Armes Hollywood
Das Echo auf ihren neuen Film ‚Fluch der Karibik 2‘ hat sich Keira Knightley bestimmt anders vorgestellt. Seit sie Anfang Juli bei der Weltpremiere der Piratensaga neben Johnny Depp und Orlando Bloom über den roten Teppich schritt, rätselt ganz Hollywood, ob die 21 Jahre alte Schauspielerin wie viele ihrer Kolleginnen unter Essstörungen leidet. Tatsächlich gab ihre goldene Gucci-Robe den Blick frei auf knochige Schultern, ein unnatürlich
hervortretendes Schlüsselbein und Beckenknochen, die eine drogenschlanke Kate Moss geradezu mopsig aussehen lassen. Schnell bemühte sich Keira Knightley, das Rätselraten zu stoppen. „Was auch immer die Leute über mein Gewicht sagen, sie liegen falsch. Aber in Hollywood dreht sich alles nur darum, wie man aussieht, und ich glaube nicht, dass das gesund ist.“
Mit ihrem Dementi hat Keira Knightley die Diskussion aber erst richtig angefacht. Nur noch am Rande geht es dabei um ihre Gesundheit. Hollywood fragt sich vielmehr, ob es den Trend zu immer schlankeren Schauspielerinnen zu weit getrieben hat. Nach Schätzungen leiden inzwischen drei von vier Stars an Mager- bzw. Ess-Brech-Sucht. Der Übergang von einer Diät zu einer gefährlichen Essstörung ist bei vielen von ihnen fließend. Gerade in der von Äußerlichkeit dominierten Filmwelt wird jedes abgespeckte Pfund schnell mit Komplimenten honoriert und verleitet zum Weiterhungern. „Abnehmen bringt Bestätigung, Bestätigung animiert zu noch mehr Abnehmen“, sagt Psychiaterin Linda Moghtader aus Beverly Hills zu Hollywoods Hungerspirale.
„Viele junge Starlets können einfach nicht mehr aufhören.“ Oft sind sie kaum noch in der Lage, sich auf den spindeldürren Beinchen zu halten, ihren Text zu lernen oder sich bei den Dreharbeiten zu konzentrieren. Wissenschaftler haben vor einigen Jahren herausgefunden, dass ausgerechnet solche Wesenszüge, die Essstörungen begünstigen, auch für außerordentliche Erfolge in der Filmindustrie verantwortlich sind: ein ausgeprägtes
Bedürfnis zu gefallen, überdurchschnittlicher Ehrgeiz, Fixierung auf bestimmte Ziele, Unsicherheit und der Hang zum Perfektionismus zugleich. Es ist daher keine Überraschung, dass bei Schauspielerinnen die Gefahr, an Anorexie oder Bulimie zu erkranken, zehnmal größer ist als bei nichtprominenten Amerikanerinnen. „Produzenten und Regisseure verlangen nach immer schlankeren Darstellerinnen“, sagt die Ärztin Jenn Berman, die in Beverly Hills für den ‚Actors Fund‘ seit Jahren Essstörungen bei Nachwuchstalenten behandelt. „Damit propagiert Hollywood eine unnatürliche Dünnheit, die im Extremfall tödlich sein kann.“
Während die durchschnittliche Amerikanerin nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Washington bei einer Größe von 162 Zentimetern etwa 69 Kilogramm wiegt und Kleidergröße 42 trägt, bringen Stars und Sternchen trotz durchschnittlicher 169 Zentimeter nur noch 44 Kilogramm auf die Waage und wirken selbst in Größe 34 verloren. Trotzdem gilt es in der kalifornischen Glamourwelt weiter als schick, unnatürlich dünn zu sein. „Du siehst so magersüchtig aus“ – das ist zwischen Beverly Hills und Malibu keine Beleidigung, sondern das größte Kompliment.
Zu den prominentesten Vertreterinnen des kopflastigen „Lollipop-Looks“ zählen Nicole Richie, die mit Paris Hilton derzeit für die neue Staffel von ‚Simple Life‘ ahnungslose Familienväter heimsucht, und der ehemalige Kinderstar Mary-Kate Olsen. Nachdem für sie und ihre Zwillingsschwester Ashley auf Hollywoods ‚Walk of Fame‘ einer der begehrten Sterne enthüllt wurde und Mary-Kate während der Zeremonie auffallend dürr wirkte, ließ sie ihre
Anorexia Nervosa danach endlich in einer Klinik behandeln. Vorher hatte die Achtzehnjährige monatelang geleugnet, an Magersucht zu leiden. Auch Kollegin Lindsay Lohan macht immer wieder Schlagzeilen. Nachdem sie schließlich ihre lange vermutete Essstörung zugegeben hatte, ruderte das 20 Jahre alte Teenager-Idol innerhalb von Tagen wieder zurück. „Wer in Hollywood arbeiten möchte, hängt Essstörungen besser nicht an die große Glocke“, kommentierte Berman.
Hässliche Krankheiten wie Mager- und Ess-Brech-Sucht wollen eben nicht recht in die Welt des schönen Scheins passen. Nur wenige Stars wie Paula Abdul und Courtney Thorne-Smith haben sich von Hollywoods Schlankheitswahn emanzipiert. Thorne-Smith, die in den neunziger Jahren die Allison in ‚Melrose Place‘ spielte und danach mit Calista Flockhart und Lucy Liu bei ‚Ally McBeal‘ vor der Kamera stand, bat die Produzenten trotz des weltweiten Erfolgs der Anwaltserie, sie vorzeitig aus dem Vertrag zu entlassen.
„Ich fing an, zu wenig zu essen und zu viel zu trainieren“, begründete die 38 Jahre alte Schauspielerin damals ihren überraschenden Entschluss. „Es war einfach verrückt, ständig an Essen zu denken und immer mit meinem Körper unzufrieden zu sein.“ Um neben ihren dürren Kolleginnen trotz makelloser Figur nicht zu üppig zu wirken, hatte Thorne-Smith nur noch kleine Portionen Salat oder Obst gegessen, war jeden Tag mehr als zwölf Kilometer gelaufen und hatte stetig an Gewicht verloren. Heute dreht sie neben James Belushi die in den Vereinigten Staaten und Europa beliebte Vorabendserie "Immer wieder Jim" und hat nach eigenen Angaben ihre Essstörungen überwunden.
Auch Alexandra Paul, die für die international bekannte Fernsehserie ‚Baywatch‘ als smarte Rettungsschwimmerin Stephanie Holden neben David Hasselhoff und Pamela Anderson vor der Kamera stand, hat nach zwölf Jahren ihren Kampf gegen Anorexie und Bulimie gewonnen.
„Es war die einsamste Zeit meines Lebens, da selbst Familie und Freude nicht verstehen konnten, wie es in mir aussah“, erinnert sich die 43-Jährige. Nicht einmal ihre Zwillingsschwester Caroline sei in diesen Jahren an sie herangekommen: „Sie hat sogar versucht, auch aufzuhören zu essen, um zu fühlen, wie ich fühle.“
Pauls Essstörungen begannen schleichend. Als Teenager fühlte sie sich pummelig, aß immer weniger und wurde schließlich magersüchtig. Nach einer Operation verlor sie noch mehr Gewicht: „Ich wollte diesen Look behalten. Andere nehmen dazu Drogen, ich wollte ein gutes Mädchen sein und habe entschieden zu erbrechen“, sagt Paul. „Eine Essstörung lässt sich viel besser verbergen als Drogen.“ Mit 15 Jahren war ihr Körper so ausgezehrt, dass sie nicht länger das Internat in Massachusetts besuchen konnte, wo sie sich auf die renommierte Stanford Universität vorbereiten wollte. Eine Gesprächstherapie half ihr zwar, die Schule zu beenden, doch sie erbrach weiter – bis zu achtmal täglich.
Zumindest von außen sah ihr Leben selbst gemessen an Hollywoods utopischen Maßstäben wunderbar aus. Nach der Schule arbeitete die 175 Zentimeter große Paul als Model und brillierte noch vor ihrem 20. Geburtstag als Schauspielerin in ‚Paper Dolls‘ und dem Thriller ‚Christine‘. „Ich hatte all diese Erfolge und hing trotzdem über der Kloschüssel, weil ich mich immer noch nicht gut genug fühlte“, erinnert sie. Dabei gehörte sie zu den beliebtesten Schauspielerinnen Hollywoods und drehte mit Stars wie Rosanna Arquette, Jeff Bridges, Tom Hanks und Daryl Hannah.
Zwölf Jahre stand die Krankheit im Zentrum ihres Lebens – bis Paul zufällig eine alte Freundin traf: „Ich erzählte ihr, dass es mir gut geht, obwohl ich mir permanent den Finger in den Hals stecke. Sie war schockiert.“ Um dem tödlichen Kreislauf von Fressattacken und Erbrechen zu entkommen, meldete sich Paul auf Drängen der Freundin bei der Selbsthilfegruppe ‚Overeaters Anonymous‘. Nach einigen Wochen hörte sie auf zu brechen, nach einigen Monaten wurde ihr die Rolle der Stephanie Holden bei ‚Baywatch‘ angeboten. „Mit Bulimie hätte ich den Part nicht spielen können. Ich wäre zu unsicher gewesen, um einen Badeanzug anzuziehen, besonders vor der Kamera.“
„Essstörungen befallen in der Regel die jungen Frauen, die unsicher sind und sämtlichen Erwartungen gerecht werden wollen“, sagt Moghtader. Oft reiche es einfach nicht mehr aus, nur schlau oder nur schön zu sein. „Gerade in Hollywood, wo jedes Titelblatt stundenlang retouchiert wird, muss alles perfekt sein.“ Unter Psychiatern gelten Anorexie und Bulimie daher als ‚Good girls‘-Krankheit. Sie sind in der Glamourwelt Hollywoods nicht nur weiter verbreitet als anderswo, sondern auch noch ansteckender
Wie bei ‚Ally McBeal‘ und ‚Melrose Place‘ scheint vor den Augen des Publikums oft das komplette Personal von Jahr zu Jahr immer dürrer zu werden. Sobald eine Darstellerin weiter abnimmt, müssen ihre Kolleginnen nachziehen. Schließlich möchte keine als Moppel in die Seriengeschichte eingehen.
Hollywoods Obsession mit dürren Darstellerinnen hat eine traurige Tradition. Schon Elizabeth Taylor und Judy Garland sollten auf der Leinwand das Ideal eines fragilen, zerbrechlichen Frauentyps darstellen, wurden dazu auf Wasserdiäten gesetzt und mussten Pillen schlucken. Öffentlich in Frage gestellt wurde der Hungerkult aber erst ab 1983, nach dem Tod der Sängerin Karen Carpenter. Bevor die 32-Jährige an Herzversagen starb, hatte sie sich jahrelang mit Diäten und Abführmitteln gequält, um trotz runderer Tendenz dem dürren Schönheitsideal zu entsprechen.
Einen Tiefpunkt hatte Carpenter erreicht, als sie während eines Auftritts in Las Vegas ausgerechnet bei ‚Top of the World‘ zusammenbrach. Sie wog damals nur noch 35 Kilogramm.
Immer wieder ist Hollywood seitdem von Anorexie-Tragödien aufgeschreckt worden. Vor einigen Jahren musste Supermodel und Schauspielerin Carre Otis am Herzen operiert werden, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte. Fast 17 Jahre lang hatte die frühere Frau von Mickey Rourke ihren Körper mit Hungerkuren, Abführmitteln, Erbrechen und Kokain malträtiert, um den Ansprüchen der Glamourwelt zu entsprechen und die immer schmaleren Kleidchen tragen zu können. Unmittelbar vor ihrem Zusammenbruch wog das 175 Zentimeter große Model nur noch 43 Kilogramm.
Kinderstar Tracey Gold war bereits auf 40 Kilogramm abgemagert und dem Tod nahe, als ihre Mutter sie schließlich zu einer Therapie überredete. Doch weder ihr Beispiel noch die Mahnungen anderer Opfer wie Christina Ricci (‚Monster‘) und Jessica Alba (‚Sin City‘) scheinen den Schlankheitswahn stoppen zu können. Das Diktat der Waage wird in Hollywood vielmehr von Jahr zu Jahr unerbittlicher. Amerikanische Modelabels wie Gap Inc. und Banana Republic haben daher eigens die neue Kleidergröße „00“ erfunden, um ihre immer dürreren Kundinnen nicht in die Kinderabteilung verbannen zu müssen.
Via Internet hat Hollywoods Hungertrend vor einigen Jahren auch Einzug in amerikanische Mädchenzimmer gehalten. Jugendzeitschriften und Fernsehen erklärten den Magerlook zur Norm. Viele junge Amerikanerinnen eifern ihren Idolen inzwischen nach und hungern sich herunter zu Mary-Kate Olsens kraftlosen Ärmchen oder den Skelett-Beinen ihrer Freundin Nicole Richie. Hunderte Websites bieten ‚Thinspiration‘, die Inspiration für das Abnehmen. Auf den Seiten wird jeder Gewichtsverlust eines Stars gelobt und als Ermutigung des eigenen Weiterhungerns interpretiert.
„Nichts schmeckt so gut wie dünn“, verkündet die 24 Jahre alte Ashley aus Brooklyn, deren Traum es ist, wie ihr Hollywood-Idol Nicole auszusehen. Aus Fotos des halb verhungerten Starlets hat sie dazu eine Collage gebastelt und als Inspiration in das Internet gestellt. Dana aus Seattle, die via Chat stolz verkündet, nur noch 38 Kilogramm auf die Waage zu bringen, hat eine ungesunde Bindung zu Hungerheldin Mary-Kate entwickelt. Um sich in schwachen Momenten vom Essen abhalten zu können, hat Dana in Handtasche, Kosmetikspiegel und natürlich den Kühlschrank ein Foto des ehemaligen Kinderstars geklebt: „Mit Mary-Kates Hilfe werde ich auch noch die nächsten drei Pfund schaffen.“
Zu den aktuellen Favoritinnen der amerikanischen ‚Thinspiration‘-Gemeinde gehört neben Lindsay Lohan, Mary-Kate Olsen und Nicole Richie seit kurzem auch Keira Knightley. Das Gucci-Kleid, das ihr bei der Premiere von ‚Fluch der Karibik 2‘ die Spekulationen über Essstörungen beschert hatte, will die britische Schauspielerin übrigens nicht mehr tragen. Wie sie mitteilen ließ, hat sie die goldene Robe inzwischen für einen guten Zweck gespendet.
Christiane Heil, EMMA September/Oktober 2006
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EMMA Kampagne Essstörungen