Friedensplan für die Ukraine

Das Wohngebiet Borodyanka in Kiew ist komplett zerbombt. - Foto: Aziz Karimov/IMAGO
Artikel teilen

Vier angesehene deutsche Persönlichkeiten haben einen hochkompetenten, realistischen Friedensplan vorgestellt, wie der Krieg in der Ukraine durch einen Waffenstillstand und darauffolgende Friedensverhandlungen beendet werden könnte (siehe Text unten). Es ist der wohl der umfassendste und wegweisendste Friedensvorschlag, der seit dem Beginn des Krieges vor 18 Monaten von einer Regierung, einer internationalen Organisation oder, wie hier, von privater Seite gemacht wurde.

Anzeige

Dass die Ukraine im wahrsten Sinne ausblutet, wird offenbar in Kauf genommen

Dieser Vorschlag kommt zu einem äußerst kritischen Zeitpunkt im Ukrainekrieg. Durch das mögliche Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive und einer damit verbundenen Schwächung der ukrainischen Streitkräfte könnte die NATO in den nächsten Monaten, ja, vielleicht schon in Wochen vor der Entscheidung stehen, entweder den Krieg gegen Russland nochmals zu eskalieren oder doch den Weg von Verhandlungen zu gehen. Eine Entscheidung für eine Weiterführung des Krieges birgt das enorme Risiko, dass der Krieg sich so zunehmend zu einer direkten NATO/Russland Konfrontation entwickeln könnte. Das würde nicht nur das weitere Leiden der ukrainischen Bevölkerung zur Folge haben, es würde auch die Welt einen Schritt näher an einem Nuklearkrieg bringen.

So ist nur zu hoffen, dass Vernunft siegt und die NATO, Ukraine und Russland sich für einen Waffenstillstand mit sofortigen Friedensverhandlungen entscheiden. Dieser detaillierte deutsche Friedensvorschlag hat nun den Weg dazu aufgezeigt. 

Es gibt bisher Friedensvorschläge zum Ukrainekrieg von China, dem globalen Süden sowie einen auf Einladung des Vatikans entwickelten Vorschlag. Zudem haben die Türkei und Israel Friedensinitiativen unternommen. Es ist daher erschreckend, dass die Europäische Union, die selbst tief in diesen Krieg involviert ist, noch keinen Vorschlag gemacht hat, wie dieser Krieg durch eine politische Lösung beendet werden könnte.

UN-Diplomat a.d. Michael von der Schulenburg fordert Verhandlungen. Foto: privat
UN-Diplomat a.d. Michael von der Schulenburg fordert Verhandlungen. Foto: privat

In dieser Zeit der höchsten Gefahr für Europa scheint die Europäische Union in eine politische Starre verfallen zu sein. Weder verfügt sie über eine ersichtlich eigene Strategie für den Ukrainekrieg, noch hat sie Vorstellungen entwickelt, wie ein friedliches Europa nach diesem Krieg aussehen könnte. Als hätte dieser alte Kontinent nichts aus den schrecklichen Erfahrungen der beiden Weltkriege gelernt. Man hält an Maximalforderungen und an der erschütternden Vorstellung fest, dass diese nur auf dem Schlachtfeld erreicht werden können.

Dass man damit die Ukraine im wahrsten Sinne ausblutet, wird offenbar in Kauf genommen. Auch scheint die EU-Politik gegenüber den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen für die Menschen in Europa und in der Welt, sowie den enormen Gefahren, die für die Menschheit von einer Ausweitung des Krieges ausgehen würde, taub zu sein.

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, warum gerade jetzt ein solch detailliert ausgearbeiteter deutscher Friedensvorschlag von so großer Wichtigkeit ist. Er bricht mit dem verhängnisvollen Glauben militärische Siege könnten einen Frieden bringen, und skizziert demgegenüber Wege, durch politische Verhandlungen eine friedliche Lösung dieses Konflikts. 

Auch dieser Friedensvorschlag geht von der westlichen Auffassung aus, dass Russland einen illegalen Angriffskrieg angefangen hat und damit die Ukraine jedes Recht hat, sich militärisch zu verteidigen und dazu auch ausländische Unterstützung anzunehmen. Nur geht er einen entscheidenden Schritt weiter, indem die Autoren betonen, dies, „entbindet die Regierung in Kiew und die sie unterstützenden Staaten nicht, die Erlangung eines gerechten und dauerhaften Friedens politisch zu befördern“.

Da dieser Krieg nach 18 Monaten nun in ein höchst zerstörerisches Stadium getreten ist, indem es keine Sieger mehr geben kann, ist die geforderte Verpflichtung aller Kriegsparteien und deren Unterstützern, eine politische Lösung für einen Frieden zu suchen, noch dringlicher geworden. So fordern die Initiatoren einen sofortigen Waffenstillstand entlang des bestehenden Frontverlaufes, und den gleichzeitigen Beginn von Friedensverhandlung, Um Friedensverhandlungen nicht durch lange politische Winkelzüge zu verzögern, schlagen sie Verhandlungslösungen zu den kontroversen Kernproblemen des Konfliktes vor: zu einer neutralen Ukraine, Sicherheitsgarantien für die Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine, sowie eine politische Lösung für den zukünftigen Status der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson sowie der Krim. Die Verhandlungen sollten an die im März 2022 geführten russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen anknüpfen.

Dieser nun aus Deutschland kommende Friedensvorschlag ergänzt die bereits angebotenen außereuropäischen Friedensvorschläge. Wie diese geht er davon aus, dass auch russische Sicherheitsinteressen wie sie in Russlands Schreiben an die NATO und die USA vom 17. Dezember 2021 dargelegt wurden, berücksichtigt werden müssen.

Es sollte im Interesse der EU sein, den Friedensvorschlag aufzugreifen

Im Gegensatz zur politischen Auffassung in der EU teilen die Initiatoren des deutschen Friedensvorschlags die Einschätzung nicht-westlicher Länder, dass der russische Präsident Putin sehr wohl zu Verhandlungen bereit sei. Das bedeutet noch keine Annäherung der Verhandlungspositionen. Wie bei allen anderen Friedensverhandlungen, so müssen auch im Fall des Ukrainekriegs bei gegensätzlichen Interessen der Kriegsparteien und deren unterstützenden Staaten mühevoll ausgehandelt werden. Das wird äußerst schwierig werden, da es kein Vertrauen zwischen den Konfliktparteien gibt. Friedensverhandlungen finden eben zwischen Kriegsfeinden und nicht unter Freunden statt. Dennoch stellt der nun aufgezeichnete Weg für einen Verhandlungsfrieden einen großen Vorteil gegenüber jedem weiteren Versuch dar, eine militärisch erzwungene Lösung zu erzielen.

Daher sollte es auch im ureigensten Interesse der Staaten der EU sein, diesen Friedensvorschlag schnellstens aufzugreifen. Denn es wird die EU sein, die in diesem Krieg verliert. Sie wird auf den Kriegskosten sowie den Langzeitkosten einer zerstörten, verarmten und sich entvölkernden Ukraine sitzen bleiben. Längst nachdem sich die USA wieder über den Atlantik zurückgezogen hat, wird die EU zusätzlich auch weiterhin mit vielen der weltweiten Krisenregionen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft konfrontiert bleiben. Auch wird es die Wirtschaft der EU sein, die durch eine Verteuerung der Rohstoffe, durch den Verlust an Absatzmärkten und die Blockierung der direkten Handelswege zu den Wachstumsregionen Asiens sowie durch die eignen Sanktionen am meisten leiden wird. Und man muss nur die Zeichen des BRICS+ Gipfels, der Shanghai Cooperation Organization und nun auch des G-20 Gipfels richtig lesen, um zu erkennen, dass nicht Russland isoliert ist, sondern dass es der Einfluss der EU ist, der international zunehmend schwindet.

Für die EU ist der Ukrainekrieg eben eine enorme Belastung in ihren internationalen Beziehungen. Die EU braucht also dringend einen Frieden und der deutsche Friedensvorschlag sollte als Chance gesehen werden, den Focus der europäischen Außenpolitik von Krieg auf Frieden umzustellen.  

Auffallend am deutschen Friedensvorschlag ist, wie sehr er bei dessen Durchführung auf eine entscheidende Rolle der Vereinten Nationen setzt. Demnach sollen die Rahmenbedingungen für einen umfassenden Waffenstillstand im UN-Sicherheitsrat beschlossen und die Überwachung der Entmilitarisierung in den russisch besetzen Gebieten sowie entlang der Waffenstillstandslinie durch UN-Friedenstruppen garantiert werden. Auch sollen die Friedensverhandlungen unter der Schirmherrschaft des UN-Generalsekretärs oder eines von ihm benannten Hohen Kommissars stattfinden. Wollen wir den Krieg in der Ukraine friedlich beenden, gibt es zu diesem Friedensvorschlag keine Alternativen. MICHAEL VON DER SCHULENBURG

Hier der Originaltext des Friedensplans:

Krieg mit Verhandlungsfrieden beenden!

Legitime Selbstverteidigung und das Streben nach einem gerechten und dauerhaften Frieden sind kein Widerspruch

Ein Verhandlungsvorschlag von Professor Dr. Peter Brandt, Professor Dr. Hajo Funke, General a. D. Harald Kujat und Professor Dr. h. c. Horst Teltschik

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24.  Februar 2022 führt die Ukraine einen legitimen Verteidigungskrieg, in dem es um ihr Überleben als Staat, ihre nationale Unabhängigkeit und Sicherheit geht. Diese Feststellung gilt unabhängig von der demokratischen und rechtsstaatlichen Qualität und der Verfassungsrealität, auch unabhängig von der sehr viel komplizierteren Vorgeschichte und dem ebenfalls komplizierteren weltpolitischen Zusammenhang des Krieges.

Prof. Peter Brandt ist Historiker und der älteste Sohn von Willy Brandt.
Prof. Peter Brandt ist Historiker und der älteste Sohn von Willy Brandt.

Die Legitimität der bewaffneten Selbstverteidigung auf der Grundlage des Art. 51 der Uno-Charta entbindet die Regierung in Kiew und die sie unterstützenden Staaten allerdings nicht von der Verpflichtung – nicht zuletzt gegenüber dem eigenen Volk – Vernunft walten zu lassen, sich der Steigerung von Gewalt und Zerstörung nicht hinzugeben und die Erlangung eines gerechten und dauerhaften Friedens politisch zu befördern. Auch während des Krieges – und gerade währenddessen – darf das stete Bemühen um eine diplomatische Lösung nicht nachlassen.

Das gilt ebenso für die mittelbar Beteiligten, auch für die Bundesrepublik Deutschland, die durch das Friedensgebot des Grundgesetzes sogar besonders verpflichtet ist. Zudem hat die Bundesregierung am 2. März 2022, wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffs, einer von der Ukraine eingebrachten, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen REsolution zugestimmt, die eine «friedliche Beilegung des Konfliktes zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel» fordert. Am 23.  Februar 2023 wurden die Mitgliedsstaaten und internationalen Organisationen in einer weiteren Uno-Resolution aufgefordert, «ihre Unterstützung diplomatischer Anstrengungen zu verdoppeln, um einen umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine zu erreichen.» Diese Verpflichtung gilt auch für die ukrainische Regierung, die weiterhin Verhandlungen mit Russland ablehnt.

Die Ukraine hat dem russischen Angriffskrieg bisher durch die umfassende Unterstützung des Westens widerstanden. Die Entscheidung darüber, welche Aufwendungen geleistet werden müssen, damit der Krieg gegen jede Vernunft und trotz der Unerreichbarkeit der politischen Ziele weitergeführt wird, darf jedoch auf Dauer nicht allein der ukrainischen Regierung überlassen werden. Die ständige Intensivierung der Kriegsführung hat bereits zu einer großen Zahl gefallener Soldaten und getöteter ukrainischer Zivilisten sowie zur weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur geführt. Je länger der Krieg dauert, desto grösser werden die ukrainischen Verluste und die Zerstörung des Landes, und desto schwieriger wird es, einen gerechten und dauerhaften Verhandlungsfrieden zu erreichen, der auch den Staaten Sicherheit gibt, die an der Seite der Ukraine stehen. Es droht bereits eine weitere Eskalation durch absehbare Offensiven der russischen Streitkräfte, im Kampf um Odessa und durch den wieder ausgebrochenen Konflikt um die ukrainische Getreideausfuhr.

Seit dem 4. Juni 2023 versuchen die ukrainischen Streitkräfte, die tief gestaffelten russischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen und die Landbrücke zwischen Russland und der Krim zu blockieren, um die russischen Streitkräfte von der logistischen Drehscheibe Krim abzuschneiden. Die ukrainischen Streitkräfte erleiden in den Kämpfen große Verluste an Menschen und (westlichem) Material, ohne bisher einen durchgreifenden Erfolg zu erzielen.

Scheitert die Offensive, so ist damit zu rechnen, dass die Ukraine fordern wird, westliche Soldaten sollen westlichen Waffen folgen. Denn auch die geplanten westlichen Waffenlieferungen können die enormen personellen Verluste der ukrainischen Streitkräfte nicht ausgleichen. Dagegen hat Russland bisher noch nicht die Masse seiner aktiven Kampftruppen eingesetzt. Man kann daher davon ausgehen, dass Russland nach weiteren ukrainischen Verlusten in Gegenangriffen dazu übergehen wird, die annektierten Gebiete zu sichern und damit das Ziel der «militärischen Spezialoperation» zu erreichen.

Diesen Krieg kann niemand gewinnen

Schon seit einiger Zeit zeichnet sich ab, dass weder Russland noch die Ukraine diesen Krieg gewinnen können, denn von keinem werden die politischen Ziele erreicht, deretwegen sie diesen Krieg führen. Die Ukraine kann auch mit westlicher Unterstützung durch Waffen- und Munitionslieferungen sowie durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten Russland militärisch nicht besiegen. Selbst die bisher und immer wieder aufs Neue von Laien geforderte Lieferung von «Wunderwaffen»⁴ ist nicht der erhoffte «Gamechanger», der die strategische Lage zu Gunsten der Ukraine ändern könnte. Zugleich steigt jedoch das Risiko, dass die Eskalation bis zum «Äussersten» steigt, einem militärischen Konflikt zwischen der Nato und Russland, mit der realen Gefahr eines auf den europäischen Kontinent begrenzten Nuklearkrieges, obwohl die USA und Russland ihn vermeiden.

Harald Kujat ist General a.d. der Luftwaffe und war Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.
Harald Kujat ist General a.d. der Luftwaffe und war Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

Diese Entwicklung sollte nicht abgewartet werden. Denn es wäre vor allem im Interesse der Ukraine, sobald wie möglich einen Waffenstillstand anzustreben, der die Tür für Friedensverhandlungen öffnet. Es liegt gleichermaßen im Interesse der europäischen Staaten, die die Ukraine vorbehaltlos, aber ohne eine erkennbare Strategie unterstützen. Denn aufgrund der zunehmenden Abnutzung der ukrainischen Streitkräfte wächst das Risiko, dass der Krieg in der Ukraine zu einem europäischen Krieg um die Ukraine eskaliert. Die Ukraine vergrößert dieses Risiko, indem sie mit westlicher Unterstützung zunehmend Anschläge gegen die strategische Infrastruktur Russlands wie beispielsweise am 26.12. 2022 gegen den nuklearstrategischen Stützpunkt Engels bei Saratow oder die Kertsch-Brücke unternimmt. Zudem könnte sich der Westen gezwungen sehen, eine vernichtende militärische Niederlage der Ukraine durch sein aktives Eingreifen zu verhindern. Die Einsicht, dass dies eine reale Gefahr ist, wächst.

Kann man mit Putin verhandeln?

Bisher gibt es keinen Beleg dafür, dass das politische Ziel der «militärischen Spezialoperation» die Eroberung und Besetzung der gesamten Ukraine ist und Russland danach einen Angriff auf Nato-Staaten plant. Es gibt auch keine Anzeichen, dass Russland und die USA für diesen Fall Vorbereitungen treffen. Aus militärischer Sicht kann man allerdings nicht völlig ausschließen, dass die russischen Streitkräfte beabsichtigen, Gebiete westlich des Dnjepr zu erobern, denn sie haben die Brücken über den Fluss bisher nicht zerstört, obwohl dies in der gegenwärtigen Konstellation von großem Vorteil wäre. Putin widerspricht energisch, dass er – wie häufig behauptet wird, – das imperialistische Ziel verfolgt, die Sowjetunion wieder herzustellen: «Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz, wer sie sich zurückwünscht, hat keinen Verstand.

Putin war zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit und ist es sicherlich noch – dies immer unter der Voraussetzung, dass Verhandlungen auch von der Gegenseite – also der amerikanischen, ukrainischen und westlichen Seite – gewollt werden. Hierzu hat Putin sich mehrfach positiv geäußert. Beispielsweise anlässlich der Erklärung zur Teilmobilmachung vom 21.  September 2022: «Das möchte ich heute zum ersten Mal öffentlich machen. Nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, insbesondere nach den Gesprächen in Istanbul, äußerten sich die Kiewer Vertreter recht positiv zu unseren Vorschlägen. Aber eine friedliche Lösung passte dem Westen offensichtlich nicht, weshalb Kiew nach Abstimmung einiger Kompromisse tatsächlich befohlen wurde, alle diese Vereinbarungen zunichte zu machen.

Ebenfalls am 30. September 2022 in der Erklärung zur Annexion der vier Regionen: «Wir rufen das Kiewer Regime dazu auf, unverzüglich das Feuer einzustellen, alle Kampfhandlungen, diesen Krieg, den es bereits 2014 vom Zaun gebrochen hat, zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir sind dazu bereit, das haben wir bereits mehrfach erklärt.

Am 17. Juni 2023 erklärte Putin gegenenüber der afrikanischen Friedensdelegation «Wir sind offen für einen konstruktiven Dialog mit allen, die Frieden wollen, der auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Berücksichtigung der legitimen Interessen der unterschiedlichen Seiten beruht.» Bei dieser Gelegenheit zeigte Putin demonstrativ ein paraphiertes Exemplar des Vertragsentwurfs der Istanbuler Verhandlungen.

Die «Welt» hat am 23.  Juni 2023 in einem ausführlichen Leitartikel geschrieben, dass auch die russischen Medien von Verhandlungen sprachen; man kann davon ausgehen, dass dies mit Billigung des Kremls geschehen ist. Die afrikanische Initiative sei anlässlich des russisch-afrikanischen Gipfels von der russischen Berichterstattung breit aufgegriffen und wohlwollend kommentiert worden. Die staatliche Nachrichtenagentur RIA veröffentlichte einen Kommentar, in dem die bisherigen gescheiterten Friedensinitiativen bedauert wurden. Chefredakteurin Margarita Simonjan, die bislang ein härteres Vorgehen der russischen Armee forderte, befürwortete einen Waffenstillstand und eine entmilitarisierte, von Uno-Friedenstruppen gesicherte Zone. Es sei richtig, das Blutvergießen jetzt zu stoppen. In Referenden sollten die Ukrainer dann selbst abstimmen, zu welchem Land sie gehören wollen. «Brauchen wir Territorien, die nicht mit uns leben wollen? Ich bin mir da nicht sicher. Aus irgendeinem Grund scheint es mir, dass der Präsident sie auch nicht braucht», sagte Simonjan.13

Prof. Horst Teltschik leitete die Münchner Sicherheitskonferenz und war enger Vertrauter Helmut Kohls.
Prof. Horst Teltschik leitete die Münchner Sicherheitskonferenz und war enger Vertrauter Helmut Kohls

Der Krieg hätte verhindert werden können, hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert – wozu Selenkskij anfangs durchaus bereit war – , auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk II-Abkommen für Minderheitenrechte der russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt. Der Krieg hätte Anfang April 2022 beendet werden können, hätte der Westen den Abschluss der Istanbul-Verhandlungen zugelassen. Es liegt nun erneut und möglicherweise letztmalig in der Verantwortung des «kollektiven Westens» und insbesondere der USA, den Kurs in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu setzen.

Es gilt, einen Weg aus der Gefahr einzuschlagen

Imperiale Rivalitäten, nationale Überheblichkeit und Ignoranz haben den Ersten Weltkrieg ausgelöst, den man als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. Der Ukraine-Krieg darf nicht zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden! Durch die zunehmende Europäisierung des Konflikts droht das Hineingleiten in einen großen Krieg zwischen Russland und der Nato, den keine der beiden Seiten will und angesichts der in einem solchen Fall akut drohenden nuklearen Katastrophe auch nicht wollen kann. Deshalb ist es dringend geboten, die Eskalationsschraube anzuhalten, bevor sie eine nicht mehr politisch kontrollierbare Eigendynamik entwickelt.

Jetzt gilt es für die europäischen Staaten und die Europäische Union, deren weltpolitisches Gewicht im Krieg und durch den Krieg laufend reduziert wird, alle Anstrengungen auf die Wiederherstellung eines stabilen Friedens auf dem Kontinent zu richten und damit einen großen europäischen Krieg zu verhindern. Diesen abzuwenden, erfordert das Engagement führender europäischer Politiker, namentlich des französischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers in einer gemeinsamen Anstrengung und in Abstimmung mit dem US-amerikanischen und dem türkischen Präsidenten, solange noch Zeit ist und der «Point of no Return», auf den Jürgen Habermas eindrücklich verwiesen hat, noch nicht überschritten ist.

Die Positionen der Kriegsparteien

Ukraine:

- Verhandlungen erst nach Abzug der russischen Truppen von ukrainischem Territorium beziehungsweise nach der Befreiung aller von Russland besetzten Gebiete.

- Verpflichtung Russlands, die Kosten des Wiederaufbaus zu tragen.

- Verurteilung der für den Angriff verantwortlichen russischen Führung.

- Nato-Mitgliedschaft nach Beendigung des Krieges.

- Sicherheitsgarantien durch von der Ukraine benannte Staaten.

Prof. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler und forscht zu Antisemitismus und Rechtsextremismus.
Prof. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler und forscht zu Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Russland:

- Konsolidierte Neutralität der Ukraine – keine Nato-Mitgliedschaft.

- Keine Stationierung amerikanischer und anderer Nato-Truppen auf ukrainischem Territorium.

- Anerkennung der Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja als russisches Staatsgebiet.

- Höchstgrenzen für die ukrainischen Streitkräfte insgesamt und für die einzelnen Waffengattungen.

- Rüstungskontrollverhandlungen mit den USA/der Nato, insbesondere über Verifikationsmechanismen für das Ballistic Missile Defence System/BMDS der Nato in Polen und Rumänie Prof. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler und forscht zu Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Beide Kriegsparteien haben nach dem Rückzug der Ukraine aus den Vereinbarungen von Istanbul Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen gestellt, der ukrainische Präsident sogar Verhandlungen per Dekret verboten. Auch für die Verhandlungsergebnisse wurden von beiden Seiten Forderungen erhoben, die so nicht realisierbar sind. Deshalb müsste erreicht werden, dass zunächst alle Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen fallengelassen werden. Das chinesische Positionspapier bietet dafür einen vernünftigen Ansatz. Es fordert, die Verhandlungen von Istanbul auf dem damals erreichten Stand wieder aufzunehmen («resume peace talks […] resumption of negotiations»).

Eine wichtige Rolle für das Zustandekommen von Verhandlungen fällt den USA zu. Die USA müssten den ukrainischen Präsidenten zu Verhandlungen drängen. Darüber hinaus müssten sie (und die Nato) zu Rüstungskontrollverhandlungen einschließlich vertrauensbildender militärischer Maßnahmen bereit sein.

Phase I – Waffenstillstand

1. Der Uno-Sicherheitsrat

-beschliesst gemäss Artikel 24 Absatz 1 der Uno-Charta im Einklang mit der ihm von den Mitgliedern übertragenen Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit einen Zeit- und Ablaufplan für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen zur Beendigung des Ukrainekrieges und die Wiederherstellung des Friedens,

-beschliesst mit Wirkung von einem «Tag X» an einen allgemeinen und umfassenden Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien Russland und Ukraine. Der Waffenstillstand erfolgt ohne Ausnahme und ohne jede Einschränkung oder Sonderregelung unabhängig von der Dislozierung der gegnerischen Streitkräfte und Waffensysteme und ist in allgemeiner und umfassender Form verbindlich durchzuführen,

-beauftragt einen Hohen Kommissar für Frieden und Sicherheit in der Ukraine mit der politischen Verantwortung für die Durchführung des Zeit- und Ablaufplans sowie aller vom Uno-Sicherheitsrat in diesem Zusammenhang beschlossenen Massnahmen,

-beschliesst den Einsatz einer Uno-Friedenstruppe16 nach Kapitel  VII der Uno-Charta, die mit der Einhaltung und Durchsetzung des Waffenstillstands und der zwischen den Vertragsparteien vereinbarten, sicherheitsrelevanten und militärischen Massnahmen beauftragt wird

2. Die Konfliktparteien stellen an dem vom Uno-Sicherheitsrat bestimmten Zeitpunkt («Tag X») alle Kampfhandlungen ein.

3. Ab diesem Zeitpunkt werden keine Waffen und Munition mehr an die Ukraine geliefert. Russland stellt ebenfalls die Zuführung von Waffen und Munition an seine Streitkräfte auf dem seit dem 24. Februar 2022 besetzten Territorium und der Krim ein.

4. Alle irregulären ausländischen Kräfte, Militärberater und Angehörigen von Nachrichtendiensten beider Kriegsparteien werden bis zum Tag X +10 vom ukrainischen Territorium abgezogen.
 

Phase II – Friedensverhandlungen

1. Die Friedensverhandlungen beginnen am Tag X +15 unter dem Vorsitz des Uno-Generalsekretärs und/oder des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Frieden und Sicherheit in der Ukraine am Sitz der Vereinten Nationen in Genf.

2. Beide Konfliktparteien bekräftigen ihre Entschlossenheit, die Verhandlungen in der festen Absicht zu führen, den Krieg zu beenden und eine dauerhafte, friedliche Regelung aller strittigen Fragen anzustreben. Sie beabsichtigen, die Schreiben Russlands an die Vereinigten Staaten und die Nato vom 17. Dezember 2021, soweit sie für die bilateralen Verhandlungen von Bedeutung sind, und das Positionspapier der Ukraine für die Verhandlungen vom 29. März 2022 zu berücksichtigen und an die Ergebnisse der Istanbul-Verhandlungen anzuknüpfen.

3. Elemente einer Verhandlungslösung:

a) Die Konfliktparteien

- betrachten sich künftig nicht als Gegner und verpflichten sich, zu den Prinzipien gleicher und unteilbarer Sicherheit zurückzukehren,

- verpflichten sich, auf die Androhung und Anwendung von Gewalt zu verzichten,

- verpflichten sich, keine kriegsvorbereitenden Massnahmen gegenüber dem Vertragspartner vorzunehmen,

- verpflichten sich zu Transparenz in ihren militärischen Planungen und Übungen sowie zu grösserer Vorhersehbarkeit ihres militärischen und politischen Handelns,

- akzeptieren die Stationierung einer Uno-Friedenstruppe auf ukrainischem Territorium in einer Zone von 50 Kilometern Breite bis zur russischen Grenze einschliesslich der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson in ihren Verwaltungsgrenzen,

- verpflichten sich, alle Streitfragen ohne Anwendung von Gewalt durch die Vermittlung des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen oder, falls dies geboten ist, durch die Garantiestaaten zu lösen. Das Recht der Ukraine auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gemäss Artikel 51 der Uno-Charta ist davon unberührt.

b) Russland

- zieht seine Streitkräfte auf dem ukrainischen Territorium auf den Stand vom 23. Februar 2022 zurück.

- zieht seine Streitkräfte auf seinem Territorium aus einer Zone von 50 Kilometern Breite bis zur ukrainischen Grenze zurück, die seit dem 24. Februar 2022 in diese Zone verlegt wurden.

c) Die Ukraine

- zieht ihre Streitkräfte aus einer Zone von 50 Kilometern Breite bis zur russischen Grenze, einschliesslich der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson zurück,

- erklärt den permanenten Status als neutraler Staat und tritt keinem militärischen Bündnis, einschliesslich der Nordatlantischen Allianz, bei. Die Souveränität, territoriale Integrität und staatliche Unabhängigkeit der Ukraine werden durch entsprechende Zusagen von Garantiemächten17 gewährleistet. Die Garantiezusagen gelten nicht für die Krim und Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson innerhalb der ehemaligen Verwaltungsgrenzen,

- verzichtet auf die Entwicklung, den Besitz und die Stationierung von Nuklearwaffen auf ihrem Territorium,

- wird keine permanente oder befristete Stationierung von Streitkräften einer fremden Macht oder deren militärischer Infrastruktur auf ihrem Territorium zulassen,

- wird keine Übungen und Manöver von ausländischen Streitkräften auf ihrem Territorium zulassen,

- wird die vereinbarten Höchstgrenzen18 für die ukrainischen Streitkräfte innerhalb von zwei Jahren umsetzen.

d) Die Probleme im Zusammenhang mit der Krim und Sewastopol werden innerhalb von 15 Jahren bilateral auf diplomatischem Wege verhandelt und unter Verzicht auf militärische Gewalt gelöst.

e) Der künftige Status der Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson wird in den Verhandlungen einvernehmlich vereinbart. Russland wird den Flüchtlingen die Rückkehr ermöglichen. Sollten die Verhandlungspartner in dieser Frage keine Einigung erzielen, wird der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Frieden und Sicherheit in der Ukraine innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Friedensvertrages ein Referendum durchführen, in dem die Bevölkerung über den künftigen Status entscheidet. Teilnahmeberechtigt sind ukrainische Staatsbürger, die am 31.12.2021 ihren ständigen Wohnsitz in diesen Regionen hatten. Russland und die Ukraine verpflichten sich, das Ergebnis des Referendums anzuerkennen und bis zum Ende des Jahres, in dem das Referendum stattgefunden hat, in ihre nationale Gesetzgebung umzusetzen. Für die Bevölkerung einer oder mehrerer Regionen, die sich für den Verbleib im ukrainischen Staatsverband entscheidet, wird die ukrainische Regierung bis zum Ende des Jahres, in dem das Referendum stattgefunden hat, Minderheitenrechte nach europäischem Standard in die Verfassung aufnehmen und umsetzen (entsprechend dem Minsk II-Abkommen).

f) Garantiestaaten, die Mitglieder der Europäischen Union sind, werden die Mitgliedschaft der Ukraine durch die Unterstützung rechtstaatlicher und demokratischer Reformen fördern.

g) Der Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft und Infrastruktur wird durch eine internationale Geberkonferenz gefördert.

h) Beide Vertragsparteien werden an einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im KSZE-Format mit dem Ziel einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung teilnehmen und diese konstruktiv unterstützen. Die Konferenz wird innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Friedensvertrages stattfinden.

i) Der Vertrag tritt in Kraft, sobald beide Vertragsparteien und fünf Garantiestaaten den Vertrag unterzeichnet und, so weit erforderlich, die Parlamente dieser Staaten dies gebilligt haben sowie die Ukraine ihren Status als neutraler, unabhängiger und bündnisfreier Staat (ohne das Ziel einer Nato-Mitgliedschaft) durch die Änderung der Verfassung kodifiziert hat.

k) Etwaige Verzögerungen rechtfertigen weder den Bruch des Waffenstillstands noch den Rücktritt von den bis dahin erreichten Vereinbarungen.

Phase III – Eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung

Langfristig kann nur eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung die Sicherheit und Freiheit der Ukraine gewährleisten, in der die Ukraine und Russland ihren Platz haben. Eine europäische Sicherheitsarchitektur, in der die geostrategische Lage der Ukraine keine Schlüsselrolle mehr für die geopolitische Rivalität der Vereinigten Staaten und Russlands spielt. Der Weg dorthin führt über eine Konferenz im KSZE-Format, die an die großen Fortschritte der «Charta von Paris» anknüpft und diese unter Berücksichtigung der gegenwärtigen sicherheitspolitischen und strategischen Rahmenbedingungen weiterentwickelt.

25.  August 2023

Wer das von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierte "Manifest für Frieden" unterzeichnen möchte, kann es hier tun: Manifest für Frieden

Artikel teilen
 
Zur Startseite