Wir dachten, die Welt sei gerecht.
Wir jungen (emanzipierten) Frauen der postfeministischen Ära wurden in eine Welt geboren, von der es hieß, sie sei modern. Wir spürten keinen Unterschied zwischen Mädchen-Sein und Junge-Sein und lebten in dem guten Gefühl, unter gleichen Bedingungen heranzuwachsen, mit den gleichen Träumen, Chancen und Möglichkeiten.
Im Kindergarten konnten Jungs mit Puppen spielen, ohne dass der stolze Vater weinte, und Mädchen mit dem Fußball (oder meinetwegen Jungs mit Lego und Mädchen mit Plüschhäschen). In der Grundschule durften Mädchen gut in Mathe sein und Jungs gut in Handarbeit (oder Jungs beim Schlagzeugspielen und Mädchen im Schönschreiben). Es wohnte sogar ein Junge in meiner Straße, der Prima Ballerina wurde. Ein dorfeigener Billy Elliot. Und alle wünschten ihm viel Glück auf der Ballettakademie.
Auf dem Gymnasium kam dann die Pubertät dazwischen, die primären Geschlechtsmerkmale waren irgendwann nicht mehr zu ignorieren (die sekundären schon gar nicht) und der Sportunterricht fand in getrennten Hallen statt. Aber sonst änderte sich im Grunde nichts. Die Welt war ein Abenteuer, aber ein ungefährliches.
Und auch zuhause in den vier geschützten Wänden konnte man davon ausgehen, dass für Jungen und Mädchen weitestgehend dieselben Regeln galten.
Zwischen proklamierter & gelebter Gleich- berechtigung liegen Welten
Zimmeraufräumen, Schlafengehen, Freunde treffen: Bruder und Schwester hatten dieselben Pflichten, genossen dieselben Freiheiten. Die Welt war nicht nur ungefährlich, sie war auch noch gerecht.
So wuchsen viele Frauen in den 1980er und 1990er Jahren mit diesem Abziehbild einer vermeintlich intakten Welt heran (die späteren Jahrgänge sowieso) und fühlten sich vor allem eins: sicher. Sie profitierten ganz unwissentlich von einem Kampf der Geschlechter, der schon lange vor ihrer Zeit ausgetragen worden war. Das bedeutete aber auch: Diese mühsam gleichgemachte Welt war für sie selbstverständlich. Und in diesem Selbstverständnis liegt die Misere begraben.
Selbstverständlich war, dass mich Taxifahrer umsonst nachhause fuhren, dass mich Fahrkartenkontrolleure ungestraft laufen ließen und dass ich mit meinen Freundinnen die vielen Drinks bei den vielen Barkeepern mit nichts anderem als einem Lächeln bezahlte. Und ganz ehrlich: Es war profitabel. Es war ein Kompliment. Und ich fand – ganz selbstverständlich – nichts Schlechtes daran. Im Gegenteil.
Ich weiß jedoch auch, dass ich mich ärgerte, als mir meine Großmutter in jungen Jahren beibringen wollte, wie man Hemden richtig stärkt und bügelt, mein Bruder aber von dieser Lektion verschont blieb.
Ich weiß, wie es ist, im Job von älteren männlichen (aber auch von weiblichen!) Kollegen nicht ernst genommen oder gleich ganz übergangen zu werden. Zu jung, zu hübsch, zu unwahrscheinlich. Ich weiß, wie mich ein gockeliger Experte bei einem Interview zum Thema XY dazu anhielt, „mich noch ein wenig zu konzentrieren“, der nächste Aspekt sei wichtig für den Zusammenhang. Aha. Und ich weiß, wie mir bei einem Bewerbungsgespräch der Unterschied zwischen einem „erfahrenen Silberrücken“ (mein Gegenüber verwies auf sich selbst) und, nun ja, mir erklärt wurde. Den Job bekam ich nicht. Der Blick in mein Dekolleté störte mich da nur noch am Rande.
Die 'alte Kacke' ist ganz frisch. Sie dampft im Hier und Jetzt.
Irgendwo zwischen Bügel-Lektion und Silberrücken-Anekdote geriet meine heile Welt ins Wanken. Die Ursache für das Problem benennen, geschweige denn das Problem angehen und beheben, konnte ich hingegen nicht. Ich fühlte mich hilflos, richtigerweise: machtlos.
Alice Schwarzer sprach an einem Abend bei Günther Jauch zum Thema Sexismus von einer „alten Kacke“, die immer noch dampfen würde. Für viele junge Frauen ist sie nur nicht alt: Sie ist ganz frisch. Sie dampft im Hier und Jetzt. Und so schlimm das klingen mag: Wir haben uns mehr oder weniger arrangiert. Denn die Kacke gehört zu unserem Alltag, sie hat sich dort festgetreten, ganz unbemerkt. Manchmal roch sie, aber eben nicht so stark, dass wir zu Büstenhalter und Feuerzeug gegriffen hätten. Das Fatale daran: Erst dann, wenn man beginnt auf eigenen Füßen zu stehen (ganz gleich ob in Ballerinas oder auf der hohen Hacke), erst dann, wenn es im Leben tatsächlich um etwas geht – nämlich um Selbstverwirklichung durch Selbstbestimmung – erst dann wird jungen Frauen diese schmähliche alte Kacke, die Kluft zwischen Silberrücken und Nicht-Silberrücken, offenbar.
Die Diskussion um die Ungleichverteilung in diesem Land (von Indien sprechen wir erst gar nicht!) wird endlich geführt und das ist gut so. Denn es ist höchste Zeit, dass wir darüber reden, worum es letztlich geht: Um Grenzüberschreitungen und Machtstrukturen.
Jeden Tag werden Grenzen überschritten, Macht wird demonstriert und ausgenutzt. Ständig. Überall. Nicht nur im Politikbetrieb, im Journalismus oder in irgendwelchen oberen Vorstandsetagen. Nicht nur im Versteckten, nicht in den Hinterzimmern dieser Welt, sondern direkt vor unseren Augen. Das Fernsehen, das uns dabei nicht einmal sonderlich subtil den Spiegel vorhält, könnte so kein hässlicheres Abbild dieser Gesellschaft zeichnen: Im Jahr 2012 lief eine Frau mit nichts an durch das australische Dschungelcamp und reckte ihren silikongepolsterten Busen in jede ihr sich bietende Kamera. In der Viehzucht nennt man so etwas Fleischbeschauung. Bei RTL freute man sich schlicht über die Quote. In der Castingshow Deutschland sucht den Superstar wackeln regelmäßig 16-jährige Mädchen in kurzen Röcken mit ihrem Gesäß zur Musik, während sie dem Diktat von Vollzeitchauvinist Dieter Bohlen folgen. „Tanz, Baby, tanz!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Bei Germany’s Next Topmodel werden magere Mädchen danach beurteilt, wie gut sie „mit der Kamera flirten“ und dabei geradeaus laufen können. Vordergründig kommt es der Expertenjury hier auf die „Personality“ an, während hintergründig unzählige Mädchen in deutschen Kinderzimmern vor dem Spiegel ihren Bauch einziehen und sich fragen, was mit ihnen nicht stimmt.
Ein paar Sendetermine und Altersklassen weiter buhlen 20 Frauen um die Gunst eines Junggesellen, biedern sich an und erniedrigen sich freiwillg, nur um am Ende hoffentlich eine rote Rose in ihren ringlosen Fingern zu halten.
Wir haben nie gelernt, für unser Recht auf Gleich-
behandlung einzustehen
Und als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, meint nun ein früher mal ziemlich witziger Christian Ulmen den Voyeurismus vollends entlarvt zu haben, indem er in seiner neuen Sendung mit dem klingenden Titel „Who wants to fuck my girlfriend?“ endlich ausspricht, was DSDS, Bachelor & Co nur hinter vorgehaltener Hand zu sagen wagen: FLEISCHBESCHAUUNG! Na, dafür sollten wir doch wirklich dankbar sein.
Wo sind eigentlich die besorgten Eltern, die ihrer Fürsorgepflicht nachkommen? Wo sind die Manager und Agenten, die jenseits der Quote denken und sich für ihre Protegés (auch) moralisch verantwortlich fühlen? Wo ist das zuständige Amt, das dem hierzulande alltäglich geduldeten, ja geradezu gefeierten Sexismus mit ebensolcher Konsequenz hinterherjagt, wie den Neger-Wörtlein in den Büchern von Astrid Lindgren?
Zwischen proklamierter Gleichberechtigung und gelebter Gleichbehandlung liegen immer noch Welten. Frauen werden immer noch schlechter bezahlt und finden sich seltener in Spitzenpositionen, obwohl sie meist den besseren Abschluss machen. Die deutsche Familienministerin wünscht sich statt der Frauenquote eine Herdprämie. Männer arbeiten Vollzeit, Frauen Teilzeit und nach der Familiengründung verlassen sie meist die Karriereleiter. Immer wieder werden Frauen – gewollt oder ungewollt – zu Komplizinnen des altbekannten altruistischen Systems.
Deshalb müssen dringend neue Lebensmodelle geschaffen (und gemeinhin akzeptiert!) werden. Gemeinsam müssen Männer und Frauen den Weg hinaus aus der zementierten Rollenverteilung suchen, hin zu einem System, in dem man sich auf Augenhöhe begegnet. Die Krux: Wir jungen Frauen haben nie gelernt, für unser Recht auf Gleichbehandlung einzustehen. Offen zur Schau gestellter Sexismus mag uns irritieren, aber eine Schrecksekunde später geht es meistens einfach weiter. Wie gehabt. Es darf jedoch nicht Usus sein, dass sich Frauen im 21. Jahrhundert grundsätzlich ein dickeres Fell zulegen müssen, nur weil sie eben Frauen sind. Ich möchte meiner Tochter jedenfalls nicht mehr erklären müssen, was der Unterschied zwischen Silberrücken und Nicht-Silberrücken ist.
Sarah-Maria Deckert