Solidarität mit meinen Schwestern

Foto: Bettina Flitner
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Gegen Alice Schwarzer läuft gerade eine Kampagne: Sie sei eine TERF, also transfeindlich. Das ist erstaunlich. Denn das Engagement von Alice Schwarzer für die Rechte von Tanssexuellen zieht sich über 40 Jahre. Das kann in ihrem Grundsatztext, der demnächst erscheint, sehr konkret nachvollzogen werden. Der ist Teil eines differenzierten und informativen Buches, das Alice Schwarzer und Chantal Louis herausgeben und das am 30. März erscheinen wird. In diesem Buch geht es zentral um die Unterscheidung zwischen einer echten Transsexualität und der - sehr verständlichen! - Irritation vieler Mädchen über die Frauenrolle, die sich deswegen schon für „trans“ halten. Doch ein Tomboy muss nicht automatisch ein Junge sein, er darf auch ein Mädchen bleiben. In diesem Buch, dessen Ziel die Aufklärung ist, reden und schreiben betroffene Transsexuelle, aber auch solche, die sich nur dafür gehalten hatten; ebenso wie Ärzte, PsychotherapeutInnen, Eltern und GendertheoretikerInnen. Wir hoffen, damit zu der so brisanten Debatte über Transsexualität und das geplante Gesetz beitragen zu können. Hier nun der Text von Alice Schwarzer aus dem Jahr 1984, ihr „Brief an meine Schwestern“.

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Liebe Irene, als wir gestern Abend in unserem Stammlokal saßen, eigentlich für eine gemütliche Stunde, gerieten wir uns plötzlich politisch in die Haare. Zu unser beider Überraschung. Denn eigentlich sind wir uns in grundsätzlichen politischen Fragen fast immer einig. Wir kennen uns ja seit vielen Jahren, wir wissen, was wir voneinander zu halten haben. Unser Gespräch wurde rasch heftig, und wir mussten uns abrupt trennen, konnten nicht weiterreden. Darum heute mein Brief. Es geht mir immer noch um Transsexuelle.

Anlass unserer Differenz: Ich erzählte dir, dass EMMA die Kontaktanzeige einer Transsexuellen bringt, "Carmen (ehemals männlich)" sucht Freundin. Du fandest das reichlich daneben. "Sowas hat doch in EMMA nichts zu suchen. Das sind doch gar keine richtigen Frauen!" Ich war nicht deiner Meinung und versuchte dir zu erklären, warum. Das will ich jetzt noch einmal tun. Weil mir deine Meinung wichtig ist. Und weil ich weiß, dass du damit in der Frauenbewegung nicht allein stehst.

Vorweg: Das Fundament meines feministischen Bewusstseins ist und bleibt die Erkenntnis, dass „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ nicht angeboren, sondern anerzogen sind. Dass Frausein (und Mannsein) nicht Produkt irgendwelcher Gene und Hormone, sondern das Resultat einer zutiefst unterschiedlichen Erziehung, Prägung und Lebensrealität ist. Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden dazu gemacht. Beauvoirs Credo bleibt Kern jeder feministischen Analyse.

Wollen wir sozial oder erotisch oder intellektuell oder psychisch ausbrechen aus der Frauenrolle, stoßen wir auf Widerstand, Spott und Gewalt. Wer weiß das besser als du und ich, als wir Feministinnen?

Endlich Mensch werden. Endlich
männlich und weiblich sein können
und dürfen! Dafür kämpfe ich.

Natürlich schafft das Rollendiktat es nie, Menschen, die ja eigentlich individuell jeweils die ganze Palette von "männlich" und "weiblich" zur Verfügung haben könnten, ganz festzunageln auf das eine oder das andere. Aber es gelingt doch weitgehend, und wenn nicht, lassen die inneren und äußeren Konflikte nicht lange auf sich warten. Denn: der Geschlechterdrill ist nicht nur äußerlich, er steckt auch in uns, dringt uns unter die Haut, bis tief ins Mark hinein.

Wir radikalen Feministinnen haben eben diesen Zustand als Einengung, als Verstümmelung erkannt. Unser Ziel ist, in aller Schlichtheit und Vermessenheit, die Menschwerdung von Frauen und Männern. Endlich männlich und weiblich in einer Person sein können und dürfen! Dafür kämpfe ich.

Nicht immer geht unsere Auflehnung gegen die Halbierung von Menschen in Männer und Frauen (und gegen die Herrschaft der einen über die anderen) nur über den Kopf. Oft haben wir ausbrechenden Frauen selbst Biografien, die es uns erleichtern, das Aufgesetzte der Rollenzuweisung zu erkennen, an den Stangen des Käfigs Weiblichkeit zu rütteln.

Nun gibt es aber darüber hinaus Lebensläufe und -bedingungen, die einen sehr frühen, sehr tiefen Zweifel in Bezug auf die geforderte Geschlechtsidentität pflanzen. Irgendeine Weiche ist "falsch" gestellt worden. Resultat: ein biologisch "männlicher" Mensch mit einer "weiblichen" Seele. Oder ein biologisch "weiblicher" Mensch mit einer "männlichen" Seele. Menschen also, die in ihrem Körper eine "falsche" Seele haben, die zwischen den Geschlechtern sind, Transsexuelle.

Diese Transsexuellen, von denen heute in der Bundesrepublik rund 3.000 leben, haben nichts mit Transvestiten gemein. Transvestiten - Bezeichnung, die man gemeinhin auf Männer anwendet, die Frauenkleider tragen - lieben den Reiz der Kleider des anderen Geschlechts auf ihrem Körper, mit ihrem Körper selbst sind sie durchaus in Frieden. Transsexuelle aber wollen sich nicht "verkleiden". Transsexuelle wollen nur eines: endlich ihren Körper in Einklang bringen mit ihrer Seele.

In unserer Gesellschaft gibt es eine Schublade "Frau" und eine Schublade "Mann", dazwischen nichts. Darunter leiden nicht nur die Transsexuellen. Darunter leiden die meisten Frauen (und einige Männer). Für Transsexuelle aber eskaliert der Konflikt bis zur Neurose: Sie wenden sich selbstzerstörerisch gegen den eigenen Körper.

Die Existenz der Transsexualität beweist: Die Seele ist stärker als der Körper - sie bestimmt die Geschlechtsidentität. Der Körper ist nur Vorwand für diese Zuweisung.

Lebensläufe von Transsexuellen sind Schicksale. Heimlichkeit, Demütigung, Verzweiflung. Seit 1981 ist es in der Bundesrepublik für eineN TranssexuelleN rechtlich möglich, die Identität zu ändern: aus Karl wird nun auch im Ausweis Carmen, aus Michaela Michael.

Dass den meisten Transsexuellen der neue Ausweis nicht genügt, sondern dass sie auch einen "neuen" Körper wollen, ja ihnen das Voraussetzung zum Weiterlebenkönnen scheint - das ist schwerwiegend. In einer vom Terror der Geschlechtsrollen befreiten Gesellschaft wäre Transsexualismus schlicht nicht denkbar. Transsexualismus scheint mir der dramatischste Konflikt überhaupt, in den ein Mensch auf dem Weg zum "Mannsein" oder "Frausein" in einer sexistischen Welt geraten kann.

In einer vom Terror der Geschlechtsrollen
befreiten Gesellschaft wäre
Transsexualismus nicht denkbar.

In diesem Konflikt haben Transsexuelle selbst keine Wahlmöglichkeit mehr: ihr Hass auf den "falschen" Körper ist weder durch Argumente noch durch Therapien zu lösen. Transsexuelle sind zwischen die Räder des Rollenzwangs geraten. Einziger Ausweg scheint ihnen die Angleichung von Seele und Körper. Preis: die Verstümmlung des Körpers. Und: die Zerschlagung aller sozialen Zusammenhänge.

Seit Ende der 70er Jahre nun sind Transsexuelle in Frauenzentren aufgetaucht, genauer: Frauen, die einst einen Männer-Körper und eine Männer-Realität hatten. Oft sind sie engagierte Feministinnen. Was mich nicht überrascht. Wer schließlich hätte schmerzlicher am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, "keine richtige Frau" zu sein?

Der Feminismus scheint auch bei den Transsexuellen etwas ausgelöst zu haben. Die Frauen, die einst einen Männerkörper hatten, spielen weniger das Super-Weibchen und wagen mehr, auch in Hosen Frau zu sein.

Und die Männer, die einst einen Frauenkörper hatten, werden mehr: Sei es, dass sie sich früher noch weniger getraut haben, ihren Konflikt offen zu machen; sei es, dass sich zunehmend Frauen in dieser extremen Art aus ihrer Rolle hinauskatapultieren wollen – die Zunahme ursprünglich weiblicher "Transis" scheint mir auf jeden Fall ein Ausdruck sich ändernden Bewusstseins…

In den Frauenzentren, vor allem in den Lesbengruppen, reagierten viele abwehrend auf die Transsexuellen. Nein, "solche" hätten in der Frauenbewegung nichts zu suchen, das wären ja gar keine richtigen Frauen, die hätten schließlich Jahrzehnte männlicher Sozialisation hinter sich…

Das war der Tenor heftiger, interner Debatten Anfang der 80er Jahre. Inzwischen haben sich die einst Transsexuellen und jetzt Frauen zum Teil selbst organisiert. Sie geben sogar eine eigene Zeitung raus. Ich selbst war nie einverstanden mit der abweisenden Reaktion mancher Feministinnen. Mehr noch: Ich war und bin darüber empört! So wie über dich gestern Abend, Irene. Die hätten nichts "bei uns" zu suchen, sagst du, und wendest dich ab.

Siehst du denn nicht, dass Carmen nicht nur eine Schwester ist wie alle anderen, sondern sogar eine, die zu uns herabgestiegen ist? Denn ein Mann, der Frau wird, hat einiges zu verlieren in einer Männergesellschaft, das weißt du doch nur zu genau. Und eine biologisch männliche Transsexuelle ist dann auch objektiv Frau, wenn sie Körper und/oder Pass geändert hat. Sie kann ihr Frausein von nun an ebenso wenig aufkündigen wie du und ich. Und wenn du sie nun zurückstößt, machst du genau dasselbe wie der Rest der Gesellschaft: du denkst in den unerbittlichen Kategorien "Mann" und "Frau".

Und darum sind Carmen, Michaela, Maria, Karin, sind sie alle meine Schwestern. Und ich würde mir wünschen, dass sie in Zukunft auch deine Schwestern sind. Und dass du weiter mit mir kämpfst gegen Verhältnisse, die aus Körpern Gefängnisse machen, in denen nur maßgeschlagene Seelen Platz haben.

Der Text erschien zuerst in EMMA im Januar 1984.

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