Moria: die doppelte Gewalt

Ein Mädchen im Flüchtlingscamp auf Lesbos. Sexuelle Gewalt ist dort alltäglich. - Foto ANE Edition/imago images
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Auch in dem neuen Flüchtlingscamp auf Lesbos, das nach dem Brand errichtet wurde, sind die Zustände katastrophal. Und Gewalt gegen Frauen und Kinder ist an der Tagesordnung. EMMA hat für die aktuelle November/Dezember-Ausgabe mit zwei Frauen gesprochen, die nicht länger schweigen wollen. (Ihre Namen sind zum Schutz der Interviewten geändert.)

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Die November/Dezember-EMMA
Die November/Dezember-EMMA

Maria ist ehrenamtliche medizinische Helferin. Sie hört jeden Tag die Geschichten über sexuelle Gewalt von den Menschen, die sie behandelt. So wurde die Schwester einer ihrer Patientinnen vergewaltigt. Doch als sie sich an die Polizei wandte, hat die den Täter zwar mitgenommen, aber sofort wieder freigelassen. „Es fehlt das Bewusstsein, dass Frauen und Kinder konsequent beschützt werden müssen.“

Nur ein Fall von vielen. Maria: „An einem Ort wie Moria kann jeder ein Täter sein: andere Geflüchtete, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder Leute, die einfach in das Camp kommen.“ So habe sie davon gehört, dass die „Firma, die die Lebensmittel anliefert“, Familien besseres Essen im Austausch für ihre Töchter anböte.
 
Samira ist Lehrerin und aus Afghanistan vor den Taliban geflohen. Auch sie berichtet im EMMA-Gespräch über die alltäglichen Übergriffe: „Besonders betroffen sind die alleinstehenden Frauen. Wenn sie allein hier ankommen, sehen viele Männer in ihnen eine Beute.“ Samira hat schon in Afghanistan viel Gewalt gesehen, aber: „Hier ist es noch schlimmer!“
 
Das ganze Gespräch in der November/Dezember-Ausgabe lesen.

 

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Ein Weltgastrecht für Frauen

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Ein Wort wird zentnerschwer: K-R-I-E-G.

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Natürlich kennen wir das Wort, aber für die meisten von uns bezeichnet es Nachrichten von anderswo. Oder ein Etwas aus Geschichtsbüchern. Der 1. Weltkrieg ist ein fernes Gespenst. Der 2. Weltkrieg endete 1945, unsere Mütter oder Großmütter haben ihn noch erlebt. Aber wenn wir jünger als 70 Jahre alt sind? Dann sind wir Friedenskinder.

Wir kennen Erzählungen und Fotos von Elend und Luftschutzkellern. Vereinzelt noch Baulücken in Städten. Hinzu kommen aktuelle aber ferne Kriege aus zweiter Hand, Nachrichtenschnipsel, wackelige Kamerafahrten, KommentatorInnen vor hastig arrangiertem Hintergrund.

Krieg ist die Katastrophe schlechthin

Wir misstrauen den Bildern, während sie uns zugleich gefangen halten. Wenn wir aber hinsehen: Was wäre zu tun? Scham und Ohnmacht mischt sich mit der gleichwohl vorhandenen Erleichterung, „hier“ sicher zu sein.

Ein diffuser Schrecken: Krieg ist die Katastrophe schlechthin. Ich zum Beispiel empfinde neben den Bombentoten oder Schusswaffen das als ­besonders fürchterlich, was zwischen Uniformierten und Zivilisten passiert, was marodierende Milizen anrichten. Dazu das, was Schmerzen, Verletzungen, Tod wie eine Lache umgibt, die auch in Jahrzehnten nicht trocknen wird: Angst, Grauen, Trauer, Panik, Verrat. Der Zerfall jeglicher Freundschaft und Fürsorge. Zu lindern ist das nicht – oder eben durch Hass.

Hass wiederum treibt Kriegsbereitschaft und Kriegsgeschäfte weiter voran. Überhaupt, ja: die Geschäfte. „Sicherheit“ ist ein Gut, dessen Aktienkurse man durch Kriegsangst und Krieg hochtreibt. Es gibt Ökonomien des Krieges, Branchen, für die sich Krieg rechnet, und militärische Eliten, deren Handwerk er ist. Die Soldaten und neuerdings auch Soldatinnen sind nur zu verheizendes Material.

Und Waffen sind Material, das verbraucht sein will, zumal in Zeiten, in denen es kein teures (also lukratives) Wettrüsten mehr gibt. Die „neuen“ Kriege gehen darum so: Immer seltener steigen heute ganze Staaten offiziell ein. Stattdessen toben heute, wo geschossen, vergewaltigt, verstümmelt wird, die Wölfe: Warlords, Clanchefs, Milizen, Söldner, Mafia. Ein schmutziger Alptraum mit leisem Beginn und ohne Ende.

Krieg ist nach wie vor Männersache, auch das macht ihn gespenstisch. Trotz Frauen im Soldatenberuf: In der Eskalation fallen die Geschlechterrollen wieder brutal auseinander. Schon lange sterben in Kriegen prozentual mehr Zivilpersonen als Militärs. Systematische Vergewaltigungen sind ein Instrument auch der Kriegführung des 21. Jahrhunderts. Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern, die das Vergewaltigen und Morden professionell betrieben haben? Frauensache. Das Grauen geht auch nach Kriegsende im Kleinen weiter.

Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern?

Wohin also mit dem Krieg? Einfach nur hoffen, dass er uns nicht trifft? Und wenn ich etwas tun will: Wie kann ich heute noch friedenspolitische Zeichen setzen? Gibt es Friedensdemonstrationen, die hie die Waffenproduzenten und da die Warlords, marodierende Milizionäre, die Mafia beeindrucken? Oder auch nur den Sohn meiner Nachbarin, der mit Kumpels weltweit World of Warcraft spielt? Ist ja nur ein Spiel, meinte die Nachbarin, eine überzeugte Pazifistin. Unlängst meldete ihr Sohn sich als Zeitsoldat zum Bund. Gewalt öffentlich anprangern, Heroisierung verweigern, Bilderkonsum hinterfragen. Reicht das aus?

Ich habe einen Traum: Lasst uns in großem Stil weibliche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aufnehmen! Öffnet die Kindergärten für afghanische Mädchen, bietet ihren Müttern Wohnraum und einen Job, schafft Studienplätze für syrische Studentinnen, holt weibliche afrikanische Vertriebene – kurzum: Schafft ein Weltgastrecht für Frauen! Aufenthalt so weit und so lange sie es wollen. Nehmen wir den kriegführenden Parteien die andere Hälfte der Menschheit weg, ihr Ruhekissen und ihre Zukunft.

Angenommen, diejenigen, zu denen Soldaten, Waffenschmuggler, Milizionäre zurückkehren wollen, könnten mit den Füßen abstimmen.

Angenommen, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Töchter wären keine Geiseln des Territoriums mehr. Dann endlich würde Krieg sich nicht mehr lohnen.

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