Hollywood: Die Liste der Täter ist lang!
Sie war 1963 die Hauptdarstellerin in dem Kultfilm „Die Vögel“, ein Jahr später spielte sie in „Marnie“ an der Seite von Sean Connery die Tochter einer Prostituierten. Danach war Schluss mit Tippi Hedrens (Foto re) Karriere, die eigentlich für einen Oscar nominiert werden sollte. Das aber verhinderte Alfred Hitchcock. Warum? Weil die damals 31-jährige Schauspielerin und alleinerziehende Mutter dem über drei Jahrzehnte älteren Regisseur sexuell nicht zu Diensten sein wollte. Tippi Hedren, heute 86, erzählt in ihrer Autobiografie, wie Hitchcock sie permanent belästigte. Er habe sich im Auto auf sie geworfen und versucht, sie zu küssen. Bei den Dreharbeiten zu „Marnie“ habe er sie „plötzlich gepackt und die Hände auf mich gelegt. Es war sexuell, es war pervers, es war hässlich.“ Als Hedren weiterhin ablehnte, habe der mächtige Hollywood-Regisseur angekündigt: „Ich ruiniere dich.“ Tippi Hedrens Karriere war beendet. Dabei war Kult-Regisseur Hitchcock nicht der einzige mächtige Mann in Hollywood, der unter Verdacht stand. Errol Flynn und Charlie Chaplin sind nur zwei weitere von vielen Beispielen dafür, dass sexuelle Gewalt in Hollywood eine lange Tradition hat – bis heute.
Das Telefon der kalifornischen Entertainment-Bloggerin Sharon Waxman steht seit Wochen nicht mehr still: „Nervöse Manager und Anwälte sind auf der Suche nach Informationen über Michael Egan. Was weiß er? Wen wird er noch beschuldigen? Welche Beweise hat er?“ Seit der Pressekonferenz des einstigen Nachwuchsschauspielers in Hollywood macht sich Unruhe breit. Egan, heute 31 Jahre alt, hatte den Journalisten Ende April berichtet, nicht nur der Filmemacher Bryan Singer habe ihn als 15- bis 17-Jährigen bei Pool-Partys in Encino bei Los Angeles und auf Hawaii vielfach sexuell missbraucht, Oralsex und Analsex, sondern ihn auch an seine Freunde weitergereicht.
Als Gegenleistung für die Vergewaltigungen sollen die Männer dem durch Drogen gefügig gemachten Minderjährigen lukrative Parts in Filmen, Fernsehserien und Werbespots in Aussicht gestellt haben. „Wir waren wie ein Stück Fleisch, das diese Leute untereinander herumreichten“, sagte Egan heute.
Michael Egan: "Wir wurden herumgereicht wie ein Stück Fleisch"
Skandale um verbotenen Sex mit Jugendlichen reichen in Hollywood zurück bis in die Stummfilmzeit. Schon damals überschritt Charlie Chaplins Faible für junge Mädchen sogar die Moralvorstellungen der als ausgesprochen freizügig bekannten Branche. Chaplin schwängerte unter anderem die 16 Jahre alte Darstellerin Mildred Harris und begann zwei Jahre später ein Verhältnis mit der 12 Jahre alten Lita Grey. Als die Empörung des Kinopublikums in den Boykott seiner Filme umzuschlagen drohte, machte er die beiden Nachwuchsstars zu Mrs. Chaplin, nacheinander. Harris, die während der kurzen Ehe mit Filmverträgen belohnt wurde, trennte sich Mitte 1919 nach wenigen Monaten wieder von Chaplin. Die Verbindung mit Grey, die als 16-Jährige hochschwanger bei einer heimlichen Zeremonie in Mexiko mit Chaplin vor den Traualtar trat, ging ebenfalls nach einigen Jahren in die Brüche. Die Frau, mit der Charly Chaplin dann acht Kinder bekam und alt wurde, Oona O’Neill, heiratete er im Alter von 18 Jahren.
Hollywoods „Dirty Old Men“ wurden schon immer mit allzu jungen Mädchen und Jungen in Verbindung gebracht. Der Abenteuerheld Errol Flynn musste sich im Jahr 1942 wegen einer Vergewaltigungsklage der Minderjährigen Betty Hansen und Peggy Satterlee vor Gericht verantworten. Und noch zwei Jahre vor seinem Tod ließ der welke Frauenschwarm die 15 Jahre alte Filmtänzerin Beverly Aadland zu sich bringen – und vergewaltigte sie vor loderndem Kaminfeuer auf einem Bärenfell. „Er war einfach zu stark für mich. Ich weinte, er zerriss mein Kleid“, erinnerte sich Aadland später.
Es folgten Skandale um sexuellen Missbrauch von Hollywood-Helden wie Roman Polanski, Victor Salva und Woody Allen. Die wühlten Hollywood kurz auf, gerieten dann mit Rücksicht auf die Kinokassen und im Namen der Filmkunst schnell wieder in Vergessenheit.
Skandale wühlten Hollywood kurz auf, gerieten aber bald in Vergessenheit
Egans Anschuldigungen gegen den X-Men-Regisseur Singer und seine angeblichen Mittäter könnten die kalifornische Film-Hochburg nun nachhaltig erschüttern. Während frühere Eklats als individuelle Ausrutscher übersexualisierter Genies kleingeredet wurden, prangert Egan jetzt grundsätzlich das System Hollywood an. In diesem System scheint der Missbrauch von Mädchen und Jungen als Türöffner zu Castings verstanden zu werden. „Wir lernten, dass sexuelle Beziehungen zwischen älteren Männern und Jungen in der Branche ganz normal sind. Angeblich machten das alle.“ Das hatte schon der Kinderstar Corey Feldman („Gremlins“) in seiner Autobiografie „Coreyography“ geschrieben in Bezug auf die Übergriffe von Agenten und Produzenten, wo sie gingen und standen, inklusive der Toiletten.
Auch die amerikanische Schauspielerin und Tänzerin Julianne Hough („Rock of Ages“) wagte sich vor einem Jahr mit schmerzhaften Erinnerungen an die Öffentlichkeit. „Ich war zehn Jahre alt und wirkte wie eine 28-Jährige. Ich musste mich sexy geben, da das zu meinem Leben und meiner Arbeit gehörte. Ich wurde mental, körperlich und auf jede andere Art missbraucht“, schrieb die Country-Sängerin, ohne allerdings die Namen ihrer Peiniger zu nennen.
Jetzt sind die Opfer nicht mehr ganz so allein. Sie wagen es, die Namen der Täter zu nennen. Die kalifornische Stiftung Biz-Parentz, vor zehn Jahre als Informationsbörse für Eltern von Jungschauspielern gegründet, warnt zunehmend laut vor der sexuellen Ausbeutung der Jugendlichen in Hollywood. Und die Missbraucher scheinen nicht weniger zu werden, sondern mehr. „Es mag für viele eine Überraschung sein, aber die Jäger greifen in der Filmbranche um sich. Einige versuchen, aus Fotos der Kinder Kapital zu schlagen. Andere verdingen sich für eine Klientel, die Dunkleres wie Pädophilie und Missbrauch im Schilde führt“, mahnt Paula Dorn, eine der Gründerinnen der Organisation.
Dorn, Mutter eines Schauspielkindes, erinnert daran, dass in den vergangenen Jahren wiederholt Manager, PR-Leute und Fotografen wegen sexuellen Missbrauchs verhaftet wurden. Darunter Jason Michael Handy, ein Produktionsassistent des Kindersenders Nickelodeon, der eine Neunjährige begrabscht hatte. Als Ermittler des Los Angeles Police Department seine Wohnung durchsuchten, fanden sie mehr als 1000 Fotos von Mädchen im Grundschulalter. In seinem Tagebuch hatte Handy sich selbst als „vollendeten Kinderschänder“ gerühmt.
Das kollektive Wegsehen ist Teil des Geschäfts von Glamour und Ruhm
Ob auch der Star-Fotograf Terry Richardson Shootings gegen sexuelle Dienste tauschte, soll jetzt ein Forensiker klären. Ende April hatte das Model Emma Appleton per Facebook der angebliche Vorschlag des 48 Jahre alten New Yorkers erreicht, Sex mit Aufnahmen für das Magazin Vogue zu belohnen. Als die Britin das Angebot veröffentlichte, leugnete Richardson. In Hollywood war allerdings das Faible des Fotografen für sehr junge Frauen bekannt – er brüstete sich öffentlich damit. Und auch seine pornografischen Fotos sind eigentlich eindeutig.
Hollywoods kollektives Wegsehen, das die Opferanwältin Gloria Allred und andere bemängeln, ist seit Jahrzehnten Teil des Geschäfts mit Glamour und Ruhm. Die Schauspielerin Alison Arngrim, vor 40 Jahren als widerspenstige Kaufmannstochter Nellie Oleson in der Fernsehserie „Unsere kleine Farm“ berühmt geworden, macht die Gier für die gern verschleierte Missbrauchskultur verantwortlich. Die heutige Sprecherin der Kinderschutzorganisation Protect sagt: „Wer soll denn Anzeige erstatten, wenn Nachwuchsschauspieler sexuell belästigt werden? Die Eltern, Agenten oder Manager? Ausgerechnet die Menschen, die Geld mit dem System verdienen? Nein, sie schweigen, um die Dreharbeiten und damit ihre Einnahmen nicht zu gefährden.“
Nach einer Gesetzesvorlage der Demokratin Nora Campos hatte der kalifornische Gouverneur Jerry Brown vor zwei Jahren immerhin das Verbot unterzeichnet, Hollywoods Nachwuchs mit verurteilten Sexualstraftätern zusammenarbeiten zu lassen.
Für eine Notbremsung der in Imagefragen hochsensiblen Filmbranche ist es dennoch zu spät. Die jüngst erneut erhobenen Anschuldigungen von Woody Allens Adoptivtochter Dylan Farrow, der Regisseur habe die damals Siebenjährige vor mehr als 20 Jahren missbraucht, verhallten ungewöhnlich schnell wieder. Egans Vorwürfe jedoch schlagen jetzt dank seines Anwaltes hohe Wellen. Der beschuldigte Filmemacher Bryan Singer ist wohl auch nicht ganz so mächtig wie der beschuldigte Filmemacher Woody Allen.
Hollywood am Wendepunkt: Hat das pauschale Leugnen ein Ende?
Nachdem Hawaii vorübergehend die Verjährungsfristen für Missbrauch ganz aufgehoben hat, reichte der Jurist Jeff Herman jetzt von dem Inselstaat aus Schmerzensgeldklagen gegen die der Vergewaltigung Beschuldigten ein: den Regisseur Singer, den Broadway-Produzenten Gary Goddard, den Fernsehmanager Garth Ancier und den früheren Disney-Chef David Neuman.
Herman: „Hollywood hat einen Wendepunkt erreicht. Das pauschale Leugnen erinnert mich an die Anfänge des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche. Auch das wollten die Leute zunächst einfach nicht wahrhaben.“ Anwalt Herman hatte für das minderjährige Opfer eines Priesters der Erzdiözese Miami vor drei Jahren mehr als 100 Millionen Dollar erstritten.
Auffallend allerdings ist, dass es bei allen jetzt auch juristisch vorgehenden Opfern sexuellen Missbrauchs um Männer handelt. Die Klagen der Frauen sind entweder nie laut geworden – oder aber schnell wieder verstummt.
Hollywood hält dennoch zurzeit die Luft an. Und Bloggerin Waxman wartet auf die Namen weiterer Verdächtiger.
Christiane Heil
Aktualisierte Fassung vom 13.10.2017. Der Text erschien erstmals in EMMA 4/14.