Olympia: Noch nie so viele Frauen!
Dass sie eines Tages bei den Olympischen Spielen antreten würde, hatte Yusra Mardini geahnt. Aber den Weg dorthin hatte sich die 18-jährige Syrerin anders vorgestellt. Schon im zarten Alter von drei Jahren hatte ihr Vater seine Tochter ins Wasser geschickt und sie trainiert. Yusra hatte es bis in die syrische Nationalmannschaft geschafft, das Nationale Olympische Komitee förderte ihr Training. Aber als sie 13 war, war ihr Leben, wie sie es bis dahin kannte, zu Ende. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sarah floh sie im Sommer 2015 übers Meer nach Lesbos. Als der Motor des Bootes ausfiel, zogen die beiden Schwestern – die einzigen von 30 Flüchtlingen, die schwimmen konnten - das Boot drei Stunden lang an Land. Was für eine Geschichte!
Yusra floh aus Syrien übers Meer nach Lesbos
Wenn am 5. August das Olympische Feuer in Rio de Janeiro entzündet wird, wird die 18-Jährige, die inzwischen in Berlin lebt und trainiert, dabei sein. Zusammen mit weiteren drei Frauen und sechs Männern, die als „Refugee Olympic Athletes“ bei den Spielen antreten. Die Frauen, die gemeinsam mit Yusra antreten: Die Leichtathletinnen Rose Lokonyen und Anjelina Lohalith, die aus dem Südsudan nach Kenia geflohen sind und die Judoka Yolande Mabika, die aus dem Kongo flüchtete und heute in Brasilien lebt.
Das zehnköpfige Flüchtlings-Team ist aber nicht das einzige Novum bei diesen 31. Olympischen Spielen in Rio de Janeiro. Weibliche Athleten sind kurz davor, die 50 Prozent-Marke zu knacken. 45 Prozent der SportlerInnen, die in Brasilien antreten, sind weiblich. Bei den Olympischen Spielen 2012 in London waren es noch 43 Prozent, 2008 in Peking 40 Prozent. Es geht voran. Zumal, wenn man und frau bedenkt, dass Sportlerinnen bei Wiederaufnahme der Olympischen Spiele 1896 gar nicht vorgesehen waren (im antiken Athen wurden sie sowieso vom Felsen geworfen, falls sie es wagten, sich verkleidet einzuschleusen). 110 Jahre später sind Frauen in fast allen Disziplinen dabei, sogar im Gewichtheben (seit 2000) und im Boxen (seit 2012).
Und natürlich beim Fußball. Die deutschen Kickerinnen, die bereits zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung der Spiele ins Turnier gestartet sind, hatten mit ihrem 6:1-Sieg gegen Zimbabwe einen Superstart. Ob es das Team von Silvia Neid – die nach Olympia als Bundestrainerin aufhört und den Staffelstab an Steffi Jones übergibt – Gold holen wird? Nun ja. Mit den USA, Frankreich, Japan und Brasilien sind schwere Gegnerinnen zu schlagen.
Anjelina flüchtete aus dem Südsudan nach Kenia
Mindestens ein Dutzend weitere deutsche weibliche Medaillen-Hoffnungen gibt es in Rio: Zum Beispiel die neue deutsche Tennis-Queen Angelique Kerber, die es inzwischen auf Platz 2 der Weltrangliste geschafft und nur noch Serena Williams vor sich hat. Oder die äußerst imposante Kugelstoßerin Christina Schwanitz, die schon bei der Leichtathletik-WM 2015 Gold geholt hatte. Oder Lena Schöneborn, die im Modernen Fünfkampf (Fechten, Springen, Schwimmen, Laufen, Schießen) schon in Peking 2008 die Goldmedaille erkämpfte.
Allerdings gibt es immer noch Länder, die heute noch so frauenfeindlich sind wie Olympia-Gründungsvater Pierre de Coubertin anno 1896: So tritt der Irak ohne eine einzige Frau an. Saudi-Arabien, das bis 2008 ebenfalls stets eine reine Männer-Delegation geschickt hatte, entsendet diesmal vier Sportlerinnen: Marathonläuferin Sarah Attar, Judoka Joud Fahmy, Sprinterin Kariman Abu al-Jadail und die Fechterin Lubna al-Omair. Nur letztere lebt übrigens in Saudi-Arabien, die anderen drei in den USA. Bei der offiziellen Präsentation der saudi-arabischen Delegation vor einigen Tagen wurden allerdings nur die Namen der sieben männlichen Athleten genannt – aus Gründen der „Sittsamkeit“, wie der Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees erklärte.
Dass die vier überhaupt teilnehmen dürfen, ist ausschließlich dem öffentlichen Druck zu verdanken. Den machen seit 1992 eine Handvoll umtriebige Französinnen um die Anwältin Linda Weil-Curiel. Damals traten 33 (!) Länder ohne Frauen an. „Südafrika war 30 Jahre lang wegen Rassen-Apartheid von Olympia ausgeschlossen. Geschlechter-Apartheid muss genauso behandelt werden“, erklärten sie und gründeten das „Komitee Atlanta +“ (www.ldif.asso.fr). Sie pochten bei Sportfunktionären und PolitikerInnen auf die Einhaltung der Olympischen Charta („Niemand darf aufgrund seines Geschlechts diskriminiert werden.“)
Yolande floh aus dem Kongo und lebt in Brasilien
Ein knappes Vierteljahrhundert später tritt fast kein Land mehr ohne weibliche Athleten an. Allerdings: Nicht nur die saudi-arabischen Sportlerinnen müssen sich verschleiern. Bei der Olympia-Eröffnung 2012 in London marschierten Läuferin Sarah Attar und Judoka Wojtan Sharkhani von Kopf bis Fuß schwarz eingehüllt durchs Stadion. Das wird 2016 nicht anders sein. Skandalöserweise lässt das Internationale Olympische Komitee es geschehen.
Und das, obwohl andere Athletinnen aus islamischen Ländern ihr Leben riskieren, wenn sie in normaler Sportkleidung antreten. Wie die tunesische 3000-Meter-Hindernis-Läuferin Habiba Ghribi. Als sie bei Olympia 2012 als erste Tunesierin überhaupt eine Medaille für ihr Land holte, wurde sie wegen ihrer „unzüchtigen“ Kleidung von Islamisten bedroht. Dennoch ist sie 2016 wieder dabei – natürlich unverschleiert.
Chantal Louis