Liebe Laurie, es ist noch ärger
Die 29-jährige Laurie Penny ist eine der interessanteren Stimmen des so genannten „jungen Feminismus“. In ihrem neuen Buch, in dem es um Sex & Politik geht, schreibt sie: „Wir wissen über Sex eigentlich nicht mehr als unsere Eltern.“ Ein offenes Wort. Aber sorry, Laurie, es ist leider noch ärger. Ihr wisst über Sex weniger als eure Eltern, genauer gesagt: als eure Mütter. Denn die waren in einer Zeit jung, in der „The Dialectic of Sex“ von Shulamith Firestone, „Die Potenz der Frau“ von Mary Jane Sherfey, der Hite-Report oder auch mein „Kleiner Unterschied“ erschienen. In diesen Büchern stand, jenseits der auch von dir zu recht beklagten Lügen und Mythen, die Wahrheit über die Fremdheit der Geschlechter und die Lust bzw. Unlust der Frauen.
Für die weibliche Lust ist die Penetration entbehrlich
Wir Feministinnen begnügten uns nicht mehr mit dem Zählen von Orgasmen und Benennen von Stellungen & Positionen, wie die Sexualwissenschaft in dieser Zeit. Wir trennten nicht länger Sexualität & Liebe & Leben. „Sexualität“, schrieb ich 1975 im „Kleinen Unterschied“, „ist zugleich Spiegel und Instrument der Unterdrückung der Frauen in allen Lebensbereichen. Hier steht das Fundament der männlichen Macht und weiblichen Ohnmacht. Hier wird die heimliche Wahrheit mit der öffentlichen Lüge zum Schweigen gebracht.“
So wurde aus dem privaten schwachen Ich ein öffentliches starkes Wir. Die Frauen erkannten: Ich bin mit meinen Sehnsüchten, Ängsten und Problemen nicht allein. Die anderen haben ganz ähnliche Gefühle – und ganz ähnliche Gründe für diese Gefühle. Wie das damals war, schrieb mir vor ein paar Tagen Susanne N.: „Ich erinnere mich noch ganz genau an die Nacht vor 40 Jahren, als ich den ‚Kleinen Unterschied‘ las, in einem Rutsch von der ersten bis zur letzten Seite. Wie einst Phönix aus der Asche startete ich am nächsten Morgen in ein anderes Leben mit einem neuen Bewusstsein, das mich mit Stolz erfüllte.“ Und ebenfalls erst vor wenigen Wochen schrieb mir die (verheiratete) 30-jährige Judith W.: „Dem ‚Kleinen Unterschied‘ ist es zu verdanken, dass ich mich heute jederzeit auf einen Stuhl stellen würde, um auszurufen: Ich bin Feministin! Gelesen habe ich ihn zum ersten Mal, als ich Anfang zwanzig war. Ein Aha-Erlebnis folgte dem anderen.“ Das Buch aus dem Jahre 1975 ist ein Longseller und wird Jahr für Jahr neu gedruckt.
Sexualität ist Spiegel und Instrument der Unterdrückung
Sicher, seit damals ist viel passiert. Frauen sind unabhängiger und selbstbewusster geworden, Männer nachdenklicher (nicht alle, aber viele). Doch wo Fortschritt ist, ist immer auch Rückschlag. Zu mächtig sind die Kräfte, die ein Interesse daran haben, Veränderungen zu verhindern, weil sie vom Bestehenden profitieren. Und so manches Mal taucht das Alte auch nur im neuen Gewand auf.
Die Großmütter der Laurie-Generation hatten noch einem Mann zur Verfügung zu stehen, und das möglichst lustlos. Die Mütter hatten vielen Männern zur Verfügung zu stehen, und das möglichst lustvoll, zumindest hatten sie so zu tun. Doch dann kamen wir Feministinnen und sagten es laut: Die so genannte „sexuelle Revolution“ ist ein Männerding – auf Kosten der Frauen.
Nun begannen die Frauen, sich auf sich selbst zu besinnen, auf ihr Leben, ihr Begehren, ihren Körper. Doch genau dieses Wissen um den eigenen Körper und die eigene Lust scheint schon wieder verloren zu gehen. So konstatieren Jugendforscher mit Schrecken, dass die Jugendlichen (vor allem die männlichen) zwar Pornos konsumieren, aber keine Ahnung vom Sex haben.
Und mir fällt auf, dass auf meiner Webseite ein Text aus dem Jahre 1977 der meistgeklickte ist, Titel: „Penetration“. Diesen Begriff, der aus dem Französischen kommt, hatte ich damals im „Kleinen Unterschied“ sozusagen „erfunden“, mangels passender Begriffe im Deutschen für den Koitus. In dem Text greife ich meine zentrale These zum körperlichen Ablauf des Orgasmus wieder auf. Ich frage, warum die Frauen eigentlich den ganzen Ärger mit dem Lust-Frust und der Verhütung auf sich nehmen, obwohl der Koitus doch nur unentbehrlich ist zum Zeugen von Kindern – nicht aber zum Erzeugen von Lust.
Und die Sexualität ist untrennbar von Liebe und Leben
Denn das körperliche weibliche Sexualorgan – und Pendant zum Penis – ist die Klitoris, dieser kleine Zipfel am oberen Ende der inneren Schamlippen, der sich innerhalb des Körpers mit einem gewaltigen Volumen an Schwellkörpern fortsetzt – größer als das männliche Sexualorgan. Zwar ist das eigentliche „Sexorgan“ der Kopf, in dem spielt sich alles ab -, aber das körperliche Zentrum ist eben nicht die Vagina, sondern die Klitoris. Das war damals heftig umstritten, ist jedoch inzwischen längst unstrittig.
Diese Klitoris kann, je nach Körperbau, beim Penetrieren direkt oder indirekt berührt werden – oder auch nicht. Und damit fängt die ganze Sex-Misere schon an: Dass viele Frauen nicht darauf bestehen, entsprechend stimuliert zu werden – oder schlimmer noch: es selbst nicht wissen. So kam zum Beispiel bei einer Umfrage des Hamburger Instituts für Sexualforschung zum Sexualverhalten von Studentinnen 2014 heraus, dass 90 Prozent nur den Koitus praktizieren. Da dürfen die Frauen sich nicht wundern, wenn ihre Lust auf der Strecke bleibt.
Mein Arbeitstitel vom „Kleinen Unterschied“ lautete damals: Sexmonopol. Damit war die Fixierung auf den Koitus gemeint, ergo auf die Heterosexualität als dem einzig „richtigen“ Sex. Dieses Sexmonopol haben Feministinnen meiner Generation infrage gestellt, ja erschüttert. Frauen begannen, nun auch ihr Recht auf Lust einzufordern. Manche verliebten sich plötzlich in eine Frau. Oder sie ließen sich scheiden und veränderten ihr Leben.
Die Pornografie propagierte dann erneut das "Bumsen"
Denn die Sexualität ist natürlich untrennbar vom Leben. Sie ist der Kern der Rollenzuweisung zu „weiblich“ oder „männlich“. Wie universell das ist, habe ich selber immer wieder erfahren. So erzählte mir Anfang der 1980er Jahre eine Soziologin in Athen Folgendes: Eine von ihr initiierte Gruppe von Fischersfrauen auf Zypern las gerade den „Kleinen Unterschied“ (der war als eines der ersten feministischen Bücher in Griechenland nach der Militärdiktatur erschienen). Die Frauen trafen sich einmal in der Woche und redeten. Ihr Code war, dass sie sagten, „Ich bin Fall 4“ oder „Ich bin Fall 8“.
Und noch ein Beispiel: Ein Vierteljahrhundert später erschien „Der kleine Unterschied“ in Südkorea. Eine Koreanerin schrieb mir: „Alice, ich habe dein Buch gelesen. Und ich hatte das Gefühl, dass du mich kennst. Du hast exakt mein Leben beschrieben.“
Als ich den „Kleinen Unterschied“ schrieb, hatte ich sehr gezielt ein möglichst repräsentatives Sample von 17 Frauen befragt: im Alter von 21 bis 53, Hausfrauen oder Karrierefrauen, in Metropolen oder Kleinstädten, zufrieden oder unglücklich, in (überwiegend) heterosexuellen Beziehungen oder in (heimlichen) homosexuellen. Ich hatte gehofft, dass sich so ein Maximum der Leserinnen identifizieren könnte mit den exemplarischen Fallstudien. Meine Hoffnungen wurden weit übertroffen. Nicht nur in deutschsprachigen Ländern, sondern auch in fernen Kontinenten.
Solche Reaktionen zeigen, dass es zwar Unterschiede gibt zwischen den Frauen, und manchmal gewaltige!, dass jedoch gleichzeitig universelle Gemeinsamkeiten existieren, die alle Frauen auf der Welt verbindet: Sie liegen im „privaten“ Bereich, in der Sexualität, dem Begehrtwerden und der Liebe – und den Folgen.
Wir feministischen Pionierinnen haben darum genau diese Bereiche aus dem schummrigen Dunkel der „Privatheit“ in das Licht der politischen Reflektion geholt. Das ist gemeint mit dem viel missverstandenen Satz: Das Private ist politisch. Das war unser großer Tabubruch. Mit den bekannten Folgen.
Die erste Reaktion auf die neue Lust der Frauen war direkt Mitte der 1970er Jahre die Entfesselung der bis dahin nur unter dem Ladentisch gehandelten Pornografie. Sie machte Frauen erneut zum Objekt und propagierte wieder das „Bumsen“, also bestärkte das Sexmonopol der Männer. Die heute Jüngeren sind die erste voll pornografisierte Generation.
Die zweite Reaktion auf unsere Forderung nach Gleichheit war eine erneute Betonung des angeblich für das gesamte Individuum entscheidenden biologischen Unterschiedes sowie die verstärkte Propagierung des kulturellen Unterschiedes zwischen den Geschlechtern, Stichwort: Pink, Highheels und die ganze „neue Weiblichkeit“. Motto: Ich bin emanzipiert, aber trotzdem ganz Frau geblieben (Was immer das bedeuten mag).
Heute täuscht jede Zweite mal
oder öfter
Orgasmen vor
Die dritte Reaktion ist die Wiederherstellung der Sex-Ordnung. Und dazu trägt ironischerweise ausgerechnet die Akzeptanz der Homosexualität bei. Wir frühen Feministinnen hatten das Primat der Heterosexualität „dekonstruiert“ (wie es heute im akademischen Terminus heißen würde). Wir hatten die Sexualität von den Normen befreit und erklärt: Alles ist möglich! Menschen können Menschen lieben, unabhängig vom biologischen Geschlecht.
Genauso hatte in den 1970er Jahren auch die Homosexuellenbewegung argumentiert. Doch das hat sich inzwischen gedreht. Heute argumentieren die Homo-Bewegungen meist im Namen einer „angeborenen“ Homosexualität (Was auch wissenschaftlich unhaltbar ist) oder einer irreversiblen Prägung der „sexuellen Orientierung“ (Dabei wissen wir längst um die Plastizität des Gehirns und die lebenslang möglichen neuronalen Veränderungen). Sexuelle Präferenzen sind nicht Natur, sondern Kultur. Die ausschließliche Homosexualität ist nur die andere Seite der Medaille „Zwangsheterosexualität“ (Psychoanalytiker Sándor Ferenczi). Das Subversive war die Sprengung dieser Normen!
So ganz spurlos ist diese Revolution allerdings nicht an den Menschen vorbeigegangen. So erklärten 2014 in der bereits zitierten StudentInnen-Befragung 60 Prozent aller Studentinnen, sie hätten schon mal eine Frau begehrt. Gleichzeitig aber definierten dieselben Studentinnen sich zu nur 2 Prozent als „homosexuell“ und 3 Prozent als „bisexuell“. Wo sind die 55 Prozent geblieben?
Ich vermute, dass in einer Zeit der starren Einteilung in Entweder-hetero-oder-homo die Menschen zögern, die Normen zu verletzen und lieber in die gute alte Schublade zurück schlüpfen (Die so genannte Queerbewegung, die gleichzeitig existiert, beschränkt sich auf eine kleine Szene und ist nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen). Es gibt also einerseits eine größere Freiheit, jenseits der immer noch geltenden Hetero-Norm zu leben – gleichzeitig aber gibt es einen größeren Druck zur Festlegung.
Wo also stehen wir heute in Sachen Sex? Die Sexualwissenschaft spricht seit Jahren von der Zunahme eines „kommunikativen“, gleichberechtigten Sex. Gleichzeitig aber signalisieren Studien, dass die Lustlosigkeit der Frauen wieder steigt. Jede zweite hat schon mal oder öfter einen Orgasmus vorgetäuscht, jede Dritte hat schlicht überhaupt keine Lust. – Waren wir da nicht schon mal weiter?
Alice Schwarzer
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Dossier: Sexualität & Liebe in EMMA September/Oktober 2015. Ausgabe bestellen