Wer waren die Pionierinnen?
17. November 1918. Die Frankfurter Paulskirche platzt aus allen Nähten. So viele enthusiastische Frauen strömen in das geschichtsträchtige Gebäude, dass es Schlagzeilen in der Weltpresse macht. Allen voran meldet Jus Suffragii die Sensation: „The German Revolution in the first days of its glorious victory has announced equal citizen and economic rights for both sexes, and thereby given the women the vote for all corporate bodies“, schreibt die in London erscheinende Zeitschrift des „Weltbundes für Frauenstimmrecht“.
Nur einen Tag nach Kriegsende erhielten die deutschen Frauen das Stimmrecht. Und diesen Triumph, so Jus Suffragii, feierten sie mit einer „überwältigenden Massendemonstration“. Es ist ein Triumph, für den sie ein halbes Jahrhundert lang gekämpft hatten – und bis zur letzten Minute.
Fünf Tage zuvor, am 12. November, hatte die provisorisch eingesetzte Regierung in ihrem „Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk“ die Anerkennung der Frauen als vollwertige Bürgerinnen verkündet. Bis dato hatten Frauen in Sachen Bürgerrechte mit Minderjährigen und geistig Behinderten auf einer Stufe gestanden. Ab nun galt: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht aufgrund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“
Nachdem die Jubelfeiern, die auch in München, Hamburg, natürlich Berlin und überhaupt in ganz Deutschland stattfinden, abgeklungen sind, macht sich emsige Betriebsamkeit unter der weiblichen Wahlbevölkerung breit. Man hatte sie so lange von den Wahlurnen ferngehalten und eingelullt mit der Behauptung, das politische Geschäft widerspreche ihrer „natürlichen Bestimmung“. Nun sind die Frauen wild entschlossen, mit größtmöglicher Kompetenz von ihrem Recht Gebrauch zu machen.
„Eine Wandlung hat sich im Weltall vollzogen wie nie zuvor: Frauen Deutschlands, Ihr werdet als gleichberechtigte Bürgerin dieses Staates gelten!“ jubelt die Frauenrechtlerin Minna Cauer in ihrer Zeitschrift Die Frauenbewegung und appelliert „An die Frauen Deutschlands“: „Eine konstituierende Nationalversammlung ist in Vorbereitung. Ihr könnt mitwählen! Bereitet euch würdig dafür vor. Frauen Deutschlands, Ihr werdet alle gerufen! Seid Mitarbeiterinnen, Helferinnen, Kämpferinnen für eine neue Zeit!“
Viele Frauen lassen sich das nicht zweimal sagen. „Kein Saal in den Großstädten ist groß genug, um die Massen der Frauen zu fassen, die sich politisch unterrichten wollen; in allen Kreisen und Berufen, auf dem Lande und in der Stadt wird jetzt von Frauen Politik getrieben und alle Kreise der Frauen sind erfüllt von brennendem Drange, ihr Wahlrecht auszuüben“, berichtet Die Frau im Staat. Die Herausgeberinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, zwei der kühnsten deutschen Streiterinnen für das Frauenstimmrecht, prognostizieren: „Es steht heute schon fest, dass die Beteiligung der Frauen bei den Wahlen sehr groß sein wird.“ Sie werden recht behalten.
Am Wahlsonntag, dem 19. Januar 1919, werden 82 Prozent der deutschen Frauen ihren Stimmzettel in die Urnen werfen! Und so wählen an diesem historischen Tag 15 Millionen Männer – und 17,7 Millionen Frauen die erste demokratische Nationalversammlung Deutschlands.
„Ihr Wunsch, ihre Stimme abzugeben, war so groß, dass die Frauen in langen Schlangen auf Einlass warten mussten“, berichtet Jus Suffragii stolz. Die Fotos von jenem Sonntag zeigen ein schwarz-weißes Meer von Hüten, das sich durch die Straßen windet. Damenhüte mit Schleifen, Pelzbesatz oder Blumenschmuck.
Dazwischen gelegentlich ein Herrenhut. „In Scharen“ seien die Wählerinnen herbeigeströmt und hätten „von früher Morgenstunde an ganze Straßenzüge entlang vor den Wahllokalen ‚Polonaise‘ gestanden“, berichtet Die Frauenfrage, das Zentralblatt des „Bundes Deutscher Frauenvereine“. „Auf den alten und jungen Frauengesichtern“ beobachtet Frauenrechtlerin Marie Stritt „etwas von einer neuen Würde und Sicherheit, von einem neuen Selbstbewusstsein und bescheidenen Bürgerstolz: Auch auf mich kommt es heute mit an! Auch ich darf mitreden, wo es um Wohl und Wehe des Vaterlandes geht!“
Aber nicht nur die neuen Wählerinnen strahlen stolz. Stritt: „Ein neuer Ausdruck lag auch auf dem Gesicht so manches ehrsamen Wählers, der an der Seite der Gattin oder der erwachsenen Tochter dem Wahllokal zustrebte, ein Ausdruck von kameradschaftlicher Hochachtung, wie sie bisher, zumal an solchen Tagen, nur dem eigenen Geschlechtsgenossen entgegengebracht wurde.“ Lange, sehr lange hatten die Gattinnen und Töchter um diese „Kameradschaftlichkeit“ ringen müssen, die Simone de Beauvoir 40 Jahre später im „Anderen Geschlecht“ als Utopie und „Geschwisterlichkeit“ bezeichnen wird.
Noch wenige Monate vor der Verkündung des Frauenwahlrechts hatte der Reichstag – wieder einmal – die Forderung nach dem Frauenstimmrecht mit großer Mehrheit als „unerhört“ und „ungeheuerlich abgelehnt“. „Verweiberung“ drohe, eine „Jungfernherrschaft“ stehe zu befürchten, wenn der Staat von der „giftigen Frucht am Baume der Frauenemanzipation“, dem Frauenstimmrecht, koste, zeterte der „Deutsche Bund gegen die Frauenemanzipation“ noch 1916. Die Politik bedürfe „männlicher physischer und geistiger Kraft“ sowie „Entschlussfreudigkeit und unbeugsamen Todesmutes“; die Frau hingegen bleibe „im Kampf um das Dasein unter allen Umständen in gewissem Grade unfrei und vom Schutze und der Fürsorge des Mannes abhängig“. Daher sei die Frau als vollberechtigte Staatsbürgerin ein „Widerspruch in sich“. (...)
Dieser Textauszug über die feministischen Pionierinnen, die für das Stimmrecht gekämpft haben, ist Teil eines Dossiers in der November/Dezember EMMA. Darin geht es außerdem um die Suffragette Emmeline Pankhurst; die Österreicherinnen, die 1918 das Wahlrecht erstritten haben; die aktuelle Forderung nach "Parité in den Parlamenten"; sowie eine Chronik über die Stationen der Frauen auf dem Weg in die Politik. Ausgabe bestellen