Siliconegate
Dies ist die Geschichte des Silikons. Ein Thriller über Korruption und Fälschung, mit der ein Verbrechen vertuscht werden soll: die Verseuchung der weiblichen Brust mit einem unerforschten Schadstoff.
Die amerikanische Nahrungs- und Arzneimittelbehörde "Food and Drug Administration" (FDA) hat zu einer Anhörung über Silikon-Brustimplantate eingeladen. Janet Strout, eine Krankenschwester aus Kentucky, tritt ans Mikrophon. Sie erzählt von ihrer Tochter Jana, die sich ihren Busen vergrößern ließ. Die mit Silikon-Gel gefüllten Brustpolster seien "völlig ungefährlich", hatte der plastische Chirurg versichert. Doch wenige Monate nach der Operation traten seltsame Symptome auf. Die Ärzte seien ratlos gewesen, berichtet die Mutter: "Schließlich begann ich zu vermuten, dass Janas mysteriöse Krankheit mit den Silikonimplantaten zusammenhängt."
In diesem Augenblick wird die Rednerin von der FDA-Vorsitzenden Elizabeth Connell barsch unterbrochen: "Fassen Sie sich kürzer!" Janet Strout schweigt eine Weile. Dann sagt sie mit leiser Stimme in die Stille hinein: "Meine Tochter starb. Sie war 29 Jahre alt."
Was die Krankenschwester aus Kentucky an diesem kalten Februarabend in Maryland nicht aussprechen durfte, hatte sie zuvor in einem Brief an die FDA-Arzneimittelbehörde ausführlich geschildert. Von Janas "Kopfschmerzen" ist in dem Schreiben die Rede, von ihren "Sehproblemen", von "Müdigkeit, Knochen- und Gliederschmerzen", von "Verdauungsschwierigkeiten", von "heißen Schauern, Atemnot, Brustschmerzen und Schwellungen an den Gelenken", von einem "Schlaganfall". Auf den ersten folgte ein zweiter - der dritte war tödlich.
Janet Strout bestand auf einer Autopsie. Der Pathologe diagnostizierte schließlich "eine komplizierte Migräne" als Auslöser von Janas Schlaganfällen. Als die Mutter ihn aufforderte, die Leiche ihrer Tochter nach Silikonrückständen zu untersuchen, sagte er, "dass er sich in dem Verfahren nicht auskenne". Janet Strout sicherte sich eine tiefgefrorene Gewebeprobe, ließ sie in einem Forschungszentrum aufbewahren und machte sich auf die Suche nach einem Spezialisten. Als sie ihn endlich gefunden hatte, war "das gefrorene Nierengewebestück verschwunden".
Vertuschung, Fälschung, Korruption. Die Geschichte des Silikons in der weiblichen Brust bietet reichlich Stoff für einen Krimi. "Siliconegate" - ein Thriller über einen mafiosen Männerbund: skrupellose Hersteller, bestochene Wissenschaftler, kooperierende Gesundheitsbeamte und profitierende Ärzte. "Siliconegate" heißt Henry Jennys Buch über den "Skandal mit den Brustimplantaten".
Der in USA praktizierende plastische Chirurg aus der Schweiz versucht seit 30 Jahren, Licht in die dunklen Machenschaften der Silikon-Mafia zu bringen. Aber kein amerikanisches Wissenschaftsmagazin oder Ärzteblatt war bereit, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen.
So erging es Jenny nicht allein. Auch andere kritische Forscher wurden systematisch mundtot gemacht, denn es galt ein gigantisches Verbrechen zu vertuschen. "So, wie der zivilisierte Mensch gedankenlos seine Umwelt verseucht hat", sagt Henry Jenny, "haben plastische Chirurgen die Körper von zwei Millionen Frauen in der ganzen Welt irreversibel mit einem Schadstoff namens Silikon verseucht."
Aus den Docks von Yokohama verschwindet kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Kanisterweise Industrie-Silikon, hergestellt vom US-Konzern "Dow Chemical", verwendet als Kühlmittel für Transformatoren. Im Rotlichtviertel der japanischen Hafenstadt taucht es wieder auf - in den Brüsten von Prostituierten. Ärzte haben es ihnen ungereinigt gespritzt, um die Asiatinnen "attraktiver" für die US-Soldaten zu machen.
Von Japan tritt das neue "Brustvergrößerungsmittel" seine Reise nach Nevada, Kalifornien und Texas an, wo die Busen von Stripteasetänzerinnen mit Silikon "aufgepeppt" werden. Danach gelangt es in die Körper von Models und Starlets, denen man einredet, ihre Brüste seien zu klein. Schließlich lassen sich ganz normale Frauen Transformatoren-Kühlmittel in den Busen spritzen. Bald machen Horrorstories von kollabierenden Lungen, erblindeten Augen und krebszerfressenem Brustgewebe die Runde. Folge: In Nevada und Kalifornien wird die Verwendung von Industrie-Silikon zu "kosmetischen Zwecken" verboten.
Die "International Society of Plastic Surgeons" (Internationale Gesellschaft Plastischer Chirurgen) tagt. Professor Thomas Cronin stellt 2000 begeisterten Ärzten aus aller Welt ein neues Brustimplantat "von unbegrenzter Lebensdauer" vor. Hersteller ist die "Dow Corning Corporation", eine Tochter von "Dow Chemical", die das Industrie-Silikon produziert.
Die "Silastic Gel-Filled Mammary Prosthesis", erklärt Cronin seinen 2.000 Zuhörern, besteht aus einer Silikon-Gummi-Hülle (Elastometer) und aus einer Silikon-Gel-Füllung: ein dreidimensionales Netz aus festem Silikon, das flüssiges Silikon umschließt. Das sei eine "völlig inaktive Materie" und "unschädlich für das Gewebe", behauptet Cronin. Auch im Falle eines Bruchs der Hülle wandere die Füllung nicht: "Wissenschaftlich bewiesen durch Dow Corning."
Das ist eine Lüge. Dow Corning hat keine Langzeittests gemacht, am Menschen ist das neue Implantat nie erprobt worden. Aber an Tieren. So berichtet Dow Corning Mitte der 60er Jahre in einem Artikel für die "Medical Instrumentation" über einen Versuch mit vier Hunden, denen kleine Silikon-Brustprothesen eingepflanzt wurden. Außer "leichten Entzündungen" habe es keine Komplikationen gegeben. Das stimmt, aber der Test ist nach sechs Monaten abgebrochen worden. Wenig später starb ein Hund, und die drei anderen begannen, an chronischen Entzündungen und Autoimmunkrankheiten zu leiden. Aber das hielt der Konzern geheim.
Das neue Wunder-Implantat entpuppt sich als Verkaufsschlager, der das Geld in der Konzernkasse klingeln lässt - und in den Kassen der Schönheitschirurgen, die nun den weiblichen Busen nach ihrem Gutdünken formen können. Noch bleiben Frauen mit Brustkrebs verschont, da in den 60er Jahren "brusterhaltende Operationsmethoden" noch kaum angewandt werden.
Es sind die Tage der radikalen Brustamputationen. Aber das wird sich ändern.
Im Januar beauftragt die Geschäftsleitung von Dow Corning ein Forscherteam, ein neues Silikon-Implantat zu entwickeln. Ein weicheres und beweglicheres, mit einer dünneren Hülle und einem höheren Anteil Flüssigsilikon. Grund: Andere Hersteller von "naturgetreueren" Produkten machen dem einstigen Monopolisten Konkurrenz.
Das neue Implantat - so lautet die Vorgabe - soll in vier Monaten auf den Markt kommen. Für das Team beginnt ein Wettlauf mit der Zeit - und ein Kampf gegen unüberwindbare Schwierigkeiten: Die dünnere Hülle reißt schneller und ist (noch) durchlässiger als die dickere. Folge: Auch ohne Brüche und Risse tritt ununterbrochen flüssiges Silikon aus ("Bleeding").
Trotzdem werden Muster des neuen Produkts im April 1975 an die Vertreter weitergeleitet. Schon bald kommen Tom Salisbury, dem Vertriebschef von Dow Corning in Arlington, Klagen zu Ohren. Ein paar Monate später treffen die ersten Reklamationen ein. So moniert Frank Lewis, Dow-Corning-Bezirksvertreter in Detroit, "eine riesige Zahl von Brüchen ein halbes Jahr nach der Operation". Ärzte sprechen von "Bruchraten zwischen 11 und 32 Prozent".
Auch andere Hersteller haben Probleme. Allein der kalifornische Chirurg Michael Pardue schreibt im September 1976 viermal an die "Mac Ghan Medical Corporation" und beschwert sich über Brüche und ausgetretenes Gel. In einem Brief schildert er die "Öffnung einer Brust", in die fünf Monate zuvor ein Mac-Ghan-Implantat eingesetzt worden war: "Der Rand der Gewebekapsel war entzündet, violett-rot bis rot. Des weiteren fand ich in zahllosen Taschen freies Silikon."
Im Februar 1978 wird Henry Jenny zu einem Experten-Treffen der Arzneimittelbehörde FDA eingeladen. Der Chirurg weist das Gremium darauf hin, "dass der Körper das flüssige Silikon weder abbauen noch im Stoffwechsel umwandeln oder ausscheiden kann". Er berichtet über die "immense entzündliche Reaktion auf flüssiges Silikon". Er warnt vor dem "verheerenden Effekt auf das Immunsystem". Er empfiehlt, den Austritt von Flüssigsilikon aus der Hülle, seine Wanderung durch den Körper und seine Ablagerung in den Organen "gründlich zu untersuchen".
Er äußert seine "tiefe Sorge" über "den Zeitfaktor": "Was Silikon wirklich anrichtet, werden wir erst nach einer zehn- bis 20jährigen Latenzzeit erfahren." Zu einem FDA-Folge-Treffen im Juli 1978 wird Dr. Jenny nicht mehr eingeladen. Nur die Hersteller kommen zu Wort.
Wenig später beginnt Jenny, mit dem Schweizer Wissenschaftler Jiri Smahel zusammenzuarbeiten, der Silikon-Mikrotröpfchen in Lymphknoten gefunden hat. Jenny und Smahel entdecken - "aufgereiht wie eine Perlenkette" - Silikon in den winzigen Blutgefäßen der Kapsel aus Narbengewebe, die das Implantat umgibt: "Wir hatten zum ersten Mal bewiesen, dass flüssiges Silikon aus einem intakten Dow-Corning-Brustimplantat ausgetreten war und die Kapillaren in der Umgebung erreicht hatte."
Die beiden Forscher informieren die FDA - keine Reaktion. Andere WissenschaftlerInnen weisen Silikon in Leber und Nieren nach. Bei einer Patientin hat es sich sogar im Gehirn festgesetzt. Nichts geschieht. Weiter werden massenhaft Silikonprothesen implantiert. Seit Ende der 70er auch zunehmend bei Brustkrebspatientinnen.
An einem späten Novembernachmittag sitzt Mariann Hopkins (43) vor dem Fernseher und sieht sich die 17-Uhr-Nachrichten an. Gerade hat sie ihre Stelle an der "Sonoma State University" in San Francisco gekündigt, wo sie 16 Jahre als Verwaltungsangestellte beschäftigt war. Mariann kann nicht mehr arbeiten, weil sie die "Mixed Connective Tissue Disease" (MCTD) hat. Eine unheilbare, rheumatische Erkrankung der Blutgefäße, eine sogenannte "Autoimmunkrankheit", bei der das Abwehrsystem den eigenen Organismus als Fremdkörper angreift.
Die Mutter von zwei Kindern geht an Krücken, quält sich mit Magengeschwüren herum, leidet unter chronischer Müdigkeit, Gelenkschmerzen und Muskelkrämpfen. Im Oktober 1976 hat man ihr wegen des Verdachts auf Krebs beide Brustdrüsen entfernt und durch Silikonimplantate ersetzt. Mittlerweile trägt Mariann Hopkins ihr viertes Paar Brustpolster. Die anderen mußten herausgenommen werden: Sie waren gerissen oder geplatzt.
In den 17-Uhr-Nachrichten wird der Anwalt Dan Bolton aus San Francisco interviewt. Er warnt vor den "Risiken der silikongefüllten Brustimplantate" und wirft den Herstellern "Skrupellosigkeit" vor. Zum ersten Mal hört Mariann Hopkins, dass Silikon in der Brust gefährlich ist. Sie ruft sofort bei dem Anwalt an und erfährt, dass bereits eine ganze Reihe von Frauen mit ähnlichen Symptomen gegen Dow Corning geklagt haben.
Alle Verfahren seien "beigelegt" worden, berichtet Dan Bolton: "außergerichtlich und vertraulich." Nichts drang an die Öffentlichkeit, weil Dow Corning den Frauen ihr Schweigen abgekauft hat.
Anfang November 1991 beginnt der Prozess "Hopkins gegen Dow Corning" im U.S. District Court. Er dauert sieben Wochen. Frank Woodside, einer der Anwälte des Chemie-Konzerns, versucht immer wieder, die Klägerin mit Geld zu bestechen. 200.000 Dollar bietet er beim ersten Mal, beim zweiten sind es 500.000, beim letzten 1,8 Millionen. Obwohl sie nicht weiß, wie sie die nächste Arztrechnung bezahlen soll, bleibt Mariann Hopkins standhaft: "Hätte ich angenommen, wäre die Wahrheit nie ans Licht gekommen."
Auf Antrag Dan Boltons beschlagnahmt das Gericht Dow-Corning-Akten: interne Firmen-Memos, Beschwerdebriefe von Ärzten, geheimgehaltene Studien. Folge: Im Dezember 1991 sprechen die Geschworenen den Konzern "wegen Betruges" schuldig; 7,3 Millionen Dollar Schadenersatz muss Dow Corning an Mariann Hopkins zahlen.
Und nicht nur das. Jetzt empören sich auch die Medien über den "Skandal", silikongeschädigte Frauen schließen sich zu Selbsthilfegruppen zusammen, und die Nahrungs- und Arzneimittelbehörde (FDA) gerät unter Beschuss. Ein Komitee wird gegründet, das untersuchen soll, welche Rolle die FDA bei dem Skandal spielt. Ted Weiss, Kongressabgeordneter und Vorsitzender des Komitees: "Die Dokumente, die wir gesehen haben, zeigen deutlich, dass Frauen ahnungslose Teilnehmerinnen eines gigantischen Experiments gewesen sind."
Am 6. Januar "bittet" die FDA Hersteller und plastische Chirurgen, 60 Tage lang freiwillig auf den Vertrieb und die Implantation von Silikonprothesen zu verzichten. Bei der FDA-Anhörung am 19. Februar in Bethesda versuchen die GesundheitsbeamtInnen erneut, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen: Janet Strout wird unterbrochen, Henry Jenny kommt nur am Rande zu Wort, Mariann Hopkins darf gar nicht erst sprechen: "wegen Befangenheit."
Trotz der erdrückenden Beweise scheut sich die amerikanische Arzneimittelbehörde, die Silikonimplantate ganz zu verbieten. Am 16. April 1992 "erlaubt" die FDA den Vertrieb und die Implantation von Silikonprothesen unter strengen Auflagen: Bei Brustkrebspatientinnen dürfen die Polster nur noch eingesetzt werden, "wenn andere Implantate aus ärztlicher Sicht ungeeignet sind". Die Verwendung für "kosmetische Zwecke" wird untersagt. Ausnahme: "schwere Deformierungen" von Brust oder Brustkorb.
Wegen des öffentlichen Drucks richten Dow Corning und andere Hersteller einen Fond ein: das sogenannte "Breast Implant Global Settlement". Eingezahlt werden sollen 4,5 Milliarden Dollar für die weltweite Entschädigung von 400.000 silikongeschädigten Frauen. Ende gut alles gut? Nein, der Thriller geht weiter.
Die renommierte Mayo-Klinik in Rochester veröffentlicht eine "großangelegte" Studie (auf der Basis von 749 Frauen mit Silikon-Implantaten und 1498 Frauen ohne), angeblich die "erste umfassende" überhaupt. Silikon verursacht "keine Autoimmunkrankheiten", behaupten die ForscherInnen. Kurz darauf kommt die sogenannte Harvard-Studie (1183 Frauen mit Implantat, 876 ohne) zum gleichen Ergebnis. Hersteller und plastische Chirurgen atmen auf.
Doch mit der "Wissenschaftlichkeit" der Studien ist es nicht weit her. So haben die Mayo-ÄrztInnen keine einzige der 749 Patientinnen mit Silikonprothesen selbst befragt, geschweige denn untersucht. "Krankenschwestern haben in den Krankengeschichten herumgeschnüffelt und das Rohmaterial für die Mayo-Clinic-Statistik geliefert", weiß Henry Jenny. Und Prof. Dr. Gary Solomon, Rheumatologe aus New York, kritisiert, dass beide Studien "untypische Symptome" für Autoimmunkrankheiten außer acht lassen und "klassische Symptome" isoliert betrachten, obwohl für Silikon-Folgeschäden eine "Bündelung von atypischen Symptomen" charakteristisch ist.
"Jeder, der die Literatur seit den 70ern liest, weiß das", sagt Prof. Solomon. EpidemiologInnen werfen den Mayo- und Harvard-ForscherInnen vor, dass ihre statistische Basis "viel zu schmal" ist. Für "aussagekräftige Ergebnisse" hätten mindestens 10.000 Frauen befragt, untersucht und beobachtet werden müssen, "besser noch 30.000".
Auch sei die "lange Latenzzeit" nicht berücksichtigt worden, beklagt Dr. Shanna Swan, Epidemiologin und Expertin für Volksgesundheit an der Berkeley-Universität: "Das erinnert mich an R. J. Reynolds, der Raucher um die 30 untersuchen ließ und anschließend behauptete, dass Rauchen kein Lungenkrebs-Risiko ist."
Von der "Unabhängigkeit" der ForscherInnen kann ebenfalls keine Rede sein. Beide Studien wurden u.a. von Implantat-Herstellern und plastischen Chirurgen finanziert, insgesamt schossen sie 2,5 Millionen Dollar zu.
Trotzdem wird aus den Studien weltweit zitiert. Auch in Deutschland berufen sich plastische Chirurgen darauf, die krebskranken Frauen silikongefüllte Implantate einsetzen. Dr. Jenny, der 1992 an einem europäischen Kongress der plastischen Chirurgen in Berlin teilnahm, entrüstet: "Noch nie habe ich einen niedrigeren Stand an Grundlagenforschung, ein primitiveres professionelles Verhalten und einen größeren Mangel an medizinischer Ethik erlebt."
An einem sonnigen Oktobermorgen bringt Sieglinde Esders aus Langen sechs dicke Umschläge zur Post. Einer ist an den Gesundheitsausschuss des Bundestags adressiert, die anderen fünf sind für die Fraktionen bestimmt - von CDU/ CSU bis PDS. Die (damalige) Vorsitzende der deutschen "Selbsthilfegruppe Silikongeschädigter Frauen" bittet die Bonner PolitikerInnen, ein Hearing über Silikonprothesen einzuberufen. Ihrem Begleitschreiben hat sie eine umfangreiche Literatursammlung beigefügt und eine Liste mit den Namen kritischer ÄrztInnen und ForscherInnen. Sieglinde Esders wird nie eine Antwort erhalten.
Die heute 60-Jährige hat Polyarthritis und ist "100prozentig schwerbeschädigt". Seit die silikongefüllten Brustimplantate entfernt worden sind, geht es ihr besser, aber eine Heilung der chronischen Autoimmunkrankheit ist nicht möglich.
Sieglinde Esders waren die ersten Silikonprothesen 1977 nach einer Brustkrebsoperation eingesetzt worden. Von Anfang an gab es Schwierigkeiten - wegen einer sogenannten "Kapselfibrose", auch "harte Brust" genannt, bei der sich die Kapsel aus Narbengewebe eng um das Implantat zusammenzieht. Siebenmal hat der plastische Chirurg durch äußeren Druck die Kapsel "geknackt", damit sich das Implantat wieder ausbreiten konnte.
"Das war eine richtige Misshandlung", erinnert sich Sieglinde Esders: "Diese Kerle sind Sadisten." Die Prothesenhüllen rissen bei dieser groben "Therapie". Viermal wurde Sieglinde Esders operiert, weil ihr neue Polster eingesetzt werden mußten: "Dabei hat man Silikon in der Kapsel, im Brustgewebe und in den Lymphknoten gefunden."
Als die Deutsche von den Prozessen in Amerika, von dem (teilweisen) Silikon-Verbot und von der Gründung des Entschädigungsfonds "Breast Implant Global Settlement" erfährt, macht sie sich auf die Suche nach Leidensgenossinnen im eigenen Land. Im Juni 1993 entsteht die "Selbsthilfegruppe Silikongeschädigter Frauen", die ein Verbot der Implantate fordert. Doch damit sieht es in Deutschland schlecht aus.
Zwar rät das damalige Bundesgesundheitsamt (heute: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) im März 1994 den plastischen Chirurgen, sich nach den FDA-Maßgaben in USA zu richten und silikongel-gefüllte Brustprothesen "nur nach strenger medizinischer Indikation" einzusetzen; zwar hält es auch die "Deutsche Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungschirurgie" für "vernünftig, sich weitgehend den Bedingungen des FDA anzuschließen" - aber das alles sind nur Empfehlungen und keine Vorschriften.
Tag für Tag wird darum in Deutschland weiter Silikon in die weibliche Brust verpflanzt. "Zwischen 10.000- und 12.000mal jährlich" wird im November 1995 auf einem Münchner Symposium geschätzt. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, da sich niemand die Mühe macht, Statistiken darüber zu führen. Die "Selbsthilfegruppe Silikongeschädigter Frauen", die "Kontakt zu 5000 Betroffenen unterhält", fordert deshalb "eine Meldepflicht von Komplikationen nach Brustimplantationen".
Aber kaum jemand hört den Frauen zu. Schon gar nicht die Brüsseler Experten-Kommission, die zur Zeit europaweite Zulassungsbestimmungen für Brustimplantate ausarbeitet. Sieglinde Esders und ihre Mitstreiterinnen wollten in Brüssel ihre Forderungen vortragen und die Ergebnisse einer Fragebogenerhebung vorstellen - es wurde ihnen nicht gestattet. "Wen wundert's?" fragt Sieglinde Esders: "In der Kommission sitzen überwiegend Profiteure: Implantat-Hersteller und plastische Chirurgen."
In Amerika sind inzwischen 1800 Prozesse gegen Implantat-Hersteller und plastische Chirurgen geführt worden. Häufig mit Erfolg. In Deutschland ist noch nicht einmal ein Produzent verklagt worden. Da Brustprothesen hierzulande nicht als Medikamente, sondern als "medizinische Hilfsmittel" bzw. "Medizinprodukte" gelten, sind die Hersteller auch nicht verpflichtet, die Unschädlichkeit nachzuweisen. Den Beweis für die Schädlichkeit muss die Klägerin führen. Aber das kann allenfalls eine Behörde oder ein Forschungsinstitut leisten.
Gegen die plastischen Chirurgen gerichtlich wegen "ärztlicher Kunstfehler" vorzugehen, ist ebenfalls schwierig. Auch in diesem Fall liegt die Beweislast bei der Klägerin. Dabei ist sie auf medizinische Gutachter angewiesen. "Aber eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus", weiß Sieglinde Esders aus eigener leidvoller Erfahrung.
Die Langenerin hatte ihren Chirurgen verklagt - und den Prozess verloren. Als sie in die zweite Instanz gehen wollte, weigerte sich die Rechtsschutzversicherung, die Kosten zu übernehmen. Darum bat Sieglinde Esders ihre Krankenkasse um Unterstützung bei der Finanzierung eines Gutachtens: "Obwohl sie Jahr für Jahr Tausende für die Behandlung meiner Polyathritis ausgeben muss, lehnte die DAK ab."
Aus dem Entschädigungsfond "Breast Implant Global Settlement" hat bisher keine einzige deutsche Frau auch nur einen einzigen Pfennig gesehen. Zur Zeit fließt überhaupt nichts mehr aus dem ohnehin viel zu mageren Topf. Grund: Dow Corning, das den größten Batzen zuschießen musste, zahlt seit Mai 1995 nichts mehr ein. Die Tochter des Chemie-Giganten Dow Chemie meldete einfach Konkurs an. Und das, obwohl sie ihre Gewinne im ersten Quartal 95 um mehr als 30 Prozent gesteigert hat, recherchierte die US-Zeitschrift "Ms".
Die anderen Hersteller weigern sich nun, Frauen mit Dow-Corning-Implantaten zu entschädigen. Außerdem wollen die Implantat-Produzenten nur noch an Amerikanerinnen zahlen. AnwältInnen aus allen Teilen der Welt haben dagegen protestiert.
"Wenn das ein Männerproblem wäre", höhnt Sieglinde Esders, "wäre das Zeug längst vom Markt." Aber es ist ein "Frauenproblem". Und so tickt die Zeitbombe weiter in der weiblichen Brust. Neuerdings häufen sich Berichte von Autoimmunkrankheiten bei Kindern, die von Müttern mit Silikon-Brustprothesen gestillt worden sind. Der Thriller "Siliconegate" ist noch lange nicht zuende.
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