Über Alice

"Die Welt aus den Angeln gehoben"

Nina Gummich als Alice Schwarzer mit Thomas Guiné als ihr Lebensgefährte Bruno.
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Selbst wenn es sonst keine Einschaltgründe gäbe: Schon allein Nina Gummich ist jede der 180 Minuten wert. Typische Gesten lassen erahnen, dass sich die Schauspielerin einiges von dem umfangreichen Bewegtbildmaterial über Schwarzer angeschaut hat, aber die Sprechweise zum Beispiel wirkt nie einstudiert, obwohl sie gerade aus dem Off, wenn sie aus Briefen oder Artikeln zitiert, sehr ähnlich klingt. Gummichs Alice ist dennoch kein Imitat, sondern das Ergebnis eines Aneignungsprozesses. Dank ihrer kraftvollen Ausstrahlung hat sie zudem das nötige Format, um einer derartig raumgreifenden Persönlichkeit gerecht zu werden und sie mit jener jugendlichen Energie zu versehen, die nötig ist, um die Welt aus den Angeln zu heben.

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Schon allein Nina Gummich ist
jede der 180 Minuten wert

Das Drehbuch von Grimme-Preisträger Daniel Nocke beschränkt sich auf Schwarzers Aufbruchjahre: 1964 ist sie mit Anfang zwanzig als Au-pair in Paris und wird von den Anfängen der französischen Frauenbewegung infiziert. Später kehrt sie als Korrespondentin zurück. Als 1971 über dreihundert zum Teil prominente Französinnen öffentlich bekennen, sie hätten abgetrieben, importiert sie diese Initiative nach Deutschland. Berühmt wird sie jedoch erst durch ihr im Februar 1975 vom WDR übertragenen Streitgespräch mit Esther Vilar, die in ihrem Buch "Der dressierte Mann" die steile These aufgestellt hatte, nicht die Frauen, sondern die Männer seien die eigentlichen Unterdrückten. Knapp zwei Jahre später erscheint die erste Ausgabe der "EMMA".

Der von Nicole Weegmann sehr souverän inszenierte Film hangelt sich jedoch keineswegs von einem biografischen Eckdatum zum nächsten. Im Vordergrund steht der Kampf um Gleichberechtigung, zumal die Journalistin immer wieder selbst erlebt, was es heißt, sich als Frau in einem damals typischen Männerberuf zu tummeln. Viele dieser Szenen sind allerdings auch dank der prägnanten Besetzung der prominenten Pressepersönlichkeiten – David Rott als Spiegel-Gründer Rudolf Augstein, Sven-Eric Bechtolf als Stern-Chef Henri Nannen, Hannes Wegener als konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza – sehr unterhaltsam. Nicht minder sehenswert ist Katharina Schüttlers Gastauftritt als Esther Vilar. Emotionales Gegenstück zum politischen Engagement ist das Beziehungsleben: In Paris verliebt sich Alice in den sympathischen Studenten Bruno (Thomas Guené), den sie schließlich wegen einer Frau verlässt.

"Alice" - ein fesselnder Film
über eine selbstbewusste Frau

Jenseits von Schwarzers Bedeutung als historische Figur ist "Alice" in erster Linie ein fesselnder Film über eine selbstbewusste Frau, die ihrer Zeit weit voraus und mit ihrer großen Klappe die pure Provokation für eine in den Traditionen verkrustete Gesellschaft war. Auch deshalb taugt sie nach wie vor als Vorbild. Der Zweiteiler hat ohnehin nicht zuletzt wegen der aktuellen Kontroversen um die Abtreibungsgesetze in Polen und den USA gerade auch für ein junges Publikum viel zu bieten. Nocke macht jedoch keinen Hehl daraus, dass die Zusammenarbeit mit Schwarzer nicht immer leicht war.

Der Film zeigt auch sehr persönliche Seiten. Das gilt neben der liebevollen Beziehung zum Großvater (Rainer Bock in einer Minirolle) vor allem für die gelegentlichen melancholischen Anwandlungen, wenn Alice zum Beispiel inmitten der Pariser Leichtigkeit eine seltsame Sehnsucht nach "Schwarzbrot und Nebel" verspürt. Darüber hinaus ist das Drama natürlich auch als Schilderung dieser Zeit des Aufbruchs sehenswert, zumal die gleichfalls mehrfach mit dem Grimme-Preis geehrte Regisseurin ("Ihr könnt euch niemals sicher sein") immer wieder zeitgenössische Berichte etwa über die studentischen Proteste Ende der Sechziger oder über Demonstrationen gegen den Abtreibungsparagrafen einstreut.

TILMANN P. GANGLOFF

Der hier leicht gekürzte Text erschien zuerst auf evangelisch.de. - Der ARD-Zweiteiler "Alice" läuft noch bis 13.06.2025 in der Mediathek.

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