Wie Jungen zu Killern gemacht werden

Dave Grossman
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Der amerikanische Psychologe Dave Grossman, 43, war Militärpsychologe und Offizier der US-Army. An der Militärakademie Westpoint hat er Soldaten das Töten gelehrt – und den psychologischen Umgang damit. Ziel: keine Schuldgefühle. Nach einem Schulmassaker in seinem Heimatort Jonesboro stieg er aus dem Job aus und wurde einer der schärfsten Kritiker der Tötungsspiele für Kinder.

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Wenn Sie sich den deutschen Jungen genauer anschauen, der das Massaker in Bad Reichenhall begangen hat, dann finden Sie sicher heraus, daß er sich brutale Videospiele angesehen und sie auch gespielt hat, und daß er sich entsprechendes Material aus dem Internet besorgt hat. Was wäre gewesen, wenn dieser Junge seine Waffen mit zur Schule genommen hätte? Jedes dieser Attentate der letzten Zeit hat gezeigt, daß sich die jugendlichen Täter gegenüber menschlichem Leid desensibilisiert haben. Es ist nicht zu übersehen, daß diese Jungen nicht nur gelernt haben zu töten, sondern daß Töten für sie etwas Normales ist.
Die brutalen Videospiele, die heute überall erhältlich sind, wurden zuerst von der Unterhaltungsindustrie entwickelt. Dann hat die US-Armee diese Technik übernommen und für ihre Zwecke modifiziert, denn sie hat gemerkt, daß diese Technologie sehr gut und sehr effektiv ist. Die Industrie hat dann die vom Militär "verfeinerten" Versionen zurückübernommen und bietet sie seither zum Verkauf an. Auch neu erscheinende Spiele werden vom Militär weiterentwickelt – und wieder an die Kinder weitergegeben. Es ist zu einem Kreislauf zwischen Militär und Unterhaltungsindustrie gekommen, wobei immer raffiniertere und realistischere Mordsimulationen ausbaldowert werden.
Es gibt vier Stufen, die die US-Army – und nicht nur sie – einsetzt, um Soldaten das Töten beizubringen. Erstens: Sie werden traumatisiert und brutalisiert. Zweitens: Sie lernen, Mord mit Genuß zu assoziieren. Drittens: Der Tötungsablauf wird konditioniert. Viertens: Es werden positive Vorbilder vermittelt. Manche Methoden sind so pervers, daß die US-Army sie nicht anwendet. Die werden aber bei unseren Kindern angewandt, via Medien.
Die Jungen, die an solchen Simulatoren spielen, töten kaltblütiger als Soldaten. Beim Militär gibt es immerhin zwei Sicherheitsmechanismen, die es bei Kindern nicht gibt: Erstens sind sie Erwachsene, und zweitens haben sie die Militärdisziplin verinnerlicht, das ist ein starker Kontrollfaktor. Den haben die Kinder nicht. Sie benutzen die Killerspiele aus Jux und Faszination.
Die Videowaffen funktionieren ganz so wie richtige Waffen: Man hält den Pistolenschaft in der Hand, und wenn man nachlädt und schießt, bewegt sich der Bildschirm mit der Waffe. Diese Art von Joystick hat einen Rückschlag: Wenn man den Abzug zieht, fühlt man den Rückschlag wie bei einer richtigen Waffe. Und in der Werbung heißt es: "Psychiater meinen, es ist wichtig, beim Töten auch etwas zu fühlen."
Die neueste Technik macht es möglich, daß man zum Beispiel Fotos von Klassenkameraden einscannt und die Gesichter auf die Figuren montiert, die man im Spiel tötet. "Quake" (auf deutsch: Zittere) ist so ein Spiel. Ein anderes Spiel hat zwar nicht dieselbe Ausstattung, aber denselben Geist: Es heißt "Töte deine Freunde ohne Schuldgefühle".
Nicht nur interaktive Videospiele wie "Quake" und "Doom" (Untergang), sondern auch die täglichen Bilder der Gewalt, mit der Kinder gefüttert werden, tragen dazu bei, daß Kinder Gewalt als Unterhaltung und Lustfaktor begreifen. Gewalt in den Medien allein macht Jungen noch nicht zu Killern. Wenn sie dabei aber mit ihren Freunden rumjohlen und Cola trinken und Snacks futtern, während sie auf dem Bildschirm Leute abballern, dann wird es gefährlich.
Natürlich habe ich auch als Junge mit meinen Freunden Krieg gespielt: "Bang, ich hab dich erwischt, Billy", schrie ich. "Nein, hast du nicht!" schrie Billy zurück. Da habe ich ihm eine gescheuert. Und dann bekam ich richtig Ärger mit ihm. Daraus habe ich gelernt, daß Billy echt ist, und daß ich Ärger bekomme, wenn ich ihm wehtue. Aber heute kann ich problemlos Billys Kopf tausende Male wegschießen. Ich bekomme dabei keinen Ärger, sondern Punkte.
Bei einer unserer Studien ist herausgekommen, daß 60 % aller Achtjährigen in einem bestimmten Schulbezirk "Halloween"-Filme gesehen hatten. Das sind Kino-Schocker, die eigentlich für die Zielgruppe der älteren Teenager gedacht sind. Diese Filme laufen aber auch im Fernsehen. Eltern kriegen oft gar nicht so mit, was ihre Kids da im Kinderzimmer gucken. Das ist Gehirnwäsche. Als eine Lehrerin aus Jonesboro nach dem Schulmassaker in der Nachbarschule mit ihrer eigenen Klasse darüber sprechen wollte, haben einige Jungen der Klasse gelacht. Sie fanden das lustig.
Untrainierte Killer schießen so lange auf ein Opfer, bis es sich nicht mehr rührt. Dann erst wenden sie sich dem nächsten zu. Bei einem Videospiel hat man dafür keine Zeit. Dort tauchen so viele Figuren gleichzeitig auf, daß man sehr schnell sein muß, um sie alle abzuschießen. Bei den meisten Spielen gibt es einen Sonderbonus für Kopfschüsse.
Die Videospiele bewirken, daß die Spieler eine hohe Trefferquote erreichen. Der 14-Jährige aus Kentucky, der auf dem Schulhof in Palucah Amok lief, hatte noch nie zuvor eine Pistole in der Hand. Er feuerte achtmal. Acht Schüsse, acht Treffer. Er traf fünf Mitschüler in den Kopf, drei in den Oberkörper. Als ich das Elitesoldaten erzählte, wollten sie es nicht glauben. Bei der Polizei liegt die Trefferquote eins zu fünf. Augenzeugen erzählen, daß der Junge die Tat wie in einem Videospiel ausführte. Er sah völlig geistesabwesend aus und schoß gezielt nur ein einziges Mal auf jedes Opfer. Die tauchten offenbar vor seinen Augen wie auf einem inneren Bildschirm auf.
Um zu töten, braucht man drei Dinge: eine Waffe, das Können und den Willen. Gewaltvideos bieten zwei davon, das Können und den Willen. Waffen besorgen sich auch in Deutschland Min-derjährige ohne Probleme. Gewalt ist erlerntes Verhalten. Wenn wir weiterhin unsere Kinder mit Gewalt füttern, werden sie sich weiter in dieser brutalen Form ausleben. Es wird noch mehr von diesen tragischen Teenie-Massenmördern geben. Sie sind bereits dafür ausgebildet.
Dave Grossman, EMMA 1/2000
Zum Weiterlesen: Dave Grossman: "Stop Teaching Our Kids to Kill" (Random House, New York)

In EMMA u.a. zum Thema:

Amoklauf in Winnenden (3/2009)

Der Stoff, aus dem die Täter sind, Prof. Pfeiffer (4/2002)

Werden aus Erfurt wirklich Lehren gezogen? (4/2002)

Einsame Cowboys (5/2000)

Schule & Gewalt (5/2000)

Was ist ein richtiger Junge? (5/2000)

Gewaltzone Schule (2/2000)

Jagd auf Lehrerinnen (1/2000)

Gewalt hat ein Geschlecht, Prof. Pfeiffer (1/2000)

Massaker in Montreal: Kein Zufall (2/1990)

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