Wir sind die zweite Generation
Habe ich, Alice Schwarzer, geboren 1942 als Kind einer nichtjüdischen Familie, Angst vor dem Antisemitismus? Nein. Ich bin empört darüber. Ist meine Kollegin und Freundin Viola Roggenkamp, geboren 1948 als Tochter einer jüdischen Mutter, empört über den Antisemitismus? Nein. Sie hat Angst davor. Ist das ein Unterschied? Ja, ein gewaltiger.
Auschwitz lebt. In uns beiden. In den überlebenden Opfern und Tätern. Und in deren Kindern und Kindeskindern. Das Verhältnis zwischen Juden und nichtjüdischen Deutschen ist darum nicht "normalisierbar". Denn die Vergangenheit ist keine. Sie ist Gegenwart.
Nur eine Minderheit der nicht-jüdischen Deutschen ist heute, 50 Jahre nach der "Kristallnacht" und 43 Jahre nach Auschwitz, wirklich frei vom Antisemitismus (und seinem Pendant: dem Prosemitismus). Und nur eine Minderheit dieser Minderheit distanziert sich offensiv davon. Antisemitismus scheint kein dringliches Thema.
Bestenfalls ist die Absage an den Antisemitismus für Nichtjuden eine Frage von Einsicht und Anstand. Für Juden aber ist sie eine Frage von Leben und Tod. Und genau das unterscheidet uns: uns deutsche NichtJuden und uns deutsche Juden.
Reden wir nicht von dem in weiten Teilen der Welt heute wieder aggressiv aufflammenden Antisemitismus, der Juden verschiedenster Nationen und Kulturen wieder und immer noch vertreibt: Nach Israel oder sogar, makabererweise, in die Bundesrepublik.
Reden wir von uns und den Jüdinnen und Juden, die mit uns leben. 1988 sind sie keine halbe Million mehr, so wie noch 1938, es sind 50. bis 60.000 – darunter nur knappe 10.000 deutscher Herkunft (also nicht mehr als zwei Prozent der früheren Anzahl) . Und wer sind sie? Es sind die Überlebenden aus den Konzentrationslagern, die Zurückgekehrten aus dem Exil, deren Kinder und Kindeskinder.
Die, die dem Inferno entkommen sind, sind heute etwa 60 Jahre und älter. Eine polnische Untersuchung zeigt, dass von 100 Ex-KZ-Häftlingen 97 an mindestens zwei schweren chronischen körperlichen Krankheiten leiden und invalid sind.
Sie haben überlebt. Aber sie haben das Ghetto des Nichtvergessenkönnens nie verlassen. Für die meisten unter ihnen ist seit über 40 Jahren der Tag unwirklicher Traum und die Nacht Realität. Nacht für Nacht kehren sie ins Lager zurück. In Todesschrecken wachen sie auf an der Tür zur Gaskammer - und liegen wach, aus Angst, wieder einzuschlafen.
Nur ganz wenige dieser Überlebenden sind nach Deutschland zurückgekommen. Viele gingen nach Israel oder blieben im Exil. Diese Wenigen leben heute in jüdischen Altersheimen in Frankfurt oder Düsseldorf, zum Beispiel, oder in der Wohnung nebenan.
Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden in der Bundesrepublik sind heute Angehörige der sogenannten "zweiten Generation". Das heißt der Generation, die in den Jahren nach der Ermordung der sechs Millionen Juden von den Überlebenden geboren wurden.
Sie haben Mütter, denen über Jahre jegliche Menschlichkeit abgesprochen wurde, die seelisch und körperlich zerstört sind. Sie haben Mütter, die ihre ganze Kraft aufbringen mussten, um überhaupt den Mut zum Weiterleben zu finden. Sie haben Mütter und Väter, die ihre ganze Hoffnung auf das Leben ihrer Kinder setzten.
Mütter und Väter, die schweigen. - Wie auch hätten sie das Unsagbare sagen sollen? Wir wissen heute, was wir uns auch ohne die Untersuchungen der Psychologen und Mediziner hätten denken können: Diese Kinder der Überlebenden sind selbst zutiefst geprägt vom Trauma ihrer Eltern. Da reden wir in diesen psychologiebewussten Zeiten permanent darüber, wie wir von Mutter oder Vater geprägt sind - nur in bezug auf die Kinder der Juden stellt sich niemand die Frage nach der seelischen Hypothek...
Auschwitz lebt. Nicht nur in den Seelen und Körpern der Überlebenden. Auch im Bewusstsein ihrer Kinder und Kindeskinder, geboren auf verbrannter Erde. Die seelische Zerstörung durch die Faschisten setzt sich in den Kindern der Opfer fort.
Der Krakauer Psychiater Zdzislaw Ryn berichtet von Untersuchungen, die beweisen, dass Kinder ehemaliger KZ-Häftlinge besonders häufig an schweren Persönlichkeitsstörungen und starken Selbstzweifeln leiden, dass sie häufig sozial und beruflich unintegrierbar sind und zu Selbstmord neigen. Allerjüngste polnische Untersuchungen (nicht deutsche!) brachten selbst für Experten eine Überraschung: Die Töchter der Überlebenden sind signifikant häufiger steril -körperliche Ursachen dafür konnten bis-her nicht gefunden werden.
Auch ohne Wort teilte sich die Verzweiflung jüdischer Mütter und Väter mit, nur mühsam übertüncht von der Sehnsucht, endlich zu leben. Dieses Schweigen, drinnen wie draußen - ab und zu unterbrochen vom subtilen oder, neuerdings wieder, kruden Antisemitismus - das ist vielleicht das Schlimmste. Wir alle haben zu lange geschwiegen.
Die "Herrenrasse" hat ganze Arbeit geleistet. Die wenigen, die überlebten, hatten Glück. Die meisten ihrer Folterer und Mörder auch. Sie machten sich an den Wiederaufbau. Und die mit "der Gnade der späten Geburt"? Haben sie mit all dem nichts mehr zu tun?
Ich persönlich habe das Glück (nicht das Verdienst), aus einer antifaschistischen Familie zu kommen. Sehr selbstverständlich wurde von Anfang an über alles geredet: über die Verblendung und die Verbrechen der Nazis, über die Verfolgung von Juden und Andersdenkenden.
Ich komme nicht aus einer Familie, die politisch organisierten Widerstand geleistet hat. Eher war es private Renitenz. Aber ich erinnere mich gut, dass ich schon als Kind stolz darauf war, dass meine 1,50 Meter kleine Großmutter vorbeiging an den Schildern "Kauf nicht bei Juden", rein in ihre Stammläden, jetzt extra!, und sich dafür von den Nazis ohrfeigen ließ; dass sie, die später nur ungern vor neun Uhr aufstand, jahrelang jeden Morgen um sechs den einige Straßen weiter vorbeiziehenden Zwangsarbeitern Brötchen zuwarf; dass sie nicht einmal in ihrem Leben "Heil Hitler" gesagt hatte (und stattdessen bei jeder Begrüßung "Hustenanfälle" bekam).
Meine Familie hörte jahrelang den verbotenen englischen "Feindsender" und fieberte dem Tag der "Befreiung" entgegen. Ich wurde als Kind gründlich aufgeklärt über das, was in den KZs geschehen war - aber auch bei uns zuhause fragte sich niemand: Wo sind sie denn heute, die Juden? Dennoch: die "bleierne Zeit" war der Auslöser der Politisierung meiner Generation, die Zelle unserer ersten Empörung: Das also konnte passieren, wenn Menschen sich über Menschen erheben - und auch noch die Macht auf ihrer Seite haben.
Die "Judenfrage" war mir früher bewusst als die "Frauenfrage". Mit zunehmender Politisierung begriff ich die internationalen Dimensionen des Faschismus, der, leider, kein deutsches Patent ist. Mit zunehmendem Feminismus erkannte ich die Parallelen zwischen Antisemitismus und Sexismus. Nicht zuletzt, weil ich zu der Zeit in Frankreich lebte, wo Jüdinnen in der Neuen Frauenbewegung von Anfang an eine wichtige Rolle spielten und auch selbst auf diese ihre doppelte Betroffenheit hinwiesen.
Erst der Sexismus macht die Frau zur Frau. Und erst der Antisemitismus macht den Juden zum Juden ("Jude ist, wen Hitler dazu erklärt hat."). Ohne den Sexismus würde es für ein Leben keine entscheidende Rolle spielen, ob ein Mensch weiblich ist oder männlich. Und ohne den Antisemitismus wären Juden ganz einfach die Nachbarn von nebenan... Nur gläubige Juden würden sich noch leicht unterscheiden - ohne aber deswegen der "Andere", der "Fremde", der "Mindere", kurzum: der Jude zu sein.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im beginnenden 20. Jahrhundert glaubten sie sich schon so weit, die "emanzipierten" Juden. Sie zogen raus aus den Ghettos und kämpften im ersten Weltkrieg Seite an Seite mit den ,,Goij" für das gemeinsame Vaterland. Sie verstanden sich nicht länger als Juden, sie waren Deutsche.
Der Antisemitismus der Mehrheit holte diese zu früh emanzipierte Minderheit grausam wieder ein. Nach Shoah ist Jüdischsein nun auf Generationen wieder "Schicksal". Und es sind nicht nur die Verfolgungen der Vergangenheit, es ist auch die antisemitische Gegenwart. Bleiern liegt sie auf dem Leben von Kindern und Kindeskindern.
Lange hat es gedauert, sehr lange, bis die zweite Generation begann zu reden. In einem Land, in dem schon das Wort "Jude" tabu ist (und wo selbst Juden, die in ihrem Leben Israel noch nicht gesehen haben, "Israelis" genannt werden),
ist es auch heute nicht leicht zu sagen: Ich bin Jude. Ich bin Jüdin. Wie beschämend für uns, für die Kinder der Täter, dass sie es sind, die Kinder der Opfer, die anfangen zu reden.
"Das Schweigen über Krieg und Konzentrationslager, gerade das Schweigen auf deutscher Seite, war kein leeres Schweigen", tröstete der Pole Zdzislaw Ryn, selbst Kind Überlebender, jüngst seine deutschen Zuhörerlnnen auf einer Hamburger Veranstaltung. "Es war eine Phase des Heranreifens zum Sprechen, zur Suche nach Wahrheit und zum Aussprechen dieser Wahrheit - wie das Schweigen in der Psychotherapie, das notwendig und folgenschwanger ist."
Bleibt nur die Hoffnung, dass er recht hat.
Alice Schwarzer
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