Sekundäremotionen, die im cerebralen Kortex (Hirnrinde) angesiedelt sind, gehören außerdem: Reue, Verlangen und Eifersucht. Manche Kritiker stellen schon gewisse Primäremotionen bei Tieren infrage: Könne ein Hund „Glück“ empfinden? Kennt eine Katze „Trauer“? Menschen, die mit Tieren leben, wissen allerdings nur zu gut, dass Tiere all dieser Gefühle mächtig sind. Ich persönlich kenne nur rasend eifersüchtige Tiere.
Zwar sind traditionell wissenschaftliche Beweise nicht immer möglich nach den bisher herrschenden Kriterien. Tierrechtler versuchen es dennoch. Denn, so Bekoff: „Der Nachweis von Emotionen bei Lebewesen ist auch ein wichtiger Schritt, Empfindungsfähigkeit und Ich-Bewusstsein zu bestimmen.“
Doch bis heute lässt die menschenzentrierte Wissenschaft wenig unversucht, Tiere zu deklassieren. So behauptet zum Beispiel der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert in seinem Bestseller „Ins Glück stolpern“ schlankweg: „Das menschliche Tier ist das einzige Tier, das über die Zukunft nachdenkt.“ – Dabei ist doch vielfach bewiesen, wie viele Tierarten Sommers für den Winter vorplanen und ihr Futter verstecken.
Doch woran können wir die Gefühle der Tiere eigentlich erkennen? An ihrer Körperhaltung, ihrem Gang, ihrer „Sprache“, ihrer Mimik. Und an den Augen, glaubt Marc Bekoff, „die übermitteln die Gefühle am eindrücklichsten“. Außerdem: Tiere stupsen Menschen an, um ihnen etwas mitzuteilen, oder sie blinzeln mit den Augen, um Zustimmung bzw. Dankbarkeit zu signalisieren. So wie meine Katze Frizzi. Apropos Katze. Es fällt auf, dass die meisten TierforscherInnen einen Hund hatten oder haben und sich vor allem auf Hunde beziehen. Katzen scheinen schwieriger zu beobachten zu sein.
Und sie arbeiten mit Anekdoten – ob nun wissenschaftlich verpönt oder nicht. Sie erzählen Beobachtetes oder Gehörtes über das Verhalten von Tieren. Auch Bekoff tut das. Da ist sein Beispiel von dem roten Ara, der so gerne „giggelt, kichert oder grölt vor Lachen“, vor allem, wenn er Menschen necken kann. Sein Lieblingsspiel ist „fliegender Teppich“. Dazu müssen Menschen den Teppich, auf dem der Ara hockt, im Galopp über die Flure ziehen (wie mein schaukelndes Laken).
Oder das Beispiel der beiden kleinen Jack-Russell-Terrier, die verängstigt am Straßenrand gefunden wurden. Der eine blutete aus beiden Augen – ein Sadist hatte sie ausgestochen und zugenäht. Der andere Hund bewachte ihn und schnappte nach jedem, der sich näherte. Die beiden gequälten Rüden fanden schließlich bei einem Ehepaar ein liebevolles Zuhause. Und fortan beschützte und begleitete der sehende Hund den blinden Schritt für Schritt, nachts kuschelten sie sich aneinander und benahmen sich „wie ein verheiratetes Paar“.
Und da ist die bekannte Geschichte von den Löwen in Äthiopien, die die Entführer eines zwölfjährigen Mädchens vertrieben und das Kind so lange bewachten, bis die Retter kamen. Sodann zogen die Löwen sich friedlich in den Urwald zurück. – Oder die Delphine, die in Neuseeland einen schützenden Ring um eine Gruppe Schwimmer bildeten, die von einem weißen Hai angegriffen wurden. „Sie trieben uns alle vier zusammen, in dem sie immer engere Kreise um uns zogen“, erzählte einer der Geretteten.
Wir müssen weitgehend mit dem Herzen entscheiden.
Und zuguterletzt noch das von Marc Bekoff selbst beobachtete Trauerritual der Elstern in Colorado. Eine war offensichtlich überfahren worden und lag tot am Straßenrand. Vier weitere Elstern standen um sie herum. Die erste näherte sich der Toten, stupste sie sanft mit dem Schnabel und trat zurück. Eine zweite tat es ihr nach. Eine dritte flog weg und kam mit Gräsern im Schnabel zurück, die sie neben den Leichnam legte. Die vierte tat dasselbe. Sodann blieben alle vier noch für einige Sekunden bei der Toten stehen, bevor sie davonflogen.
TierforscherInnen berichten solche Trauerrituale auch von Elefanten. Und aus dem Zusammenleben mit Haustieren kennen viele von uns Hunde oder Katzen, die nichts mehr fressen wollen, weil ihr Herrchen bzw. Frauchen gestorben ist. Und manche sterben sogar gleich hinterher.
Alles Projektion, alles Interpretation? So wirklich können wir doch gar nicht wissen, was so ein Tier fühlt? Stimmt. Der in London lehrende deutsche Biologe Volker Sommer schreibt dazu: „Im streng wissenschaftlichen Sinne wissen wir über das Gefühlsleben anderer Lebewesen immer noch herzlich wenig – und müssen wir deshalb weiterhin weitgehend mit dem Herzen entscheiden.“ Auch das stimmt. Aber es gilt auch für das Gefühlsleben anderer Menschen. Oder?
Doch ich muss aufhören. Es rappelt an meiner Türe. Frizzi. Ich weiß nicht, wie sie es macht – aber es klingt immer, als würde sie sehr energisch anklopfen.
Alice Schwarzer