"Kulturrelativismus ist Verachtung"
Alice Schwarzer: Shirin Ebadi, Sie haben einen anstrengenden Beruf, sie haben viel zu tun im Iran. Wenn Sie nach Europa kommen und hier reden, dann hat das Gründe. Welche Hoffnungen verbinden Sie mit einer solchen Deutschlandreise und ihren öffentlichen Auftritten?
Shirin Ebadi: Ich möchte die Realität, wie sie im Iran existiert, zur Kenntnis bringen. Und ich bin sicher, wenn die Weltöffentlichkeit erfährt, wie die Situation im Iran ist, wird sie uns auch zur Hilfe kommen.
Und wie ist die Situation?
Wie kann es sein, dass in einer Gesellschaft, in der mehr Frauen studieren als Männer - mehr als 63 Prozent der Studierenden an den Universitäten sind weiblich - den Frauen gesagt wird, was sie zu tun und lassen haben? Diese Gesetze, die nach der Revolution erlassen worden sind, müssen dringend reformiert werden.
Sie haben damals, 1979, die Revolution ebenfalls begrüßt und damit Hoffnungen verbunden.
Das stimmt.
Aber sie waren dann eines der ersten Opfer. Sie waren schon zur Zeit des Schah-Regimes Richterin, die erste Richterin im Iran, und Sie sind – wie alle Richterinnen - abgesetzt worden. Warum ist es anders gekommen als Sie gehofft hatten?
Es wurde uns immer wieder gesagt, dass nach der Revolution Freiheit und Unabhängigkeit die Grundrechte im Iran sein werden. So ist es zu verstehen, wenn Menschen sich dafür eingesetzt haben. Leider muss ich feststellen, dass diese Hoffnungen nicht realisiert wurde.
War Ihnen klar, dass es ein religiöser Staat sein würde?
Die Religion ist nicht das Problem. Selbst als ich meines Postens als Richterin enthoben wurde, weil ich eine Frau bin, gab es Individuen innerhalb der Geistlichkeit, die darauf bestanden, dass der Islam die Ausübung des Richterberufs für Frauen nicht verbietet. Das Problem besteht darin, dass der Islam falsch interpretiert wird.
Halten Sie es für erstrebenswert, dass Religion und Staat eine Einheit sind. Oder würden Sie sagen, es wäre besser, beides wäre getrennt? Was ja im Iran nicht der Fall ist.
Ich glaube an die Demokratie. Und Demokratie heißt für mich das, was die Mehrheit der Menschen will. Wenn die Mehrheit eines Volkes der Meinung ist, dass es eine Trennung zwischen Religion und Regierung geben muss, dann soll das auch geschehen. Der Islam akzeptiert auch diesen Standpunkt.
Es heißt, dass sich zur Zeit nur noch ein Viertel der Menschen im Iran an religiöse Vorschriften wie Ramadan und Gebete hält und dass diese Zahl bei den jungen Leuten noch geringer ist. Ist das auch Ihr Eindruck?
Ja.
Ihr Land ist umgeben von Krisenherden und Kriegen. Stichwort: Irak. Stichwort: Afghanistan. Welche Auswirkungen hat das auf den Iran?
Das hat einen großen Einfluss auf die Situation im Iran. Demokratie und Menschenrechte können nur in Ruhe und Harmonie gedeihen, die Demokratie kann sich in Krisen nicht entfalten. Und wenn die Menschen im Iran gegen die bestehenden Verhältnisse protestieren, dann sagen ihnen die Fundamentalisten: Wollt ihr, dass die Situation genauso wird, wie im Irak? Dabei möchten die Menschen im Iran nur eine Verbesserung ihrer Situation. Wäre Saddam kein Diktator gewesen und wäre er vom eigenen Volk unterstützt worden, hätte Amerika es nie gewagt, dieses Land militärisch anzugreifen. Der Irak hat weniger Widerstand geleistet als Afghanistan, weil die Menschen mit Saddam sehr unzufrieden waren.
Sehen Sie die Gefahr einer kriegerischen Aggression gegen Iran, zum Beispiel wegen der Atomwaffen ... ?
Nein, das glaube ich nicht. Die Menschen im Irak und in Afghanistan haben den Amerikanern gezeigt, dass Amerika nicht alles tun und lassen kann, wie es will. Dass die Menschen im Iran nicht zufrieden sind, bedeutet noch nicht, dass sie eine Intervention von außen wünschen.
Was ist heute im Iran anders als vor zehn Jahren?
Die Menschen sind heute politisch viel aufgeklärter und ungeduldiger als in der Vergangenheit. Vor allem die Frauen üben Druck aus. Und die Jugend.
Was können wir, der Westen - in Frieden und Gleichheit und Respekt - dazu beitragen, dass Frauen wie Sie, Menschen wie Sie, die Sache der Menschenrechte und Emanzipation besser voran bringen können?
Sprechen Sie über die Situation im Iran, damit die Frauen im Iran erfahren, dass ihre Stimme gehört wird!
Hier in Deutschland und Europa hat es lange Stimmen gegeben, die Menschen wie Sie nicht hören wollten, die gesagt haben: 'Im Islam ist alles anders, da müssen die Frauen eben ein Kopftuch tragen.' Und man hat versucht, Stimmen wie meine zum Beispiel, zum verstummen zu bringen, indem man sagte: 'Du bist eine westliche Feministin, das sind westliche Rechte. Aber die Musliminnen und die Iranerinnen sind anders.' Auch Sie sind ja als westlich beeinflusste Feministin beschimpft worden.
Der Kulturrelativismus ist eine Waffe in der Hand derer, die versuchen, andere Menschen zu unterdrücken. Und es wird immer von dieser Waffe Gebrauch gemacht. Die Menschenrechte sind Früchte der Kultur und der Zivilisation. Und gerade aus diesem Grund dürfen sie nicht relativiert werden. Sie sind ein einheitlicher Standard für die Lebensweise der Menschen, es darf dabei nicht von Osten und Westen - oder von Christen und Moslems - gesprochen werden. Gerade die unterschiedliche Situation der Frauen in den islamischen Ländern ist ein Beleg dafür. Bis vor kurzem besaßen die Frauen in Saudi-Arabien nicht einmal Personalausweise und in vielen islamischen Ländern habe die Frauen kein Stimmrecht. Auf der anderen Seite dürfen in Indonesien - wegen seiner 200 Millionen Einwohner bedeutendste islamische Land – Frauen sogar Staatspräsidentinnen werden. Oder nehmen wir die Polygamie: Die ist in einigen islamischen Ländern verboten worden, in anderen Ländern gibt es noch Harems. Das eigentliche Problem ist also nicht der Islam.
Was gibt Ihnen die Mut und die Kraft für Ihre Arbeit? Wie steht man das durch?
Wenn man von der Richtigkeit seines Weges überzeugt ist, wird man auch nie müde werden. Ich bin eine muslimische Frau und glaube an Gott. Und ich habe immer das Gefühl, dass ich von diesem Gott beobachtet werde, ob ich meine Pflichten korrekt erfülle.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Ich freue mich ungemein, mit Ihnen gesprochen zu haben und ich hoffe, Sie einmal in Teheran ohne Kopftuch zu sehen.
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Shirin Ebadi: "Ich habe keine Angst" (3/06)