Silvester: Wie Hesham Caitlin rettete
Das ist Hesham Ahmad Mohammad aus Syrien. Er ist 32 Jahre alt, Grundschullehrer und seit sechs Monaten in Deutschland. Aus seiner Heimatstadt Azaz nahe der türkischen Grenze ist er vor dem Krieg geflohen. Hesham ist der Mann, den die 27-jährige Amerikanerin Caitlin Duncan ihr Leben lang nicht vergessen wird. Er hat sie in der Silvesternacht am Hauptbahnhof gerettet, getröstet und vor noch mehr Leid beschützt. Während Hesham mir die Geschichte dieser Nacht mit Caitlin erzählt, muss ich mich irgendwann sehr zusammenreißen, um nicht loszuweinen. Zu weinen aus Erleichterung, dass es auch solche Männer gibt.
Sie waren zehn
und versuchten,
sich Caitlin
zu greifen
Angefangen hatte alles damit, dass Hesham sich am Silvesterabend mit seinen sieben Freunden, mit denen er geflüchtet war, verabredete. Sie waren, bis auf zwei, alle in ganz unterschiedlichen Städten gelandet, wie Bonn, Trier oder Paderborn. Hesham kam mit Abdulla nach Waldbröl, einer Kleinstadt östlich von Köln. Die acht trafen sich am Hauptbahnhof, der für alle am einfachsten zu erreichen war. Hesham hatte das vorgeschlagen. „Auch“, sagt er, „weil ich mal den Dom sehen wollte“.
Sie kamen gegen 20 Uhr an, gingen erst einmal essen und dann zum Rhein. „Die Leute hatten uns gesagt, da ist es am schönsten an Silvester.“ Gegen halb zwölf gingen die Freunde zurück zum Bahnhof, um nach Hause zu fahren. Hesham: „Da ging es wüst zu, viele waren betrunken oder hatten Drogen genommen. Vor allem junge Männer, aber auch ein paar Mädchen. Wir hatten nur Cola getrunken und guckten uns das vom Eingang des Bahnhofs aus an.“ Es wurde immer ungemütlicher. Die Spannung stieg. Über Megaphon kam die Aufforderung der Polizei, das Gelände zu verlassen.
Hesham und seine Freunde wichen nach rechts aus, Richtung der Kirche Sankt Mariä Himmelfahrt. Und da stand sie: Eine schluchzende junge Frau mit langen blonden Haaren. „Can I help you?“ fragte Hesham, der fließend Englisch spricht. Die junge Frau warf einen misstrauischen Blick und wandte sich ab. Aber sie hörte nicht auf zu schluchzen. Hesham fragte sie also noch einmal und noch einmal: „Kann ich dir helfen?“
Caitlin & Sebastian
fielen sich in
die Arme!
Weinend sagte die junge Frau schließlich: „Ich suche meinen Freund. Die haben mich von ihm weggerissen.“ Wie sieht der Freund denn aus? „Er hat einen kleinen weißen Rucksack, eine schwarze Jacke und lange Haare.“ Den Freund anrufen? Ging nicht, Caitlin hatte ihr Handy und Geld in dem weißen Rucksack. Die acht beratschlagten und entschieden: Sieben gehen den Freund suchen und Hesham bleibt bei der Frau.
Nun war Hesham mit ihr allein - und da kamen sie auch schon wieder. Sie waren zu zehnt und versuchten, sich Caitlin zu greifen. Die Frau schrie mit einer sehr hellen, sich überschlagenden Stimme „Help me!“, erinnert sich Hesham. „Da habe ich mich vor sie gestellt und gesagt: „Lasst sie in Ruhe! Wenn sie jemand anfasst, kriegt er Ärger mit mir!“ Doch die Bande kam immer näher. Hesham sprach schließlich so laut, dass ihn seine Freunde hörten. „Wir hätten uns mit denen auch geschlagen!“ sagt er. Die acht bildeten einen Kreis um Caitlin. Und dann, als die Frau im Kreis stand, lächelte sie zum ersten Mal. „Sie hatte Vertrauen gefasst“, sagt Hesham. „I was very happy.“
Nun versuchte Hesham, Caitlin Geld zu geben für ein Taxi, denn die Lage wurde immer bedrohlicher. Aber die wollte nicht ohne ihren Freund gehen: Sebastian mit dem kleinen weißen Rucksack.
Also schwärmten wieder alle aus, nur Hesham blieb bei ihr. Er fragte sie, wo sie Sebastian denn zum letzten Mal gesehen hatte: rechts vom Eingang zum Bahnhof. Also kämpften die beiden sich durch das Gewühl an diese Stelle. Hesham hatte nur Augen für eins: einen kleinen weißen Rucksack – und tatsächlich, da war er. Etwa 20 Meter entfernt, mitten im Gewühl. Hesham beschwor Caitlin, auf der Stelle zu bleiben und hechtete hinter dem Rucksack her. Sebastian!
In Azaz fallen
die Bomben
Tag und Nacht
Caitlin und Sebastian rannten aufeinander zu und fielen sich in die Arme (Das war die Stelle, an der ich sehr, sehr schlucken musste).
„Inzwischen machte ich mir auch Sorgen um meine Freunde“, sagt Hesham. „Denn die Lage wurde wirklich gefährlich und die Feuerwerkskörper waren überall, über unseren Köpfen und zwischen unseren Beinen.“ Doch auch die Freunde wurden wiedergefunden und waren überglücklich, Caitlin und Sebastian vereint zu sehen. Klar, dass alle Namen und Handynummern tauschten und „Freunde fürs Leben“ bleiben wollen.
Jetzt gibt es nur noch ein Problem: Heshams Frau, ebenfalls Lehrerin, und seine beiden kleinen Söhne sitzen im zerbombten Azaz, einer kleinen Stadt zwölf Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Die Bomben fallen, Tag und Nacht. Hesham will Frau und Kinder von dort von Freunden in die deutsche Botschaft nach Ankara bringen lassen – aber dazu muss der Syrer zunächst als Asylsuchender anerkannt sein. Die Befragung hat er schon hinter sich, aber bis dann der Bescheid kommt, kann es Monate dauern. Und erst dann kann er eine Kopie seines Ausweises an die Botschaft schicken – was die Voraussetzung dafür ist, dass Heshams Familie ihm nach Waldbröl folgen darf.
Es wäre wunderbar, wenn die deutsche Bürokratie Hesham so spontan helfen könnte, wie er Caitlin geholfen hat.
Alice Schwarzer
PS vom 10. März 2016: Nach zwei schrecklichen Wochen der Funkstille bekam Hesham wieder Kontakt mit seiner Frau und den Kindern. Die drei waren aus Syrien durch die Berge geflüchtet: vier Tage und Nächte zu Fuß. Jetzt sind sie bei Heshams Bruder in der Türkei. Hesham hat inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis und die Anerkennung als Flüchtling - und damit auch das Recht auf Familienzusammenfügung. Einem Happy End steht nur noch ein paar überwindbare bürokratische Hürden im Weg.