Ulla, Ursula und Annette gegen Diätwahn
Die Idee kam von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Sie schlug EMMA Anfang 2007 vor: "Wollen wir nicht zusammen eine Kampagne gegen den Schlankheitswahn machen?" Wir wollten. Denn schließlich beschäftigt uns das Problem schon seit 1984 (seit der Herausgabe unseres Sonderbandes "Durch dick und dünn") und war das große Manko bei der Bekämpfung des Diätwahns bisher, dass die Politik sich in Deutschland bisher des Problems nicht offensiv angenommen hatte. Im Gegensatz zu Ländern wie England, Spanien oder Österreich, wo die Gesundheits- und Frauenministerinnen das Millionen Mädchen betreffende Problem der Essstörungen längst zum Politikum erklärt haben. Das soll sich nun ändern. Und auch für Frauenministerin von der Leyen und Bildungsministerin Schavan war klar: Wir sind dabei.
Erster Akt: Ein "Runder Tisch", am 13. Dezember in Berlin unter dem Motto: "Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn". Mit in der Runde neben den Initiatorinnen Ulla Schmidt und Alice Schwarzer Expertinnen und Verantwortliche: von Sigrid Borse vom Bundesfachverband Essstörungen bis zu Jette Joop aus der Modebranche. Und ebenfalls mit im Boot: Schauspielerinnen und Models, die ja nicht nur selbst direkt vom Schlankheitsgebot betroffen sind, sondern auch als Vorbilder für andere Frauen eine wichtige Rolle spielen. Ihnen zur Seite eine ganz andere Art von Role Model: Fußballerin wie Nationaltorfrau Nadine Angerer, die weder Zeit noch Lust zum Kalorienzählen hat, sondern ihre ganze Kraft braucht, um den Ball zu halten. Und nicht nur deutsche Teilnehmerinnen sitzen am Runden Tisch, sondern auch Expertinnen aus dem Ausland: von der österreichischen Frauenministerin Andrea Kdolsky, die von ihrer vorbildhaften Kampagne gegen Essstörungen inihrem Land berichtete, bis zur internationalen Expertin Nummer 1, Susie Orbachaus Großbritannien. EMMA veröffentlichte den ersten Text von Orbach1979 (!), denn schon damals war die Therapeutin und Autorin des "Anti-Diät-Buchs" die führende Praktikerin und Theoretikerin zum Problem des Schlankheitswahns. Übrigens:
Orbach war auch die Therapeutin der schwer essgestörten Prinzessin Diana. Orbach blieb dran. In ihrer neuesten Studie "Beyond Stereotypes" (Jenseits der Stereotype) hat sie weltweit den Einfluss der Medien auf das Körperbild junger Frauen untersucht. Ein Ergebnis: Zwei Drittel der befragten Mädchen findet es "schwierig, sich schön zu fühlen, wenn man mit den heutigen Schönheitsidealen konfrontiert ist!". Jedes zweite Mädchen wünscht sich, "in Zeitschriften mehr Mädchen zu sehen, die ihm im Aussehen ähnlicher sind". Und jede achte der Befragten gab an, unter einer manifesten Essstörung, sprich: Magersucht oder Bulimie zu leiden.
Auch das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) schlägt Alarm. In seiner jüngsten Studie zur Kinder- und Jugendgesundheit, für die 17.000 Mädchen und Jungen befragt wurden, fand das RKI heraus: Jedes dritte Mädchen in Deutschland zeigt ein "auffälliges Essverhalten". Die Befragten beantworteten mindestens zwei von fünf Fragen nach ihrem Verhältnis zum Essen ("Übergibst du dich, wenn du dich unangenehm voll fühlst?" oder "Findest du dich zu dick, während andere dich zu dünn finden?") mit Ja. Angesichts dieser bedrückenden Ergebnisse fordert Studienleiterin Heike Hölling: "Wir müssen dringend die Begriffe Schönheit und Schlankheit entkoppeln!"
Was die Expertinnen an der Front in Essstörungs-Zentren und Kliniken nun seit einigen Jahren diagnostizieren, nämlich eine "Massenpsychose" unter den Mädchen (und einen Anstieg des Problems auch bei den Jungen), liegt jetzt empirisch beglaubigt vor. Weitere besorgniserregende Fakten: "Die Betroffenen werden immer jünger. Wir haben inzwischen Siebenjährige mit Diäterfahrung und Zehnjährige, die schon Klinikaufenthalte hinter sich haben", berichtet Sigrid Borse vom Frankfurter Zentrum für Essstörungenund erklärt, warum wir dringend eine gesellschaftliche Debatte überden grassierenden Schlankheitswahn brauchen: "Die Diät ist zu einer Art Initiationsritus auf dem Weg zur Frauwerdung geworden. Es gehört dazu, über eigene Diäterfahrungen sprechen zu können."
Deshalb fordern ExpertInnen wie der Leiter des Bundesfachverbandes Essstörungen, Andreas Schnebel, einhellig ein Ende der "grausigen Vorbilder". Auch sein Kollege Manfred Fichter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen, erklärt: "Die untergewichtigen Idole haben einen katastrophalen Einfluss auf Magersucht-Gefährdete." Daher seien "Politik und Medien aufgerufen zu helfen, neue Vorbilder zu etablieren".
Andere Länder sind schon mit gutem Beispiel vorangegangen. In England zitierte Kulturministerin Tessa Jowell ModemacherInnen und Medien zum Body-Image-Summit, einem Gipfel zum Thema Körperbilder (an dem als Expertin übrigens auch Susie Orbach teilnahm). Die spanische Gesundheitsministerin Elena Salgado verbot auf der Madrider Modewoche Models mit einem Body-Mass-Index unter 18 und holte die Modeketten Mango und Zara für den Kampf gegen anorektische Schaufensterpuppen und terrorisierende Kleidergrößen mit ins Boot. Die Bürgermeisterin von Mailand, Letizia Moratti, drohte ebenfalls mit einem verbindlichen BMI, falls die Modemacher sich nicht freiwillig auf Mindestmaße für ihre Modelseinigen können. Und in Österreich startete im Mai dieses Jahres unter der Schirmherrschaftder österreichischen Familien- und Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky die Kampagne "Wenn die Seele hungert" gegen das Schlankheitsdiktat. Slogan: "Wer zu viel abnimmt, verliert mehr als nur ein paar Kilo".
Jetzt handelt endlich auch Deutschland. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt: "Es ist höchste Zeit für eine breite gesellschaftliche Debatte. Mit der Initiative 'Leben hat Gewicht' wollen wir ein Bündnis schaffen. Das Thema Essstörungen gehört in Mode- und Werbebranche, in der Schule, in der Familie, in den Sportvereinen, bei den Allgemeinärzten und in der Politik ganz oben auf die Tagesordnung."
Der "Runde Tisch" in Berlin ist der Auftakt einer politischen konzertierten Kampagne, die hoffentlich "nachhaltig" wirken wird, wie es in der Politik immer so schön heißt. Die Nachhaltigkeit in EMMA ist schon jetzt garantiert: In der nächsten Ausgabe erscheint der sechste Schwerpunkt zum Schlankheitswahn mit dem aktuellen Stand der Erkenntnisse - und Tipps für Wege aus dem Wahn.
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