Jeanne Moreau - alterslos sinnlich
„Rendezvous im Lorraine, Mittwoch, 13 Uhr“, sagt Jeanne mit ihrer tiefen Stimme, bevor sie auflegt. The voice. Ich bin fassungslos. So einfach ist es also, ein Treffen zwischen zwei Ikonen zu organisieren? Meine letzten Befürchtungen verschwinden, als Marianne Faithfull sich in die Arme von Jeanne Moreau wirft. Küsschen, „my darling“, sie streichen sich übers Haar wie zwei alte Freundinnen. Es gibt nicht viele Künstlerinnen wie die beiden, die über vierzig bis sechzig Jahre Vorbilder geblieben sind, unangepasst und nur ihren Interessen folgend. Künstlerinnen bis in die Fingerspitzen, unkorrumpierbar, unverstellt. Sie waren sich vorher noch nie begegnet, „außer bei dem Dinner in Rom, erinnerst du dich, Marianne?“
Marianne Ich habe dich in „Le Condamne à Mort“ mit Étienne Daho gesehen. Phantastisch.
Jeanne Das war magisch! Gerade habe ich ein Video mit den „Têtes Raides“ aufgenommen. Die Welt der Popmusik macht wirklich Spaß.
Marianne Deine Musik-Karriere ist beeindruckend. Ich habe jetzt für die Sonetten von Shakespeare mit dem Violinisten Vincent Ségal gearbeitet. Das war super. Ich liebe den Rock’n’Roll und die Popmusik, aber es ist gut, auch mal was
anderes zu machen.
Jeanne (ihr Champagnerglas schwenkend) Spezialisierung ist von gestern. Wir sind immer in alle möglichen und vorstellbaren Richtungen gegangen: Theater, Film, Chanson. Das ist wichtig für den Esprit. Es hat was Spirituelles, auch wenn ich das Wort nicht mag.
Marianne Wer hätte vor zwanzig Jahren geahnt, dass du einen Textabend machst und damit die Säle füllst. Unglaublich!
Jeanne Ich liebe die Herausforderung, die Aktion. Wir machen etwas Neues. Und das Publikum schätzt das. In den 60er Jahren haben die Regisseure das Mysterium Frau inszeniert. Damit war Schluss nach Jean Eustaches Film „Die Mama und die Hure“. Heute sind wir freier. Ich hatte wirklich viel Glück.
Marianne (ihren Hummer knackend) An deinen Filmen liebe ich, dass die Frauen darin verehrt werden, sie waren ein wahrer Kult. Manchmal sogar Göttinnen.
Jeanne Oder Rätsel.
Marianne Jules et Jim, Eva, oder dieser Film mit Mastroianni.
Jeanne Die Nacht.
Marianne Es gibt eine Szene, wo du fünf Minuten lang nur lachst. Das ist phantastisch. Heute wäre es unmöglich, so etwas zu machen.
Jeanne (beschäftigt mit ihrem Seeigel) Das spiegelt die Welt, unsere Gesellschaft.
Marianne Ich bedauere das Ende dieser Epoche. Heute wollen sie die Frauen klein machen. Diese armen Mädchen, die man wie Tempotaschentücher benutzt.
Jeanne Sie werden immer frauenfeindlicher.
Finden Sie, dass es rückwärts geht? Sind die Errungenschaften des Feminismus bedroht?
Jeanne Der Feminismus ist ein Virus. Ich war nie Feministin! Ich habe mich nie engagiert!
Aber Sie haben doch profitiert vom Feminismus: Die Pille, das Recht auf Abtreibung, die freien Sitten!
Jeanne Ich habe von nichts profitiert. Für mich ist das alles zu spät gekommen. Ich bin schließlich 1928 geboren, mein Kleiner. Als die Pille in Frankreich legalisiert wurde, was denkst du, da hatte ich schon fünf Fehlgeburten und konnte keine Kinder mehr kriegen. Darum habe ich damals das „Manifest der 343“ unterschrieben („Ich habe abgetrieben“).
Marianne Mir hat der Feminismus genutzt! Ich hatte „Das andere Geschlecht“ gelesen und die Bücher von Germaine Greer. Wir standen in der ersten Reihe, aber wir waren Schauspielerinnen, keine Aktivistinnen. Dazu hatte ich keine Lust und ich hatte es auch nicht nötig. Ich war eine freie Frau.
Jeanne Das Gute an Beauvoirs Buch war, dass sie nicht verlangt hat, dass man sich engagiert – im Gegensatz zu Germaine Greer.
Marianne Ich war während der feministischen Revolution einfach zu beschäftigt. Außerdem machte die Pille dick. (lächelt) Wir sind vorsichtige Feministinnen. Und wenn man älter wird, lebt man den Feminismus nicht mehr, man beobachtet ihn. Das hat etwas damit zu tun, dass man nicht länger eine Sklavin des Sex ist.
Ihrer beider Mütter waren Tänzerinnen.
Marianne Deine Mutter war Tänzerin?
Jeanne Ja. Meine Mutter war eines der Tiller Girls! Sie hat in der ersten Revue von Josephine Baker im Folies Bergères getanzt.
Marianne Meine Mutter hat in Wien und Berlin getanzt.
Wie war das denn, mit Müttern groß zu werden, die so eine körperliche Disziplin hatten?
Marianne Für mich war das sehr gut. Das Tanzen hat mir meinen Körper bewusst gemacht. – Und du, hast du auch Tanzen gelernt?
Jeanne Nein. Das einzige, was ich von meiner Mutter gelernt habe, ist, dass die Ehe eine Katastrophe ist. Sie war vollkommen zerstört, weil sie ein Kind erwartete, mich, das nicht gewünscht war. Sie hat heiraten müssen, das war das Ende ihrer Karriere.
Marianne Meine war während des Krieges in Wien und hat sich in meinen Vater verliebt, einen dieser extravaganten Engländer. Es war für sie sehr schwierig gewesen in der Nazizeit, und von den Russen war sie vergewaltigt worden. Sie wollte heiraten, um all das zu vergessen, ein neues Leben zu beginnen. Aber mein Vater war verrückt, einer von diesen mad Englishmen, sehr exzentrisch. Ich habe ihn angebetet, aber zwischen den beiden lief es schlecht. Sie haben sich getrennt. Meine Mutter hat wieder begonnen zu tanzen. Und ich habe es auch gelernt. – Übrigens, Jeanne, deine Stimme ist genau das, was ich immer wollte. Vor allem in den Filmen Anfang der 60er Jahre. Deine Stimme war mein Vorbild, und ich habe versucht, genauso zu klingen – ich glaube, ich habe es nicht geschafft. Du aber hattest immer schon diese tiefe, starke Stimme, sehr erotisch. Wollen wir nicht mal was zusammen machen?
Jeanne Verabreden wir uns doch gleich für nächste Woche!
Marianne Ich glaube, in den 60er Jahren hat niemand wirklich verstanden, was ich gemacht habe. Ich selber übrigens auch nicht. Ich wollte mich nur amüsieren …
Jeanne So bist du. Ich habe mich nie wirklich amüsiert! Marianne amüsiert sich – ich nehme alles ernst.
Marianne Ich will übermütig sein. Ich nehme eine Crêpe flambée zum Nachtisch.
Jeanne Ich ein Pistache-Eis. Ich bin eher dunkel. Du bist die sichtbare Seite des Mondes, ich die unsichtbare.
Marianne Aber du kannst dich doch auch amüsieren, oder?
Jeanne Nein. Die einzigen Male, bei denen ich mich amüsiere, ist, wenn ich so deprimiert bin, dass ich über mich selbst lachen muss. Ich sehe einfach alles, das ist schrecklich.
Marianne Gab es keine Behandlung dagegen für dich? Man darf nicht zögern, Medikamente zu nehmen.
Jeanne Ich nehme seit 1973 nur homöopathische Mittel, keine Medikamente.
Marianne Ich glaube, dass das helfen könnte. Mir jedenfalls hilft es.
Jeanne Nein. Ich will nicht. Ich ziehe es vor, die Gründe zu begreifen.
Marianne Ich habe vor drei Jahren entdeckt, dass ich klinisch depressiv bin. Niemand wusste es. Ich auch nicht.
Jeanne Ich habe eben einfach ein dunkles Wesen. Die Weltlage zum Beispiel berührt mich sehr. Du, du hast nicht während der Besatzung in Paris gelebt!
Marianne Nein. Aber meine Mutter war kriegstraumatisiert. Also habe ich das auf eine gewisse Art auch durchlebt.
Jeanne Ich bin mit meiner Mutter zu Fuß geflohen. Damals habe ich meine erste Leiche gesehen. Wir wurden von deutschen Flugzeugen beschossen. Meine Mutter ist mit meiner kleinen Schwester in einen Heuhaufen gelaufen. Mich hat
man in einen Graben gestoßen und ein Typ hat sich über mich geworfen. Als ich wieder aufstand, war ich voller Blut und der Typ über mir war tot. Er hat mir das Leben gerettet. – Genug geredet. Zeige mir deine Handtasche, sie ist hinreißend!
Marianne Deine auch. Das ist doch eine Vuitton, ist da kein Logo drauf?
Jeanne Nein. Ich finde Logos vulgär. Du nicht?
Das Gespräch führten Perrine Beaufils, Bertrand Dicale und Liliane Roudière. Es erschien zuerst in Causette.