Meisjes auf der Messe
Liebe Nachbarinnen,
in diesem Jahr ist mein Land Gast auf eurer Buchmesse in Frankfurt. Und vermutlich rechnet ihr mit vielen, sehr emanzipierten Holländerinnen. „Ihr seid natürlich viel emanzipierter als wir!“ Das ist eine Bemerkung, die ich oft höre, wenn ich mit deutschen Frauen spreche. Aus irgendeinem Grund scheint ihr zu denken, dass wir auf dem Gebiet der Emanzipation mehr erreicht hätten als ihr. Ich könnte ja einfach stolz nicken. Aber die Wahrheit ist: Wir Niederländerinnen sind nicht so emanzipiert, wie ihr denkt.
Die Emanzipa-
tion im Land der Königinnen ist stecken geblieben
Klar, wir sehen zupackend aus mit unseren großen, kräftigen Körpern und unseren stämmigen Beinen, die dafür gemacht scheinen, schnell durch die Polder zu stapfen. Wir tragen lieber lässige Pullover und derbe Stiefel, als uns nach der letzten Mode zu kleiden. Selbst wenn es tüchtig regnet – was für gewöhnlich der Fall ist in den Niederlanden –, steigen wir auf unsere Fahrräder, auf denen wir zwei, manchmal drei Kinder befördern, plus Einkaufstasche.
Ihr werdet denken, dass so unerschrockene Frauen kurzen Prozess gemacht haben mit der Benachteiligung von Frauen. Aber leider ist die Frauenemanzipation im Land der Königinnen stecken geblieben. (Gerade haben wir einen König – aber der ist eine Ausnahme. Die nächste Königin steht schon in den Startlöchern.)
Klar, wir haben einiges erreicht. Wir hatten großartige Vorkämpferinnen für die Frauenrechte. Die frühen Frauenrechtlerinnen haben dafür gesorgt, dass wir 1919 das aktive und passive Wahlrecht erhielten – zwei Jahre früher als die Schwedinnen, aber ein Jahr später als ihr.
In den 1970er Jahren hatten wir eine fantastische feministische Bewegung, die „Dolle Mina“ – benannt nach der unvergleichlichen Erste-Welle-Feministin der Niederlande, Wilhelmina Drucker. Die Dollen Minas zettelten zahlreiche kreative Aktionen an. Legendär waren zum Beispiel die Aktionen, bei denen sich Dolle-Mina-Aktivistinnen mit der Parole „Baas in eigen buik“ (Unser Bauch gehört uns!), die sie sich auf die bloßen Bäuche geschrieben hatten, für das Recht auf Abtreibung demonstrierten. Wir bekamen das Gesetz, das die Abtreibung innerhalb der ersten drei Monate legalisierte, im Jahr 1984. Aber schon seit Anfang der 1970er Jahre war unsere Praxis so liberal, dass deutsche Frauen in unsere Abtreibungskliniken kamen.
In den 1970er Jahren strömten holländische Frauen in großer Anzahl in den Arbeitsmarkt. Es waren goldene Zeiten für die Frauen. Aber seither ist es ruhig geworden in den Niederlanden. Ein bisschen zu ruhig für meinen Geschmack.
Viele Frauen sind in die Falle geraten, die wir hier das „Eineinhalb-Verdiener-Modell“ nennen. Wenn Kinder kommen, geht der Mann weiter Vollzeit arbeiten, während die Frau sich mit einer Halbtags-stelle zufriedengibt. Mit anderen Worten: Er macht Karriere, während sie ein nettes Zubrot verdient. Knapp drei von vier Holländerinnen arbeiten Teilzeit. Damit sind wir die Europameisterinnen im Teilzeitarbeiten. Gerade mal jede zweite Niederländerin ist ökonomisch selbstständig.
Viele Frauen erzählen stolz, dass sie selbst sich für diese Lösung entschieden hätten. Tatsächlich stehen niederländische Frauen unter hohem sozialen Druck, denn wir haben hier noch immer ein quasi ungebrochenes Mutterschaftsideal. Wenn Eltern ihr Kind mehr als drei Tage in die Kinderkrippe bringen, erntet die Mutter dort finstere Blicke – der Vater nicht. Seit der niederländische Staat die Kitas zudem harten Sparmaßnahmen unterzog, ist es sehr teuer geworden, sein Kind in der Krippe betreuen zu lassen.
In den vergangenen 30 Jahren ist der Anteil der Männer, die putzen oder Windeln wechseln, um ganze fünf Prozent gestiegen – von 29 auf 34 Prozent. Aber lustigerweise finden niederländische Männer, dass sie durchaus viel tun. 2012 ermittelte die Universität von Wageningen in einer Studie, dass Männer meinen, sie übernähmen 80 Prozent der Hausarbeit. Die Frauen schätzten dagegen diesen Anteil auf 29 Prozent …
Viele sind in die Falle „Eineinhalb
-Verdiener-Modell“ geraten
Was den Anteil von Frauen in Führungspositionen angeht, will es auch nicht recht klappen in den Niederlanden. Die Ministerin für Gleichstellung, Jet Bussemaker, hat die niederländischen Unternehmen aufgefordert, bis 2016 30 Prozent ihrer Top-Jobs mit Frauen zu besetzen. Sie setzte aber keine Sanktionen fest, sondern drohte mit einer Quote. Resultat: Die 30 Prozent sind noch lange nicht erreicht, und die Quote kommt auch nicht.
Auch der Anteil weiblicher Professoren bietet in den Niederlanden wenig Gelegenheit zur Freude: Er liegt bei 17 Prozent. Und dann ist da noch die Teilhabe von Frauen in der Politik: Sie ist auf dem Rückzug. Die Anzahl weiblicher Parlamentsmitglieder ist von 41 auf 37 Prozent gesunken. Gerade mal einer von fünf BürgermeisterInnen in den Niederlanden ist eine Frau. Und im Gegensatz zu euch hatten wir noch nie eine Frau als Regierungschefin.
Die letzte feministische Politikerin war Myrthe Hilkens, die für die sozialdemokratische „Partij van de Arbeid“ im Parlament saß. Sie ist Autorin eines großartigen Buches über die Pornografisierung der Gesellschaft (das in Deutschland unter dem Titel „McSex“ erschien). Hilkens hatte den Mut, als Politikerin offen das Problem der Prostitution anzusprechen, die wir im Jahr 2000 offiziell als Gewerbe anerkannt haben. Als Hilkens nach Schweden reiste, um sich anzuschauen, wie das dortige Sexkaufverbot funktioniert, wurde sie in Holland bedroht und für verrückt erklärt. Inzwischen hat sie dem Parlament den Rücken gekehrt.
Tja, und so kann es passieren, dass man als modernes und von seinen NachbarInnen respektiertes, vielleicht sogar bewundertes Land im Global Gender Gap nur auf Platz 13 landet. Deutschland ist Nummer 11.
Wir haben in den Niederlanden auch keine starke feministische Galionsfigur wie Alice Schwarzer. Doch es gibt auch Hoffnungsträgerinnen: feministische Schriftstellerinnen, Kolumnistinnen, Bloggerinnen, die Klartext schreiben und Debatten auslösen. Die Kabarettistin Anke Laterveer erzählte letztes Jahr zum Beispiel in einer populären Talkshow über ihre Vergewaltigung und rief Frauen auf, unter dem hashtag #zeghet (Sag es!) über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu twittern. Ihr Aufruf fand massenhaft Gehör.
Unlängst kam eine Sammlung feministischer Essays junger Autorinnen heraus: „Frauen schreiben nicht mit ihren Titten“. In den Beiträgen geht es um Themen wie den Stöckelschuh-Terror oder den Beyoncé-Feminismus.
Das alles ist erfreulich, aber der Ton der jungen niederländischen Feministinnen ist oft arg brav. Die Frechheit und Streitbarkeit der 70er Jahre, als Opzij den Leitspruch „Möse riecht lecker“ auf ihr Cover setzte, ist verschwunden.
Feministinnen haben es natürlich auch nicht leicht: Man wird in den Niederlanden schnell als moralinsaure Meckerfeministin abgetan, wenn man sich darüber beschwert, dass in Talkshows so wenig Frauen sitzen, oder darüber, dass in einem Spielzeug-Prospekt wieder nur Mädchen mit Bügeleisen und Staubsaugern zu sehen sind. Viele niederländische Frauen nennen sich lieber nicht Feministin, weil das Wort „so ein schlechtes Image hat“.
Bei uns ist Prostitution, genau wie bei euch, legalisiert. Und genau wie bei euch hat die Maßnahme den Prostituierten nichts gebracht. Im Gegenteil: Das berühmte Amsterdamer Rotlicht-Viertel „De Wallen“ ist ein bevorzugter Tummelplatz für Zuhälter. Zwar gibt es bei uns eine Handvoll Feministinnen – unter anderem ich selber – die offen erklären, dass Prostitution eine Verletzung der Menschenwürde ist. Aber dafür muss frau Mumm haben. Denn die gesamte Social-Media-Welt stürzt sich dann auf einen.
Der Ton der jungen nieder-
ländischen Feministinnen ist arg brav
Darum bin ich ein bisschen neidisch auf euch, liebe Nachbarinnen. Vor eineinhalb Jahren war ich in München auf einem Kongress zur Prostitution und ich fiel vor Staunen fast vom Stuhl. So viele Frauen, die so radikale feministische Positionen vertraten. Ich fühlte mich plötzlich wie im feministischen Schlaraffenland.
Also, wenn ihr in den nächsten Ferien mal wieder in den Niederlanden seid und uns Holländerinnen bewundernd beobachtet, wenn wir auf unseren Rädern vorbeirasen, Wind in unseren Haaren, unsere beeindruckenden Wadenmuskeln gespannt – dann wisst ihr jetzt: Wir sind noch weit entfernt vom feministischen Paradies.
Mit schwesterlichem Gruß
Renate van der Zee
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Die Frankfurter Buchmesse findet in diesem Jahr vom 19. bis 23. Oktober statt. Informationen zu Veranstaltungen: www.book-fair.com/de. Mehr über die Autorinnen auf der Buchmesse in der September/Oktober EMMA 2016. Ausgabe bestellen