Saudi-Arabien: Rahafs Flucht
Der Krimi beginnt am Samstag, den 5. Januar 2019. Mit ein paar Tweets und einem wackeligen Video-Hilferuf, den eine 18-jährige Saudi-Arabierin vom Transitbereich des Internationalen Flughafens in Bangkok aus via Twitter in die Welt sendet. Wir sehen triste Bodenfliesen, aber wir hören eine Stimme, die auf Arabisch spricht. Es wird das erste Video von vielen sein. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich überlebe, wenn mich die saudische Botschaft weiter verfolgt“, erklärt Rahaf auf Twitter. Sie sei erfolgreich aus Kuweit nach Thailand geflüchtet und „in großer Gefahr“, weil die Behörden sie dazu zwingen wollten, in ihre Heimat Saudi-Arabien zurückzukehren. „Ich habe Angst, dass meine Familie mich UMBRINGEN wird!“ Ihr Vergehen hatte sie da noch gar nicht öffentlich gemacht: Sie hat sich in dem islamistischen Königreich von ihrer Religion losgesagt.
Die 18-Jährige heißt Rahaf Mohammed al-Qunun. Inzwischen ist sie auf der ganzen Welt bekannt. Eine junge Frau mit eindringlichem Blick, die genug hat von einem Leben, das einem Gefängnisaufenthalt gleichkommt. Sie hat deswegen ihren ganzen Mut zusammengenommen und wollte auf eigene Faust nach Australien flüchten, um dort Asyl zu beantragen.
Aber die thailändischen Behörden verweigern ihr die Weiterreise. Denn als Rahaf das Flugzeug verlässt, konfisziert ein saudischer Diplomat ihre Reisedokumente, so schildert sie es. Auch ihr Reisepass wird dem Mädchen abgenommen. Rahaf wird in ein Flughafenhotel gebracht, dort soll sie bis zu ihrer Abschiebung bleiben.
Die 18-Jährige trifft in diesem Moment eine Entscheidung, die bald ihre Lebensversicherung sein wird: Sie nimmt ihr Smartphone wie eine Waffe in die Hand und hält einfach drauf: auf die langen Gänge in dem Flughafen; auf Hotelmitarbeiter, die an ihre Zimmertür klopfen; auf die thailändischen Polizisten, die sie verhören. „Sie wollen mich zwingen, morgen nach Kuweit und dann nach Saudi-Arabien zu fliegen. Ich werde permanent von einer Flughafenmitarbeiterin verfolgt!“, twittert sie unermüdlich. In kurzen Videobotschaften hält sie die Welt da draußen auf dem Laufenden. Es sind häufig verwackelte, hastig gefilmte Bilder – aber sie machen die Angst des Mädchens spürbar.
Als der besagte Kuwait-Airlines-Flug Nummer 412, mit dem sie gegen ihren Willen zurückgebracht werden soll, am 7. Januar mit Verspätung startet, ist Rahaf Mohammed al-Qunun nicht an Bord. Sie hat sich in ihrem Hotelzimmer verbarrikadiert. Sie ist auch nicht mehr alleine, die australische ABC-Reporterin Sophie McNeill unterstützt sie.ttp
s://twitter.com/Sophiemcneill/status/1082114498708746241
Official from @KuwaitAirways is at Rahaf’s door but she’s refusing to leave #SaveRahaf pic.twitter.com/TcRf3p7Dys
— Sophie McNeill (@Sophiemcneill) January 7, 2019
Menschen auf der ganzen Welt sind inzwischen auf ihren Fall aufmerksam geworden. Auf Twitter bekunden sie unter #SaveRahaf ihre Solidarität. Rahafs Followerschaft explodiert, inzwischen lesen 128.000 Menschen, was das bis dato unbekannte Mädchen aus Saudi-Arabien schreibt. Liberale Musliminnen melden sich weltweit in ihrer Sache zu Wort. Darunter die bekannte ägyptische Frauenrechtlerin Mona Eltahawy, die Rahafs Videos fortan mit englischen Untertiteln versieht. Sie ist sich sicher, dass Rahaf „eine Revolution in Saudi-Arabien auslösen wird“. Ensaf Haidar, die Ehefrau des seit über sechs Jahren in Saudi-Arabien inhaftierten und gefolterten Bloggers Raif Badawi, erklärt: „Ich bin auch aus islamischen Ländern bis nach Great Canada geflohen. Ich kann ihren Schmerz nachempfinden!“
Rahaf Mohammed al-Qunun ist wahrlich kein Einzelfall. Es ist nur der erste Fall, der diese immense Aufmerksamkeit erregt. Immer wieder flüchten Frauen aus dem Gottesstaat, in dem die Scharia Gesetz ist. Nicht alle kommen durch. Vor zwei Jahren machte nach einer ganz ähnlichen Methode Dina Ali Lasloom aus Saudi-Arabien auf sich aufmerksam. Sie wurde am Flughafen von Manila festgenommen und hatte kein Glück: Der internationale Aufschrei blieb aus, die Behörden deportierten sie zurück nach Riad. Seither fehlt von der jungen Frau jede Spur.
In Saudi-Arabien dürfen die Frauen inzwischen zwar Auto fahren. Aber die saudischen Frauenrechtlerinnen, die jahrelang für solche eigentlich selbstverständlichen Rechte gekämpft haben, werden systematisch verfolgt und eingesperrt. Kritiker fürchten, dass Kronprinz Mohammed bin Salman eine doppelte Strategie fährt: Nach außen flaggt er Reformwillen. Nach innen treibt er den Backlash erst recht voran, und die emanzipierten Frauen sind sein erstes Ziel.
Rahafs Videos rauschen inzwischen durch die Fernseh-Nachrichten. https://twhttps://twitter.com/Sophiemcneill/status/1082114498708746241it...Schließlich richtet das Mädchen ihre offenkundig wohl vorbereitete Forderung in einer weiteren Videobotschaft an die Welt: „Basierend auf der Konvention von 1951 (Anm. d. Red: die Genfer Flüchtlingskonvention) und dem Protokoll von 1967 beantrage ich hiermit formal den Flüchtlingsstatus bei jedem Land, das mich davor schützen kann, dass ich verletzt oder aber getötet werde, weil ich mich von meiner Religion losgesagt habe“, erklärt die 18-Jährige mit entschlossenem Blick in die Kamera. In einem anderen Video droht sie: „Ich werde dieses Zimmer nicht verlassen, bis ich mit UNHCR sprechen darf. Ich will Asyl.“
Video from @rahaf84427714 just sent from her hotel room at the #Bangkok airport. She has barricaded herself in the room & says she will not leave until she is able to see #UNHCR. Why is #Thailand not letting @Refugees see her for refugee status determination? @hrw #SaveRahaf pic.twitter.com/3lb2NDRsVG
— Phil Robertson (@Reaproy) January 7, 2019
Das UN-Flüchtlingshilfswerk hat sich eingeschaltet. Erfolgreich, scheint es. Am 7. Januar verlässt Rahaf ihr Hotelzimmer unter Begleitung von UN-Mitarbeitern. Am 8. Januar 2019 wird sie offiziell als Flüchtling eingestuft. Zuvor hatten auch die thailändischen Behörden überraschend ihren Kurs geändert: „Wir sind das Land des Lächelns. Wir werden sicher niemanden in seinen eigenen Tod schicken. So etwas tun wir nicht“, so Polizeichef Surachet Hakpal in einer Pressekonferenz. Kanada gewährt ihr Asyl. Als sie am 12. Januar in Toronto landet, wird sie von Außenministerien Chrystia Freeland persönlich am Flughafen empfangen.
Saudi-Arabien bestreitet Rahafs Vorwürfe offiziell: Es habe sich um eine reine „Familienangelegenheit“ gehandelt. Abdalelah Mohammed al-Shuaibi, saudischer Geschäftsträger in Thailand, erklärte: "Ich wünschte, sie hätten ihr das Smartphone anstatt ihres Reisepasses weggenommen". Als Rahafs Vater am Flughafen in Bangkok ankommt, weigert sich das Mädchen, mit ihm zu sprechen.
Rahafs Twitter-Account haben inzwischen saudische Freundinnen übernommen, die in Australien, Kanada und Schweden sitzen. Sie unterstützen alle nicht zufällig die #StopEnslavingSaudiWomen Kampagne. Versklavte Frauen wie Rahaf Mohammed al-Qunun. Und sie wird nicht die letzte sein, die sich auf den Weg macht. Denen hat Rahaf nun den Weg bereitet.