"Nicht den Hauch einer Ahnung"
Gerhard Schönborn ist Sozialarbeiter und betreut seit 20 Jahren Prostituierte auf dem Straßenstrich an der Berliner Kurfürstenstraße. Bevor er an diesem 23. September in den Familienausschuss des Bundestages kam, um dort als Experte über seine Erfahrungen zu berichten, hatte er einige der Frauen gefragt, was er den PolitikerInnen von ihnen ausrichten soll. Die Antwort: „Sag ihnen, es muss sich was ändern! Wir gehen hier kaputt!“
Und tatsächlich scheint es so, als würde sich auch in Deutschland endlich was ändern. Denn die ExpertInnen-Anhörung fand statt, weil die CDU/CSU-Fraktion einen Antrag gestellt hatte: „Menschenunwürdige Zustände in der Prostitution beenden – Sexkauf bestrafen!“ Die Union stellt darin fest: Die fatale rot-grüne Prostitutionsreform von 2002 ist krachend gescheitert! „Unter dem Schutzmantel der vom Gesetzgeber geschaffenen Legalität der Prostitution konnte sich ein Handel mit Menschen unkontrolliert ausbreiten. Für eine hohe sechsstellige Zahl von Frauen und Mädchen bedeutet dies eine faktisch totale Abhängigkeit von Zuhältern, die auf emotionaler Manipulation, Täuschung, Drohung und nicht zuletzt massiver Gewalt beruht.“
Die Prostituierte: "Sag den Politikern, es muss sich was ändern. Wir gehen hier kaputt!"
Die Lösung: Ein 16-Punkte-Plan, wobei Punkt Nr. 1 der entscheidende ist: Die Einführung einer „allgemeinen Freierstrafbarkeit“. Punkt Nr. 2: Die Entkriminalisierung der Prostituierten. Punkt Nr. 3: Bordelle und andere Prostitutionsstätten schließen! Außerdem: Ein Ausbau der Ausstiegshilfen plus die Verpflichtung der Beratungsstellen, den Ausstieg zum zentralen Ziel der Beratungen zu machen (weil viele Beratungsstellen in Lobbyhand eher Einstiegsberatung machen).
Im Klartext: Die mit Abstand stärkste Fraktion und derzeit in Umfragen mit 35 Prozent führende Partei fordert das sogenannte „Nordische Modell“. Schweden hatte es schon 1999 eingeführt, andere Länder wie Norwegen, Irland und Frankreich folgten. Nun scheint sich auch Deutschland endlich auf den Weg zu machen. Die Anhörung im Familienausschuss war ein weiterer Schritt dorthin.
Die Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hier vollständig anschauen (Klick auf das Foto).
Erwartbar versuchten die (von Grünen, FDP und der Linken) nominierten „Expertinnen“ der Pro-Prostitutionslobby wie immer, gebetsmühlenartig ihr Standard-„Argument“ zu platzieren: Die Prostitution „verlagere sich dann ins Dunkelfeld“, für die Prostituierten werde ihre Arbeit gefährlicher. Doch da waren sie bei Alexander Dierselhuis an der falschen Adresse. Der Duisburger Polizeipräsident hatte als Staatsanwalt viele Verfahren wegen Menschenhandel geführt und räumte das „Dunkelfeld“-Argument in Bausch und Bogen ab.
„Ich finde schon das Wort ‚verlagern‘ falsch, denn das würde ja bedeuten, dass Prostitution aktuell im Hellfeld stattfände.“ Das aber sei „ein Fehler“, denn: „Wir wissen, wo Bordelle sind, aber wir haben nicht den Hauch einer Ahnung, was dort passiert. Wir haben im aktuellen System ein massives Dunkelfeld!“ Für Ermittlungen in diesem Dunkelfeld bräuchte es ganze Ermittlungskommissionen. Und der Polizeipräsident rechnete vor, dass es rund 150.000(!) zusätzliche Polizeibeamte bräuchte, um in allen potenziellen Verdachtsfällen von Zuhälterei und Menschenhandel zu ermitteln. Natürlich ein Ding der Unmöglichkeit.
"Mit dem Sexkaufverbot hätten wir eine einfach nachweisbare Straftat."
Aber selbst, wenn eine solche Ermittlungskommission dann Beweise für Frauenhandel fände, scheitere das Verfahren daran, dass die Frauen keine Aussagen machten. Ein Beispiel: Dierselhuis hatte als Staatsanwalt ein Verfahren geführt, in dem schließlich insgesamt sechs Opfer gefunden wurden. Bei allen bewies die Telefonüberwachung, dass sie zur Prostitution gezwungen wurden. „Trotzdem behaupteten vier Frauen, sie würden sich freiwillig prostituieren.“
Die ohnehin wenigen Verfahren gegen Menschenhandel scheitern also häufig auch noch. Wie viel einfacher wäre es, wenn der Frauenkauf als solcher strafbar wäre. „Wir hätten dann eine einfach nachweisbare Straftat und damit eine Eintrittstür in die Ermittlungen.“ Und wie findet die Polizei die Frauen?
„Ich bin immer überrascht, wie wenig unseren Polizisten zugetraut wird. Die Prostituierte kann sich ja nur so gut verstecken, dass der Freier sie noch findet. Natürlich muss man dann proaktiv ermitteln, muss ins Internet gehen und sich entsprechende Chatportale ansehen – aber das ist kein Hexenwerk!“
Der Versuch der Berliner Strafrechtlerin Margarete von Galen zu erklären, es gebe in Deutschland bei der Strafverfolgung von Menschenhandel lediglich ein „Vollzugsdefizit“, mutete angesichts der Schilderungen des Duisburger Polizeipräsidenten reichlich merkwürdig an. Vollends absurd wurde es, als von Galen allen Ernstes erklärte, ein Sexkaufverbot sei „rechtlich gar nicht möglich“. Angesichts der Tatsache, dass die Freierbestrafung seit Jahren und teilweise Jahrzehnten in mehreren europäischen Ländern praktiziert wird (und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Freierbestrafung in Frankreich gerade erst für rechtens erklärt hatte), eine erstaunliche Rechtsauffassung.
"Freier sind Täter. Kein Freier kann wissen, ob im Nebenraum ein Zuhälter sitzt."
Über die katastrophalen Zustände in den Bordellen und auf dem Straßenstrich berichteten Huschke Mau, Gründerin des (Ex)Prostituierten-Netzwerks ELLA, und Sozialarbeiter Gerhard Schönborn. „Freier sind Täter“, erklärte Huschke Mau. „Kein Freier kann wissen, ob im Nebenzimmer ein Zuhälter sitzt, und es interessiert sie auch nicht.“ Im Gegenteil: Von Frauen, die gezwungen werden, könnten Freier härtere Praktiken verlangen. Stichwort Gewaltpornografie: „Wir in der Prostitution sind die ersten, mit denen die Freier diese Praktiken ausprobieren.“ Mau wurde konkret: Es gehe um Oralverkehr bis zum Erbrechen, Würgen und harte SM-Praktiken. Huschke Mau, die heute als Geisteswissenschaftlerin zum Thema forscht, hat ihre persönliche Geschichte in ihrem Buch "Entmenschlicht" erzählt sowie darin eine Analyse des Systems Prostitution geliefert. Ihr Fazit: „Freier und Zuhälter sind partners in crime“.
Der Berliner Sozialarbeiter Schönborn vom Projekt „Neustart“ bestätigte: „Jeder Freier wird eine Frau finden, die so vulnerabel ist, dass er alles mit ihr machen kann.“ Der Prostitutionsmarkt in Berlin sei inzwischen übrigens voll mit ukrainischen Frauen.
„In Deutschland werden die ärmsten und vulnerabelsten Europas ausgebeutet“, erklärte Traumatherapeutin Brigitte Schmid-Hagenmeyer, die für die Deutsche Gesellschaft für Trauma und Dissoziation im Ausschuss sprach. „Ein derartiges Ausmaß an Gewalt und Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist in keinem anderen legalen Tätigkeitsfeld bekannt.“ Traumatherapeutinnen und Ärzte forderten deshalb „seit Jahren einen Kurswechsel in der deutschen Prostitutionspolitik“. Und die Trauma-Expertin wies darauf hin, dass nicht nur die Prostituierten selbst, sondern in Wahrheit alle Frauen betroffen seien: „Solange diese Form von Gewalt gegen Frauen legal ist, kann es in Deutschland keine Gleichstellung geben.“
"Ärzte und Traumatologen fordern einen Kurswechsel in der Prostitutionspolitik!"
Und die Expertinnen der Pro-Prostitutions-Lobby? Dazu gehörte zum Beispiel Stefanie Kohlmorgen vom „Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter“ (bufas), das früher sogar die Aufhebung der Strafbarkeit von Zuhälterei gefordert hatte. Oder Johanna Weber, Sprecherin des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD), ihres Zeichens Domina mit einem Stundensatz von 300 Euro.
Erstere warf den BefürworterInnen des Nordischen Modells vor, die „Debatte zu emotionalisieren“. Der bufas setze hingegen auf eine Antidiskriminierungs-Kampagne, die nicht nur Prostituierte, sondern auch die Freier einschließe. Letztere ging ebenfalls auf Kuschelkurs mit den Freiern („Ich will ja nicht, dass die Polizei meine Stammkunden findet, die ich echt lieb hab.“) Und verstieg sich zu abenteuerlichen Aussagen zum Nordischen Modell. Sollte dann ein Freier gewalttätig werden, sei es verboten, ihr zu helfen, denn das sei „Förderung der Prostitution“. Wie die BesD-Sprecherin auf einen derart kruden Blödsinn kommt, dürfte ihr Geheimnis bleiben.
Zum Scheitern verurteilt war auch der Versuch, die Corona-Zeit als Argument gegen die Freierbestrafung ins Feld zu führen. Man habe ja gesehen, dass das Verbot der Prostitution in dieser Zeit zu größerer Gefahr für die Frauen sowie zum Preisverfall geführt habe. Der (ganz sicher in voller Absicht begangene) Denkfehler: Während Corona wurden die Prostituierten mit Geldbußen belegt, nicht die Freier. Das Nordische Modell hingegen funktioniert genau anders herum. In Berlin hatte Neustart gemeinsam mit dem Netzwerk ELLA und dem Verein Sisters dafür gesorgt, dass die Bußgelder für die Frauen ausgesetzt wurden, berichtete Gerhard Schönborn. Von da an habe man sie wieder problemlos mit Essen, Kleidung und Kondomen versorgen können, zu Ämtern und Ärzten begleitet. Daher noch einmal zum Mitschreiben: „Ein Prostitutionsverbot richtet sich gegen die in der Prostitution tätigen, ein Sexkaufverbot ganz eindeutig nur gegen die Sexkäufer.“
Auch Kanzler Scholz findet es "nicht akzeptabel, wenn Männer Frauen kaufen"
Wie geht es nun weiter? Das hängt maßgeblich von der SPD ab. Die hatte zwar 2002 gemeinsam mit den Grünen die fatale Reform eingeführt, die Deutschland zum „Bordell Europas“ und zum Paradies für Zuhälter und Menschenhändler gemacht hat, und auch das 2017 folgende „Prostituiertenschutzgesetz“ zum zahnlosen Tiger verhandelt.
Doch es scheint so, als ob die Sozialdemokraten umschwenken. Das war nicht nur den Fragen von Leni Breymaier (SPD), Verfechterin der Freierbestrafung und Vorsitzende des Vereins Sisters - Für den Ausstieg aus der Prostitution, und den von der SPD benannten prostitutionskritischen Expertinnen zu entnehmen. Schon im Juni 2020 hatten mehrere SPD-Bundestagsabgeordnete, darunter der heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach, gefordert, die während Corona geschlossenen Bordelle nicht wieder zu öffnen. Im November 2023 hatte auch Kanzler Olaf Scholz im Bundestag erklärt: „Ich finde es nicht akzeptabel, wenn Männer Frauen kaufen.“ Worauf also wartet die SPD? Zusammen mit der Union hätten die Sozialdemokraten (noch) eine satte Mehrheit, um die Freierbestrafung zu beschließen.
CHANTAL LOUIS