Frauen auf der Flucht: In der Falle

Seve mit ihren Kindern im osttürkischen Lager bei Dijarbarkir. - Foto: Peter Müller
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Sie sind vergessen, und so fühlen sie sich auch: die 3,6 Millionen geflüchteten Frauen und Kinder entlang der Festung Europa. Sie sitzen fest im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. Während wir uns in Deutschland über 1,5 Millionen geflüchtete Menschen die Köpfe heiß reden. Überwiegend geflüchtete Männer. Ihre Familien, ihre Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Kinder blieben zurück in den grenznahen Ländern rund um Syrien. Und da sind sie immer noch. Seit Februar 2018 werden sie im nächstgelegenen Hafen abgeliefert. Und das kann dann auch in Libyen sein.

Ich habe mich also aufgemacht und bin, auf der Suche nach den gestrandeten Frauen und Kindern aus den Kriegs- und Krisengebieten, in den Libanon, nach Jordanien und in die Türkei gereist. Ich bin hunderten Frauen begegnet.

Aber eine geht mir nicht mehr aus dem Kopf, sie hat sich mir eingebrannt: Amira, die würdevolle Großmutter. Mit unzähligen ­Sorgenfalten im verhutzelten Gesicht, sieht sie nicht aus wie 62, sondern wie 82. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem harten Steinboden. Im Arm einen sieben Monate alten Jungen, neben sich auf der kargen Erde zwei weitere Jungen, vier und sechs Jahre alt. Die spielen mit großen und kleinen Steinen, bauen sich Häuser und Brücken.

Amira trägt um den Kopf und um den Hals ein dunkelrotes Tuch, sieht mich durch ihre fleckige Brille nachdenklich an. Sehr langsam antwortet sie auf meine ­behutsamen Fragen. Seit vier Jahren lebt sie jetzt hier im Bekaa-Tal im Libanon. Die Jungen sind ihre Enkel, die Kinder ihres Sohnes. Der Kleinste ist von ihrer Tochter. Der Sohn ist schon in Syrien unter den Assadschen Fassbomben in einem Vorort von Damaskus ums Leben gekommen. Zusammen mit ihrer Tochter ist sie dann über die nahe Grenze in den Libanon.

Da war es noch möglich, da gab es noch kaum Checkpoints. Der Libanon mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern machte die Arme auf für die Flüchtlinge aus dem Nachbarstaat.

Ein Großgrundbesitzer, erzählt Amira weiter, hat ihnen ein Stück Land überlassen. Darauf konnten sie sich die im Bekaa-Tal übliche Behausung aus Pappe, Holz, Papier und Plastik bauen. Im Schutz eines ITS, einem „informal tented settlement.“ Allerdings ein wahrhaft windiger Schutz. Im Winter, wenn es stürmt und schneit, schlafen viele der Flüchtlinge vor ihrer Behausung im Schnee. Weil sie Angst haben, dass unter den Schneemassen das fragile Dach herunterbricht und sie begräbt. 1.278 solcher settlements existieren bis heute im Bekaa-Tal. Sieben Jahre nach Kriegsbeginn. Ohne Strom, ohne Toiletten.

In den ITSen leben rund 1,2 Millionen geflüchtete Menschen, überwiegend Frauen und Kinder. Der Bauer verlangte netterweise keine Pacht von Amira und ihrer kleinen Familie, nur die Kinder sollten ihm in der Landwirtschaft dafür helfen. Aber das Geld vom Welternährungsfonds, damals noch 26 Dollar im Monat pro Flüchtling, reichte nicht hinten und vorne.

Also nahm die Schwiegertochter den Heiratsantrag eines Libanesen an. Als Zweit-Frau. Er zahlte 200 Dollar. Seine Bedingung: Er nimmt sie nur ohne die Kinder. Die Jungs blieben also zurück bei Großmutter Amira. Ihre Tochter hat nach langer Suche eine Arbeit in einem anderen libanesischen Haushalt, eine Busstunde von der ITS, gefunden. Als Putzfrau.

So sitzt Amira heute mit drei kleinen Kindern im Schatten eines weit ausladenden Baumes und fragt mich ganz zaghaft, ob ich denn nicht eines der beiden Kinder mitnehmen könnte, nach Deutschland? Oder vielleicht sogar die beiden Jungen? Damit sie nicht getrennt werden? Doch das einzige, was ich versprechen kann: Dass ich ihre Geschichte weiter erzähle, dass ich dem Unicef-Büro im nahen Zahlé ihren Namen nenne, damit sie für die ­Kinder dort Unterstützung bekommt.

Für die über 400.000 Kinder gibt es im Bekaa-Tal keine Schulen. Nur schlecht ­bezahlte Arbeit in der Landwirtschaft oder in Fabriken. Die Kinder arbeiten dabei überwiegend nachts, weil dann der Strom billiger ist. So die zynische Erklärung der Fabrikbesitzer. Hier wächst eine „lost generation“ heran, junge Menschen, die als ­Erwachsene weder lesen noch schreiben werden, aber von der Wohlfahrt und Billig-­Jobs zu leben gelernt haben und von ihren Müttern Geschichten aus der einst so schönen Heimat Syrien erzählt bekommen. Die sie selbst noch nie gesehen haben.

Nächstes Ziel: Jordanien. Durch eine lange gemeinsame Grenze mit Syrien verbunden. Kein Wunder, dass seit Kriegsbeginn rund 630.000 Syrer dorthin geflohen sind. Dabei hat das Land nur 6,4 Millionen Einwohner. In Zaatari, dem größten Flüchtlingslager, leben über 80.000 Syrer. In vier auf fünf Meter großen Well­blech-Containern. Immerhin besser als die windigen und wackeligen Behausungen im Liba­non. Aber der Großteil der geflüchteten Menschen ist nicht in einem jordanischen Lager untergekommen, sondern vegetiert in Ruinen, leerstehenden Häusern und winzigen, feuchten und zudem hoffnungslos überteuerten Apartments.

Wie die 32-jährige Syrerin Asma. Sie zahlt für sich und ihre fünf Kinder für eine Einzimmerwohnung im Ammaner Stadtviertel Jabal Falsal 100 Dinar Miete. Das sind umgerechnet 125 Euro. Im Winter tropft es von der Decke. Nachts ist es eisig kalt. Zum Heizen fehlt ihr das Geld. Ihr Viertel war früher ein palästinensisches Flüchtlingslager. Inzwischen sind die Palästinenser aus den Kriegen 1967 und 1991 in bessere Stadtviertel verzogen.

Asma hat einen Sohn und vier Töchter, eine hübscher als die andere. Auch Asma gilt als „Augenweide“. Das ist ein ziem­liches Problem. Denn nicht nur das jordanische Recht erlaubt es jedem sunnitischen Moslem, vier Ehefrauen zu haben und sich sehr schnell mit dem dreimaligen Ausspruch „ich verstoße dich, ich verstoße dich, ich verstoße dich“ scheiden lassen kann. Auch aus Saudi-Arabien düsen die Araber mit dicken SUVs durch die Wüste und kaufen sich für 10.000 oder 12.000 Dollar junge Syrerinnen. Die gelten als anpassungsfähig und friedlich. Nicht so aufmüpfig wie die emanzipierteren Jordanierinnen oder Libanesinnen.

Asma sagt mir: „Ich würde nie im Leben eine meiner Töchter verkaufen.“ Aber sie kennt viele syrische Familienväter in Amman, die das Geld zum Überleben gelockt hat, und die ihre Tochter einem Saudi verkauft haben. Je jünger, je teurer. Und Jungfrau müssen sie sein. So werden Mädchen in Jordanien schon mit 13, 14 Jahren verkauft und verheiratet. Auch wenn das gegen das jordanische Gesetz verstößt.

Doch im Vergleich zum „freien“ Leben draußen in den jordanischen Städten sind die Frauen und Mädchen in den Flüchtlingslagern noch relativ sicher. Wie in Zataari mit seinen geordneten Strukturen, der medizinischen Versorgung, den Schulen, den Supermärkten. Und einer Einkaufsstraße, die die Syrer humorvoll „Champs Elysee“ getauft haben. Aber dennoch: Auch ein noch so gut geführtes Flüchtlingslager bleibt ein Lager – fern der Heimat und fern von einem normalen friedlichen Leben. Asma möchte darum auch nichts lieber als wieder heim, nach Aleppo. Auch wenn sie weiß, dass ihr Stadtteil in Trümmern liegt.

Im Norden Syriens liegt die lange Grenze zur Türkei. Das Land mit seinen 78 Millionen Einwohnern hat bis jetzt 3,4 Millionen überwiegend syrische Flüchtlinge aufgenommen. Sie sind zu 20 Prozent in den 25 Flüchtlingslagern mit Militärzelten untergebracht. Aber die meisten syrischen Flüchtlinge leben wie in Jordanien in Städten, kleineren Gemeinden und auf dem Land in Dörfern.

Vor allem im Osten des Landes, entlang der irakischen Grenze, sind die Jesidinnen und ihre Kinder untergekommen. Verfolgt von den IS-Terroristen als so genannte Ungläubige. Bis heute, so berichten Hilfsorganisationen, sind immer noch 1.500 Mädchen in der Gewalt der inzwischen versprengten IS-Terroristen. Ihre Mütter sitzen hier im Schneidersitz auf dünnen Schaumstoffmatten in den Lagern. Es ist alles sehr sauber, die Decken gestapelt, fast jede Frau hält ein Mädchen im Arm. Schaukelt es, während sich eine zweite, ­ältere Tochter, eng an die Mutter schmiegt.

Die Mütter erzählen scheinbar emotionslos von der Flucht, als wäre sie anderen widerfahren. Berichten von den Männern im Nachbarhaus, die geköpft oder erschossen wurden. Von Mädchen, die verwirrt und wie von Sinnen durch das Lager torkeln. Weil sie zwar entkommen sind, aber ihnen keiner hilft, die Schrecken in der Gewalt der IS-Terroristen zu verarbeiten. Sie berichten immer von anderen, von der Nachbarin, der Freundin. Nie von sich selbst. Bis mir die kurdische Übersetzerin erklärt, dass es im jesidischen Glauben untersagt ist, von eigenem Leid zu berichten. Dass mir in Wahrheit all diese Frauen ihre eigenen Geschichten erzählt haben.

So wie auch Seve, die jetzt mit ihren acht Kindern, der Schwägerin und der Schwiegermutter auf 15 Quadratmetern zusammenlebt. Sie fragt mich immer wieder: „Warum nimmt Deutschland nur die Syrer auf, warum nicht auch uns, die Jesiden?“

Der Einzige, der wirklich etwas für die jesidischen Frauen in der Ost-Türkei unternimmt, ist der baden-württembergische ­Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er holte 1.500 schwerst traumatisierte Frauen und Mädchen in sein Ländle, stellte ihnen nicht nur Unterkunft, sondern psychologische Betreuung.

Sie alle sind von einem jesidischen Priester vor ihrer Ausreise von dem Dogma befreit worden, nicht über das eigene Leid sprechen zu dürfen. Eine von ihnen, wie die heute 21-jährige Nadja Murat, hat ganz deutlich ihre Stimme erhoben. ­Mutig berichtete sie von den schrecklichen Erlebnissen unter der IS-Herrschaft, von ihrer Zwangsheirat, den Drogen und Schlägen und von den Vergewaltigungen. Sogar vor den Vereinten Nationen durfte Nadja über die Not ihres Volkes sprechen. Jetzt ist sie UN-Sonderbotschafterin und versucht, ihrem Volk auf diese Art und Weise zu helfen.

Aber Seve sitzt mit ihren Kindern immer noch im osttürkischen Lager bei Dijarbarkir. Da, wo inzwischen auch das türkische Militär und die Polizei Krieg führen gegen die kurdische Bevölkerung. „Ich kann ja auch nicht zurück, denn da sind die kurdischen Peschmerga, im Nord-Irak, die haben uns auch verraten und nicht ­gegen den IS geholfen“, sagt sie. Helfen wollen dagegen jesidisch-stämmige Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Mardin. Sie sammeln Geld, um den jesidischen Frauen und Kindern ein kleines Dorf zu bauen.

Als ich Seve und ihren Frauen im Zelt davon erzähle, wird sie richtig wütend: “Nein, wir bleiben nicht hier. Wir haben kein Vertrauen in die Kurden. Denn vor hundert Jahren gab es genau in dieser Gegend einen vernichtenden Genozid gegen uns Jesiden. Sie haben uns alle umgebracht. Ich gehe nicht zurück, lieber sterbe ich hier im Lager. Ich will von dir dazu nichts mehr hören!“ Spricht’s und wirft sich vehement ihr rotes Kopftuch über die Schulter. Auch die anderen Frauen schütteln ablehnend den Kopf. Sie wollen hier weg. Keinesfalls im „Feindesland“ bleiben.

Aber wer nimmt sie auf? Sie hoffen auf Nadja Murat und eine weltweite Bewegung zur Rettung der Jesiden und vor ­allem der Jesidinnen. Aber die ist noch nicht in Sicht. Eine bittere Situation. Kein Vor – und kein Zurück. Und keine Zukunft. Was für fast alle Frauen aus den Krisen- und Kriegsregionen zutrifft, wenn sie es nicht schon geschafft haben in ein für sie sicheres, europäisches Land.

Da kommt mir dann immer wieder der berührende Satz aus der Weihnachts­geschichte in den Sinn: „Und es ist kein Raum in der Herberge …“ Wie bitter, dass sich daran bis heute nichts geändert hat.

Witerlesen:
Zuletzt erschien von Maria von Welser: Kein Schutz - nirgends. Frauen und Kinder auf der Flucht (Ludwig, 17,99€).

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