Alice Schwarzer schreibt

Sahra Wagenknecht im Gespräch

Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. - Foto: Bettina Flitner
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Ich hatte sie schon lange aus den Augenwinkeln beobachtet. Mir gefiel, wie sie sich für soziale Gerechtigkeit einsetzte und in der ersten Reihe bei den Jungs mitspielte. Dann habe ich das erste Buch von ihr gelesen: „Die Selbstgerechten“. Fand ich gut. Obwohl die Frauen darin total abwesend sind. Aber das bin ich gewohnt bei Linken, und mit den Frauen beschäftige ich mich ja selber schon im Übermaß.

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Plötzlich schrieb sie mir im Mai 2022, nach dem „Offenen Brief“ an den Kanzler. Sie hatte auch selber unterschrieben. Seither schickten wir uns ab und an gegenseitig eine Info oder einen Artikel.

Anfang 2023 wurde mir klar, dass noch einmal versucht werden müsste, die deutsche Politik wachzurütteln und ihr klarzumachen, dass weite Teile der Bevölkerung gegen ihre Kriegspolitik sind. Bei der Überlegung, wie man erneut Aufmerksamkeit erzeugen könnte, kam ich auf Sahra Wagenknecht. Sie schien mir die einzige öffentlichkeitsrelevante Stimme, die sich noch traute. Außerdem ging ich davon aus, dass die Kombination Schwarzer/Wagenknecht viele erregen würde, im Guten wie im Kritischen. Es klappte. Zu der Friedensdemonstration am 25. Februar diesen Jahres in Berlin riefen wir gemeinsam auf. Es kamen nicht etwa 15.000 Menschen, wie dreist von vielen Medien behauptet wurde, sondern an die 50.000.

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Sahra und ich hielten Kontakt, via Mail. Am Tag vor Veröffentlichung unseres Manifestes waren wir uns zum ersten Mal begegnet. Seither duzen wir uns. Anfang Oktober bin ich in das saarländische Dorf an der französischen Grenze gefahren, wo sie seit elf Jahren mit Oskar Lafontaine lebt. Es war unsere dritte Begegnung.

Sahra, es sieht so aus, als wolltest du eine eigene Partei gründen. Du würdest damit eine große Lücke in der Parteienlandschaft füllen: halblinks von der Mitte. Dass eine neue Partei notwendig wäre, steht außer Frage. Natürlich wäre das eine wahnsinnige Kraftanstrengung und ein solches Projekt könnte nur begonnen werden, wenn es gut vorbereitet ist. Aber wir haben eine große Leerstelle im politischen System: Sehr viele Menschen fühlen sich von keiner Partei mehr vertreten. Und warum sollten die Menschen dich wählen?
Ich erlebe, dass viele sich eine politische Kraft wünschen, die sich für wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, eine friedliche Außenpolitik und Meinungsfreiheit einsetzt.

Und du hoffst, dich dafür mit einer neuen Partei effektiv einsetzen zu können?
Wir haben zurzeit eine Regierung, die in Teilen inkompetent ist und planlos handelt. Sie wollte mit den Wirtschaftssanktionen „Russland ruinieren“ und merkt immer noch nicht, dass wir uns selbst ruinieren. Wir importieren nach wie vor russische Energie, nur jetzt eben das Öl über Indien und das Gas teils über Belgien. Und wir importieren immer mehr teures umweltschädliches Fracking-Gas aus den USA. Höhere CO2-Abgaben oder das dilettantische Heizungsgesetz sollen dann das Klima retten, machen aber nur das Leben vieler Menschen noch schwerer. Und: Ohne Frieden ist alles nichts. Die Ampel macht eine gefährliche Außenpolitik. Wir rücken einem Weltkrieg immer näher.

Darauf kommen wir nachher nochmal zurück, wenn du einverstanden bist. Reden wir erstmal von der AfD. Nach deren Durchmarsch in Bayern und Hessen bist du vermutlich die Einzige, die die Rechtspopulisten noch stoppen könnte. Ich möchte dich fragen: Wie würdest du mit dieser real existierenden Partei im Parlament umgehen?
Ich finde, wir müssen weg von dieser Hysterie, dieser Fixierung auf die AfD. Die AfD wird doch nicht gewählt, weil die Menschen so überzeugt sind von Personal und Programm. Sie wird gewählt wegen des Versagens aller anderen Parteien. In der Regierung wie in der Opposition. Viele wählen die AfD aus Verzweiflung. Sie haben das Gefühl: Nur wenn ich AfD wähle, kann ich der Regierung zeigen, wie unzufrieden ich bin.

Welche inhaltlichen Gemeinsamkeiten teilst du mit der AfD – und was sind die Unterschiede?
Ich bin überzeugt: Mit Waffen beendet man keinen Krieg, wir brauchen Verhandlungen. Etwas ist ja nicht falsch, nur weil es auch die AfD sagt. Schlimm ist, dass die anderen Parteien diese Position nicht mehr vertreten. Noch nicht einmal die SPD, die doch eine große Tradition in der Entspannungspolitik hat. Oder die Debatte über die Zuwanderung. Integration ja! Aber wir können doch nicht aus falsch verstandener Toleranz die Verbreitung religiöser Hasslehren dulden. Und auch nicht die Überforderung unserer Infrastruktur. Wir haben in Deutschland schon jetzt ein Mangelproblem: fehlende Kitas und Lehrer, fehlende Wohnungen etc. Wenn in diese angespannte Lage auch noch zu viele Einwanderer kommen, verschärfen sich die Probleme. Und es sind nicht die Wohlhabenden, die darunter leiden. In deren Wohnvierteln findet das ja nicht statt. Wir müssen also darüber reden: Wie begrenzen wir Zuwanderung? Es war eine Riesendummheit, das über Jahre der AfD zu überlassen.

Du willst also weniger Menschen reinlassen? Wie soll das funktionieren?
Das Asylrecht ist da für politisch Verfolgte. Das muss erhalten bleiben! Aber die sind ja nur ein kleiner Teil der Ankommenden. Es wäre wichtig, in den Herkunftsländern wieder Perspektiven zu schaffen.

Das ist zweifellos richtig. Aber das dauert.
Kurzfristig müssen wir sagen: Wer keinen Asylanspruch hat, kann hier nicht bleiben und hat auch keinen Anspruch auf Geldleistungen. Es ist übrigens kein Zufall, dass die meisten Zuwanderer aus Ländern kommen – Syrien, Afghanistan, Irak! –, in denen die USA und ihre Verbündeten Kriege geführt haben. Nehmen wir Syrien. Bis heute wird das Land durch drakonische Wirtschaftssanktionen stranguliert. Ein Wiederaufbau ist so unmöglich. Und da wundern wir uns, dass die Menschen wegwollen.

Und deine Unterschiede zur AfD?
Das ist doch ein großer Unterschied. Die Mitverantwortung des Westens für die Situation in den Herkunftsländern ist für die AfD kein Thema, stattdessen werden rassistische Ressentiments bedient. Außerdem steht die AfD für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Ungleichheit vergrößern würde: nämlich für mehr Privatisierungen und den Abbau des Sozialstaats.

Dein letztes Buch hat den Titel „Die Selbstgerechten“. Wen meinst du damit?
Jeder Mensch soll leben, wie es ihm gefällt, vegan essen, im Bioladen kaufen, Lastenfahrrad fahren ... Aber niemand soll sich deshalb für einen besseren Menschen halten. Was mich nervt, ist die Attitüde gutsituierter Großstadt-Akademiker, die ihre Privilegien für persönliche Tugenden halten und auf Menschen herabsehen, die sich diesen Lebensstil gar nicht leisten könnten. Hier auf dem Dorf fahren alle Auto. Man kommt ja sonst gar nicht weg. Und die meisten haben einen Verbrenner, weil E-Wagen teuer sind. Sie heizen auch mit Öl oder Gas, weil sie mit einer Wärmepumpe ihre älteren Häuser nicht warm kriegen. Dieses Denken in der eigenen Blase, die Gleichgültigkeit gegenüber denen, die rechnen müssen und nicht im hippen Trendviertel leben, das empört mich. Das ist bei den Grünen so, aber auch in der SPD und tonangebenden Teilen der Linken. Und dann diese Unfähigkeit zur Debatte. Die Cancel Culture aus den USA ist bei uns angekommen. Wer anders denkt, wird zum schlechten Menschen abgestempelt, den man ausgrenzen und bekämpfen muss. Viele scheuen sich inzwischen, offen ihre Meinung zu sagen, wie auch eine Allensbach-Umfrage bestätigt.

Du kritisierst auch das Gendern der Sprache. Würdest du sagen: Alles Unsinn! Wir bleiben bei der Sprache von Goethe, deinem Lieblingsdichter?
Ich finde einfach Goethes Sprache eleganter und schöner als vieles, was ich heute lese. Aber klar, Sprache entwickelt sich. Und Goethes Frauenbild ist auch nicht mehr das unsere. Obwohl es bei Goethe ja nicht nur die Gretchens und Klärchens gibt, sondern auch eine Pandora, die Prometheus alt aussehen lässt und die Zukunftshoffnung auf eine menschliche Gesellschaft verkörpert. Und klar, wenn ich vor Publikum spreche, spreche ich immer Frauen und Männer an. Aber ich glaube nicht, dass die Lage der Frauen vom Gendern abhängt.

Sahra im Bundestag. - Foto: Imago
Sahra im Bundestag. - Foto: Imago

Da befindest du dich in bester Gesellschaft mit vielen Old Boys. Aber Sprache sollte ja nicht nur die Realität spiegeln, sie beeinflusst auch diese Realität.
Aber die Regeln werden immer abstruser. Mir ist schon vorgeworfen worden, ich sei transphob, weil ich „Rentnerinnen und Rentner“ gesagt habe …

… transphob?
Ja, weil ich zwischen den beiden Geschlechtern keine Lücke für die Transrentner gelassen habe. Dafür hätte ich ein Sternchen schreiben oder stottern müssen ... Natürlich gibt es Transpersonen und sie dürfen nicht diskriminiert werden. Aber das Thema wird in einer Weise gehypt, als würden wir von 20 Prozent der Bevölkerung reden und nicht von 0,002 Prozent. Die Debatte, dass es eigentlich gar kein biologisches Geschlecht gibt, ist aber nicht nur irre, sie ist gefährlich. Weil sie jungen Menschen, gerade Mädchen, nahelegt, trans sei die Lösung für all ihre Probleme. Dass die Zahlen sich verzehnfacht haben, zeigt, dass es sich um eine gesellschaftliche Modeerscheinung handelt. Da experimentiert und profitiert die Pharmaindustrie auf Kosten der Gesundheit junger Menschen. Dem sollte die Politik entgegenwirken statt mitzuschwimmen.

Wohl wahr. Aber gehen wir nochmal zurück zur ewigen Frauenfrage. Die Frauenpolitik ist in deiner Gedankenwelt eine große Leerstelle. Oder habe ich da etwas übersehen?
Das sehe ich nicht so! Frauen sind diejenigen, die unter den Ungerechtigkeiten einer Ellenbogengesellschaft am meisten leiden.

Da dürfen sich die Frauen also mitgemeint fühlen?
Nicht nur mitgemeint. Niedriglöhne, Armutsrenten, irreguläre Jobs, Kita-Mangel, Halbtagsschulen – das alles belastet vor allem Frauen.

Mir scheint es jedoch kein Zufall, dass du die Frauen nie explizit thematisierst. Gehen wir mal die großen Probleme durch, die speziell Frauen betreffen. Da ist die Gratisarbeit und die Teilzeitarbeit. Du bist ja studierte Ökonomin. Aber dir ist anscheinend nicht bewusst, dass ein Löwenanteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die Familienarbeit, überwiegend von Frauen und gratis geleistet wird. Folgt die Teilzeitarbeit, um „Beruf und Familie zu vereinbaren“, wie es so nett heißt. Deutschland ist ja das Land der „Rabenmütter“. Zu diesem Problem der fortdauernden Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern habe ich noch nie ein Wort von dir gehört.
Warum fordere ich viel mehr Kitas, die auch ganztätig geöffnet haben? Damit Frauen einer Vollzeitarbeit nachgehen können.

Und vielleicht auch die Väter?
Ja. Aber die Realität ist doch, dass in der Regel eben nicht der Mann, sondern die Frau zuhause bleibt. Der Staat kann nicht in die Familien hineinregieren. Er kann aber dafür sorgen, dass Frauen eine bessere Position bekommen, dann auch innerfamiliär auf Gleichberechtigung und Aufteilung der Hausarbeit zu bestehen. Dafür brauchen wir gute Kinderbetreuung und Ganztagsschulen.

Aber die fallen nicht vom Himmel, dafür muss man auch politisch kämpfen. Und sie sind nicht das einzige Problem.
Ich bin ja in der DDR aufgewachsen, die ich mir nicht zurückwünsche. Aber Ganztags-Kitas und Schulhort waren da völlig normal, ebenso wie volle Erwerbstätigkeit und ökonomische Unabhängigkeit der Frauen.

Und trotzdem waren die Frauen auch in der DDR doppelt belastet. Aber kommen wir zu einem zweiten großen Problem: der Gewalt. Jedes dritte bis vierte Mädchen wird Opfer sexualisierter Gewalt (und jeder zehnte Junge). Jede zweite bis dritte Frau erfährt Gewalt durch den eigenen Mann. Man kann sagen: Frauen sind das gefolterte Geschlecht. Mitten unter uns. Dagegen helfen nicht nur Frauenhäuser, von denen es immer noch nicht genug gibt.
Der erste Schritt ist: Frauen müssen materiell unabhängig werden.

Sicher. Aber das genügt eben nicht. Du bist sensibilisiert gegen Armut, aber nicht im gleichen Maße für Männergewalt gegen Frauen und Kinder. Es ist nicht allein das Geld, auch Psyche und Sitten spielen eine große Rolle. Im bürgerlichen Milieu wird genauso geschlagen wie im proletarischen. Da braucht es den zweiten Schritt einer Kulturrevolution. Den ersten hat die Frauenbewegung ausgelöst.
Bei den Schulen geht es ja auch darum: Wie groß sind die Klassen? Können Lehrer sich überhaupt noch kümmern?

Und wollen sie? Vielleicht sind sie manchmal selber schlagende Männer. Du kannst einfach nicht alles aufs Ökonomische zurückführen. Es gibt noch andere Dimensionen.
Ja, Frauen brauchen besonderen Schutz, weil sie in den meisten Fällen physisch dem Mann unterlegen sind. Deshalb ist es eben Quatsch, die biologische Realität der zwei Geschlechter zu leugnen.

Du hältst die Männer für das von Natur aus schlagende Geschlecht? Nehmen wir ein Problem, das du aus eigener Erfahrung kennst. Die Essstörungen von Mädchen und Frauen. Du fandest dich schon im Alter von zehn Jahren „zu dick“.
War ich leider auch.

Auf deinen Kinderfotos ist davon nichts zu sehen.
Doch, schon. Aber da ist natürlich auch dieser wahnsinnige Druck in Sachen Gewicht und Schönheit, der vor allem auf junge Frauen ausgeübt wird. Das Problem ist, dass im Zeitalter von Social Media das Leben noch stärker als früher aus der Außendarstellung besteht, der Schein zählt mehr als das Sein.

Und was würdest du als Politikerin dagegen tun?
Die gefährlichen Algorithmen, die extra so programmiert sind, dass sie süchtig machen, sollten verboten werden. Es ist doch interessant, dass die Kinder der führenden Köpfe des Silicon Valley großenteils Smartphone-frei aufwachsen. Die wissen, was ihre Kreationen anrichten. Natürlich kann man jungen Leuten heute nicht das Smartphone wegnehmen. Es ist ja inzwischen das zentrale Kommunikationsmittel. Aber die Kommunikation wird extrem manipuliert und ist hart übergriffig. Das muss man ändern.

Sahra mit ihren Großeltern, bei denen sie bis zu ihrem 7. Lebensjahr aufgewachsen ist. - Foto: Privat
Sahra mit ihren Großeltern, bei denen sie bis zu ihrem 7. Lebensjahr aufgewachsen ist. - Foto: Privat

Ein großer Sprung. Es wird in den Biografien über dich und in Interviews immer wieder thematisiert, dass dein Vater Iraner ist. Man sieht es dir ja auch an. Er ist zurückgegangen in den Iran, als du drei warst. Hast du eigentlich Erinnerungen an ihn?
Ich erinnere mich, wie er mich auf den Schultern getragen hat.

Erzogen aber haben dich vor allem die Großeltern in den frühen, entscheidenden Kinderjahren. Bei ihnen bist du bis zum Alter von sieben aufgewachsen, bis du zu deiner berufstätigen Mutter in Berlin gegangen bist.
Meine Großeltern haben mich sehr geliebt und alles dafür getan, dass ich eine behütete Kindheit hatte.

Du hast es ihnen nicht immer gedankt, warst oft störrisch. So wolltest du zum Beispiel partout nicht in den Kindergarten gehen.
Ja, auch weil ich gemobbt wurde. Weil ich „anders“ aussah.

Hast du aus der Schwäche eine Stärke gemacht, bist die ewige Außenseiterin geworden?
Ich kann es aushalten, wenn ich Außenseiterin bin. Aber es ist nicht das, was ich mir wünsche.

Du hattest auch keinen Bock, zu den Jungen Pionierinnen zu gehen.
Ich war Mitglied, das wurde man ja als Kind automatisch. Aber die Rituale haben mich eher abgestoßen. Ich habe dann mit 14 angefangen, mich mit sozialistischer Literatur zu beschäftigen. Karl Marx, Rosa Luxemburg. Und da wurde mir die große Differenz zwischen dem Ideal und dem Realsozialismus bewusst. Ich habe meine Kritik auch formuliert, deshalb galt ich schnell als „kollektivunfähig“ und durfte später nicht studieren.

Sahra Wagenknecht 1995 beim PDS-Parteitag in Berlin. - Foto: Jürgen Eis/IMAGO
Sahra Wagenknecht 1995 beim PDS-Parteitag in Berlin. - Foto: Jürgen Eis/IMAGO

Trotzdem bist du ausgerechnet 1989, als alle austraten, in die SED eingetreten. Aus Trotz?
Ja, auch. Aber ich hatte auch die Hoffnung, gerade in dieser Situation etwas verändern zu können.

Lass uns nochmal zurückspringen. Dein Biograf Christian Schneider schreibt, dein Lieblingsmärchen sei die „Schneekönigin“ gewesen. Das beginnt mit einer Kinderliebe zwischen Gerda und Kay. Der wird dann von der Schneekönigin entführt und lebt mit ihr in einem Palast aus Eis, scheinbar zufrieden. Gerda macht sich auf den langen Weg der Suche nach ihm, findet ihn und erlöst ihn mit ihren Tränen, glaube ich, aus dem Eis. Und du, du hast dich nicht etwa mit Gerda identifiziert, sondern mit Kay.
Ja. Ich hatte ja schon auch Verletzungen erfahren. Und an dem vereisten Kay im Eispalast prallte alles ab. Am Ende wird er von Gerda gerettet.

1993 hast du dann dein erstes Buch geschrieben mit dem wunderbaren Titel – warte, ich muss das ablesen: „Antisozialistische Strategien in Zeiten der Systemauseinandersetzungen“.
(Lacht)

Du lachst heute darüber?
Naja, der Titel war schon irgendwie typisch dafür, wie ich damals war. Bloß nicht gefällig! Mir ging es darum zu verstehen, warum sich dieser Umbruch vollzogen hat. Ich wollte weder die DDR noch den Kapitalismus, ich wollte etwas anderes.

Ich entnehme diesem Titel aber auch eine gewisse Theorielastigkeit.
Ja, extrem. Als Jugendliche war ich von Goethe geprägt, aber dann hatte ich kurzzeitig die Sprache marxistischer Lehrbücher adaptiert. Der damalige Zeitgeist war der vom Ende der Geschichte. Ich aber wollte maximal anders sein.

Kann man sagen: Du warst noch eher vom Papier geprägt und erst später auch vom Leben?
Das stimmt wohl.

Aber dann kam das Leben auf dich zu. Und damit auch die Männer. Wir lesen in deiner Biografie, dass dein erster Mann nicht nur ein Betrüger war, sondern auch während eurer Ehe drei Kinder mit drei anderen Frauen hatte. So ein ganz sicheres Gefühl für Männer hattest du offensichtlich noch nicht. Aber dann kam, vor fast 20 Jahren, Oskar …
Ja. Sein Zugang zu Politik war immer ganz praktisch: Was kann man wie verändern? Ich würde auch gerne eines Tages sagen können: Ich habe politisch dieses und jenes real bewirkt. Bisher war ich ja immer in der Opposition. Real Macht zu haben und etwas umsetzen zu können, das ist natürlich etwas ganz anderes.

Dazu müsstest du auch kompromissbereit sein.
Das bin ich. Im Gegensatz zum Klischee. Ich stelle mich nur dann quer, wenn ich überzeugt bin: Es geht in die falsche Richtung.

Eine ganz andere, eine alberne Frage: Kennst du Karl Lagerfeld?
Den Namen schon. Warum?

Weil du mit diesem Dandy etwas gemeinsam hast.
Was denn?

Die Kunst, die eigene Silhouette zur Marke zu machen.
Aha.
Und noch eine Frage, unter Frauen: Wie lange brauchst du, um deine Haare so zu stecken?
Eine knappe Viertelstunde.

Jeden Tag? Kannst du nicht einfach damit schlafen?
Nicht wirklich. Die Haarnadeln pieken, und es sieht am nächsten Tag auch struppig aus.

Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer bei der Kundgebung "Aufstand für Frieden" am 25. Februar 2023 in Berlin. - Foto: B. Flitner
Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer bei der Kundgebung "Aufstand für Frieden" am 25.2.2023 in Berlin. - Foto: B. Flitner

Kommen wir wieder zu Themen, die unserer würdig sind, Sahra. Wir haben uns durch den Krieg kennengelernt. Dabei wirst du mich ja schon vorher wahrgenommen haben. Wie ich dich. Was hattest du da für ein Bild von der Feministin?
Ich wusste, dass du eine couragierte Frauenrechtlerin bist. Aber ich gebe zu, dass ich dich erst stärker wahrgenommen habe, als du dich mit dem politischen Islam und dem Kopftuch kritisch auseinandergesetzt hast.

Was ich seit 1979, seit der Machübernahme von Khomeini, tue.
Wofür du bis heute ja angegriffen wirst. Dass du dich traust, dich gegen den Wind zu stellen; dass du ganz klar Position beziehst, auch wenn du dafür gehasst wirst.

Jemand, der sich gegen den Wind stellt, gefällt dir natürlich. Mir ja auch.
Irgendwann mussten wir uns ja begegnen.

Du hattest mir im Mai 2022 zum ersten Mal geschrieben, anlässlich des von mir initiierten „Offenen Brief“ an Kanzler Scholz, den du auch unterschrieben hast. Wir haben dann per Mail Kontakt gehalten, haben neun Monate später das „Manifest“ zusammen angezettelt, das sich indirekt ja auch an Scholz richtete. Der „Offene Brief“ ist inzwischen von 511.445 Menschen unterzeichnet worden, unser Manifest von 887.000. (Stand Mitte Oktober). Das sind zusammen fast anderthalb Millionen. Vielleicht bin ich ja naiv, aber ich hatte zunächst wirklich geglaubt, der Kanzler würde sich darüber freuen: Dass sein Zögern bei den Waffenlieferungen von Millionen Bürgern und Bürgerinnen begrüßt wird. Doch er hat uns noch nie auch nur geantwortet. Mir jedenfalls nicht. Dir vielleicht?
Nein. Zu dem „Offenen Brief“ muss ich sagen: Ich war so froh und dankbar, dass du das gemacht hast! Das war ja direkt nach dem Ausbruch des Krieges, wo man das Gefühl hatte: Da ist niemand,der sich dagegenstellt. Und du warst eine der raren Stimmen in Deutschland, die es wagte, den Stopp der Waffenlieferungen und Verhandlungen zu fordern.

Du ja auch. Anderthalb Millionen Unterschriften und der Kanzler schweigt.
Das ist seine typische Ignoranz. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist heute gegen weitere Waffenlieferungen und für Verhandlungen. Und der Kanzler? Macht es wie immer. Erst zögert er, dafür ist man ihm dankbar, und dann liefert er doch.

Jetzt droht auch noch die Lieferung von Taurus-Raketen. Dazu hatte selbst der Verteidigungsminister gesagt, man zögere, weil die Regierung in erster Linie „dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtet“ sei. Und das geriete durch die Taurus-Lieferungen in Gefahr. Nun hat der Kanzler zunächst einmal die Lieferung von Taurus abgelehnt.
Zunächst. Immerhin. Das ist richtig, denn Taurus würde den Krieg weder beenden noch wenden. Aber die Waffe würde in der Tat zu einer weiteren Eskalation führen. Die Ukraine hat ja schon jetzt Nuklearstützpunkte in Russland angegriffen, und die Krim. Wenn jetzt noch Taurus käme – gelenkt von Geodaten der Bundeswehr, – ja, dann weiß ich nicht, wie Russland reagieren würde. Die Amerikaner, die ja den Ton angeben, sind weit weg und liefern solche Waffen auch nicht. Den Preis dafür würden wir bezahlen.

Eine Woche nach der Bayern- und Hessenwahl ergab der ARD-Deutschlandtrend, dass die Migrationspolitik mit 44 Prozent das größte Problem für die BürgerInnen ist und der Krieg mit 18 Prozent das zweitgrößte. Am Wahlabend selbst aber war vom Krieg nicht mit einem einzigen Wort die Rede. Weder bei den Wahlforschern, noch bei den PolitikerInnen und JournalistInnen. Machst du weiter mit deinem Engagement gegen den Krieg?
Ja. Unbedingt!

Sahra, Oskar entkorkt gerade den Sancerre.
Moment mal. Ich soll ja noch fotografiert werden. Aber da sieht man hoffentlich nicht meine Jeans?

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