Kein Kopftuch in der Schule!
Es tut der Debatte gut, auf dem Boden der Tatsachen geführt zu werden. Und dank der ersten repräsentativen Studie, die vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben wurde und für die zirka "6.000 Personen aus 49 muslimisch geprägten Herkunftsländern" befragt wurden, wissen wir seit Sommer 2009 Folgendes:
In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis, rund die Hälfte von ihnen haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Zwei Drittel dieser Menschen mit muslimischen Wurzeln sind türkischer Herkunft, der Rest kommt aus Südosteuropa, dem Nahen Osten oder Nordafrika. Nur ein Drittel dieser vier Millionen Menschen bezeichnet sich selbst als "stark gläubig", der Rest als "eher gläubig" (50 Prozent) bzw. "eher nicht" oder "gar nicht" gläubig (14 Prozent). Es ist also falsch, Menschen muslimischer Herkunft zwangsläufig als "Muslime" zu definieren oder ihnen gar zu unterstellen, sie seien orthodox gläubig.
Auffallend ist: Knapp jeder zweite muslimische Mann geht "manchmal" oder "häufig" in die Moschee – aber nur jede vierte Frau. Da überrascht nicht, dass sieben von zehn Frauen muslimischer Herkunft noch nie ein Kopftuch getragen haben. Und sehr interessant ist, dass selbst von den Musliminnen, die sich als "stark gläubig" bezeichnen, nur jede zweite "manchmal" oder "immer" ein Kopftuch trägt. Was im Gegensatz steht zu der Behauptung islamischer Funktionäre, für die Muslimin sei Religiosität zwangsläufig mit dem Tragen eines Kopftuches verbunden. Übrigens: Die zweite Generation der Migrantinnen verbirgt etwas seltener ihr Haar als die erste.
So also sieht die Lebensrealität der Mädchen und Frauen muslimischer Herkunft aus, gläubig oder nicht gläubig. Gleichzeitig aber herrscht in der Öffentlichkeit der Eindruck: Wer muslimischer Herkunft ist, sei automatisch auch religiös; und wer religiös sei, müsse sich zwingend an gewisse "Gebote" des Koran halten, wie Fastenzeit oder Kopftuch. Dieser Eindruck ist falsch. Denn er basiert nicht auf der Realität der in Deutschland lebenden MigrantInnen und ihrer Kinder und Enkelkinder, sondern auf der Ideologie rühriger Islamverbände.
Diese Islamverbände – von der staatlichen türkischen Ditib bis zu der vom Verfassungsgericht schon lange beobachteten Milli Görüs – stehen jedoch nicht für die Mehrheit der MuslimInnen, sondern für eine Minderheit. Nur die Hälfte der in Deutschland lebenden MuslimInnen hat laut Studie überhaupt schon mal von ein oder auch zwei dieser Verbände gehört, nur knapp jeder fünfte ist in einem organisiert.
Bedenkt man, dass diese Verbände bisher den "Dialog" mit Politik, Kirchen und Medien quasi allein bestimmt haben, wird klar, wie unzureichend, ja irreführend dieser vermeintliche Dialog sein muss. Bisher kaum wahrgenommen und schon gar nicht berücksichtigt wurden die Interessen der 80 Prozent, die in keinem dieser Verbände und häufig auch gar nicht oder nur moderat gläubig sind – und von denen selbst die Hälfte der "sehr gläubigen" Frauen kein Kopftuch trägt.
Das wirft ein ganz neues Licht auf die Integrationsdebatte. Mehr noch: Es ist alarmierend, dass eine solche Minderheit in Bezug auf das "Muslimische Leben in Deutschland" (so der Titel der ministeriellen Studie) bisher den Ton angeben und behaupten konnte, für alle zu sprechen.
Diese Islamverbände, die von moderat bis fundamentalistisch gestimmt sind – und aus Mitgliederbeiträgen, von der Türkei oder gar von Saudi-Arabien finanziert werden – erheben immer wieder den Vorwurf der "mangelnden Toleranz" der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der Ignoranz "muslimischer Glaubensfragen" inklusive seiner "religiösen Gebote". Dass diese angeblichen "Gebote" in der Lebensrealität von Menschen mit muslimischem Hintergrund eine so unterschiedliche Rolle spielen können, wie bei Menschen mit christlichem Hintergrund, wird dabei nicht gesagt.
Auch die Menschen aus dem christlichen Kulturkreis sind ja keineswegs alle gläubig und auch ihre Ansichten reichen von liberal bis fundamentalistisch. Auch sie würden es sich verbitten, von Menschen anderer Kulturkreise in erster Linie als "Christen" definiert zu werden. Allerdings fällt auf, dass die Politik in Deutschland auch hier bei Fragen, die den Kirchen wichtig sind, weniger mit den betroffenen Menschen spricht und eher mit den Kirchenvertretern.
Zum Beispiel beim Abtreibungsverbot, das die Kirchen in Deutschland gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung und gegen die Lebensrealität der Frauen immer wieder durchsetzten. So hatte die Politik die 2009 verabschiedete Verschärfung der Abtreibungen ab der 13. Woche zuvörderst mit den Bischöfen verhandelt und nicht mit Frauenberatungsstellen, ProFamilia oder ÄrztInnen.
Oft haben diese christlichen Vertreter durchaus ähnliche Interessen wie die islamischen Verbände: nämlich die Durchsetzung der Vorrangigkeit von Glaubensfragen vor Menschenrechtsfragen, nicht nur in Gottesstaaten, sondern auch in Demokratien. So wie bei den Vertretern Jesu die Abtreibung steht bei den Vertretern Mohammeds das Kopftuch im Fokus.
Das war nicht immer so. Erst seit dem Sieg des iranischen Gottesstaates im Jahr 1979 ist das Kopftuch das Symbol und die Flagge der Islamisten, des politisierten Islam, und hat in den 80er Jahren seinen Kreuzzug bis in das Herz von Europa angetreten. Seither streiten die Islamisten – also die Schriftgläubigen, die sich wortwörtlich auf den Text des im Jahr 632 geschriebenen Korans berufen – in Deutschland für das "Recht" auf das Kopftuch auf allen Ebenen, bis hinein in die Schulen, ja sogar in die Kindergärten. Und nicht selten kommen die Eltern direkt aus dem harten Kern dieser Islamverbände.
Zum Tragen des Kopftuches, das die Mädchen als die "Anderen" sozial ausgrenzt und körperlich einengt, gehört eine ganze Palette von Sonderbehandlungen, die diese Eltern für ihre Kinder in der Schule verlangen. Die Proteste und Prozesse von Eltern werden in der Regel von den Islamverbänden unterstützt, die auch die juristischen Argumente und Strategien für die Eltern ausarbeiten. Immer geht es dabei um die Trennung der Geschlechter oder, so diese in deutschen Schulen verweigert wird, um die Befreiung von der Teilnahme der Mädchen am Schwimmunterricht und Sportunterricht, an den Schulausflügen und am Sexualkundeunterricht.
Das alles sind Fächer, die wir heute für die geistige und körperliche Bildung sowie für die Entwicklung von Gemeinschaftssinn in unseren Schulen für unerlässlich halten. Ganz zu schweigen von dem zentralen Prinzip der Koedukation, das ein Grundstein der Gleichberechtigung ist. Im gemeinsamen Unterricht können Jungen und Mädchen das traditionell Trennende überwinden und erleben, wieviel sie gemeinsam haben; sie sollen sich nicht fremd bleiben, sondern vertraut werden. Die Koedukation ist also unverzichtbar für jede geschlechtergerechte Erziehung.
In der Vergangenheit haben Richter sich immer wieder von einer oft gut gemeinten, jedoch meist naiven Toleranz leiten lassen und durch ihre Urteile zur Sonderbehandlung und so zur Diskriminierung von muslimischen Mädchen beigetragen, indem sie den Eltern-Anträgen auf "Befreiung" vom Unterricht zugestimmt haben. Dies scheint sich gerade zu ändern.
In Nordrhein-Westfalen, wo in Deutschland jeder dritte Mensch muslimischer Herkunft lebt, ergingen jüngst zwei Urteile, die die Hoffnung aufkommen lassen, dass der Offensive der Islamverbände endlich Einhalt geboten wird. So entschied das Oberverwaltungsgericht Münster zweimal im Interesse des Kindes, zuletzt am 30. Juni 2009, wo es das Begehren einer Familie zurückwies, eine Elfjährige vom Schwimmunterricht zu befreien.
Die Schülerin geht seit 2008 auf das Goethe-Gymnasium in Düsseldorf. Bei der Aufnahme unterzeichnete die Mutter eine Erklärung, dass das Mädchen auch am Schwimmunterricht teilnehmen werde – allerdings erst, nachdem Schuldirektorin Glenz der Mutter versichert hatte, das Mädchen dürfe auch im "Burkini" schwimmen (das ist ein Stoffgewand ähnlich den Badeanzügen, die in unserem Kulturkreis im 19. Jahrhundert von Frauen getragen wurden). Trotz dieses Einverständnisses forderten die Eltern der Elfjährigen wenig später die Befreiung ihrer Tochter vom Schwimmunterricht. Das Gericht befand, dies sei ein Verstoß gegen "Treue und Glauben", denn schließlich hatten die Eltern der Minderjährigen zuvor der Koedukation schriftlich zugestimmt.
Dasselbe Gericht – zuständig für NRW, wo die Islamverbände besonders aktiv sind – hatte bereits am 20. Mai 2009 in einem anderen Urteil festgestellt: "Muslimische Mädchen im Grundschulalter haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht." In dem Fall ging es um eine Neunjährige (!), die die Grundschule in Gelsenkirchen besucht. Deren Eltern sind der Auffassung, dass Mädchen ab dem siebten Lebensjahr zu verhüllen seien, um sie "vor sexuellen Versuchungen zu bewahren". Auch der "Burkini" schien diesen Eltern keine Lösung, da er sich im Wasser voll sauge und ihre Tochter beim Schwimmen behindere, ja eine regelrechte Gefahr für ihr Leben sei. Was richtig ist. Und es ist eigentlich schwer nachvollziehbar, warum deutsche Schulen überhaupt gestatten, dass die armen Mädchen unter diesen Stoffhaufen ins Wasser stolpern.
Immerhin steht das nordrhein-westfälische Schulministerium inzwischen hinter Schulleiterinnen wie Renate Glenz. Es kommentierte die Münsteraner Entscheidung mit den Worten: "Es wäre ein Zeichen falsch verstandener Toleranz, wenn die Teilnahme muslimischer Schülerinnen und Schüler an Schulveranstaltungen in das Belieben islamischer Verbände gestellt würde."
Umso erstaunlicher die "Handreichungen" aus dem Jahr 2008 des NRW-Integrationsministeriums, die die islamischen Gebote als "religiöse Pflicht" für alle Muslime darstellen und Eltern, die ihren Töchtern den Schwimmunterricht untersagen wollen, für besonders "liebevoll" halten. Und ganz ähnlich ist leider der Tenor des im Juni 2009 veröffentlichten "Zwischen-Resümees" der von Innenminister Schäuble einberufenen "Deutschen Islam Konferenz". Zwar saßen darin Muslime und Christen, Gläubige und Nicht-Gläubige, doch stehen die zehn Seiten (von insgesamt 32) "Handreichungen für Schule und Elternhaus" zu "religiös begründeten schulpraktischen Fragen" unverrückbar und schriftgläubig auf dem Boden des Koran.
In diesen vom Innenministerium veröffentlichten "Handreichungen" wird einfach behauptet, die Religionsfreiheit habe Vorrang vor dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der koedukative Sportunterricht wird als problematisch "aus religiösen Gründen" bezeichnet, und es wird empfohlen, im Konfliktfall "Schülerinnen von der Teilnahme an einzelnen Übungen zu befreien"; zum Beispiel wenn das Kopftuch beim naturwissenschaftlichen Unterricht Feuer fangen könnte (sic!).
Das Zehn-Seiten-Paper wurde u.a. von einem der führenden Experten islamischen Rechts in Deutschland, Prof. Mathias Rohe, verfasst. Rohe, der 1978/79 in Saudi-Arabien "als Koch" gearbeitet hat und seit Mitte der 70er Jahre regelmäßig islamische Länder in aller Welt bereist, hat von 1981–1989 Recht in Tübingen und Damaskus studiert. Er gilt heute in Deutschland vielen als der juristische Experte für die Anwendung bzw. Vereinbarkeit des islamischen Rechts – also der Scharia – mit dem deutschen Recht und gibt sich an etlichen Punkten auch durchaus kritisch.
Derselbe Rohe erklärte noch vor einigen Jahren in der Frankfurter Rundschau kritiklos: "In Deutschland wenden wir jeden Tag die Scharia an. Wenn Jordanier heiraten, dann verheiraten wir sie nach jordanischem Recht. Die Menschen haben in diesen privaten Verhältnissen Entscheidungsfreiheit." Einen Vortrag Rohes von März 2003 resümierte die "Bundeszentrale für politische Bildung" mit den Worten: Dass auch die Scharia "Recht sei und im Wesentlichen dieselben Funktionen erfülle wie die Rechtsordnungen westlicher Gesellschaften. (…) Aus westlicher Sicht bereite das Rechtsverständnis der Scharia keine größeren Probleme."
2006 kritisieren Soziologen scharf eine Moslem-Studie, die Rohe im Auftrag des österreichischen Innenministeriums erstellt hatte, wegen "gröbster methodologischer und technischer Mängel" – im gleichen Jahr beruft das deutsche Innenministerium ihn in die Islam Konferenz. Zwei Jahre später, 2008, gründet Rohe in Erlangen ein "Zentrum für Islam und Recht in Europa".
In dem von Rohe mitredigierten Papier der Islam Konferenz werden in Ratgebermanier auch noch die letzten Spitzfindigkeiten innerhalb der rechtstaatlichen Grenzen für muslimische Eltern ausgetüftelt, die ihren Töchtern eine gleichberechtigte Teilnahme in der Schule verwehren und auch Minderjährigen das Kopftuch diktieren wollen. Hier wird deutlich, wie selbstverständlich der Einfluss der Scharia auf das deutsche Rechtssystem heute schon ist – und dass der Prozess der "Schariasierung" des deutschen Rechtsstaates noch lange nicht am Ende ist. Zum Schaden aller Menschen, insbesondere Frauen muslimischer Herkunft – und zur Beschädigung der demokratischen Schule, in der alle die gleichen Chancen haben sollten.
Darum: Wehret endlich den Anfängen! Das Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen an deutschen Schulen hat ein Signal gesetzt. Es musste über Jahre gegen die von Islamverbänden unterstützte oder gar initiierte Welle von Prozessen verteidigt werden. Das scheint gelungen zu sein. Jetzt ist der zweite Schritt fällig: Ein Kopftuch-Verbot für Schülerinnen! Nur dieser konsequente Akt gäbe den kleinen Mädchen aus orthodoxen bis fundamentalistischen Familien endlich die Chance, sich wenigstens innerhalb der Schule frei und gleich bewegen zu können. Ob die Mädchen dann nach der Schule das Kopftuch wieder aufsetzen, das wäre dann ihre Sache – bzw. die der Eltern, solange sie unmündig bzw. abhängig sind.
Frankreich hat mit dem 2004 erlassenen Kopftuchverbot beste Erfahrungen gemacht (siehe Seite 90). Nachdem zahlreiche Islamverbände zunächst Sturm liefen, entführten sogar fundamentalistische Terroristen im Irak vor Einführung des Verbots im Sommer 2004 zwei Journalisten als Geiseln, um das französische Kopftuch-Verbot zu kippen – was alle, inklusive der Muslimverbände, empört hat. Seither hat es sich bewährt. Die kopftuchfreie Schule ist jenseits des Rheins längst Alltag. Die Schülerinnen und Schüler aller Kulturen finden es selbstverständlich, dass das stigmatisierende Stück Stoff nicht mehr zwischen ihnen steht. Und die LehrerInnen sind erleichtert. Sie können unterrichten, statt immer wieder dieselben pseudo-religiösen Debatten führen zu müssen, angezettelt von Kindern islamistischer Eltern. Sie haben endlich klare Verhältnisse.